Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Das Ende der "Frist" – Die atomare Abschreckung im Licht der römisch-katholischen Soziallehre
Der aktuelle Anstoß zur Debatte von Papst Franziskus
Am 10./11. November 2017 organisierte die von Papst Franziskus neu geschaffene Zentralbehörde, das „Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“, in Rom ein Expertensymposium über „Perspektiven für eine atomwaffenfreie Welt und für eine umfassende Abrüstung“. Während der Konferenz lud der Papst die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu einer Audienz ein. In seiner dort verlesenen Botschaft begrüßte er, dass „kürzlich der größte Teil der Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft durch eine historische Abstimmung am Sitz der UNO festgelegt“ habe, „Atomwaffen nicht nur als unmoralisch, sondern auch als illegitimes Mittel der Kriegsführung zu betrachten“. Dadurch werde „eine wichtige juristische Lücke geschlossen“, noch wichtiger sei aber, so der Papst weiter, „die Tatsache, dass diese Resultate in erster Linie einer ,humanitären Initiative‘ zu verdanken sind, gefördert von einer wertvollen Allianz zwischen Zivilgesellschaft, Staat, internationalen Organisationen, Kirchen, Akademien und Expertengruppen.“1
Diese Haltung bekräftigte Franziskus, wie allgemein erwartet, im Zusammenhang mit seinem Japan-Besuch Ende November 2019. Beim Rückflug erklärte er in einer Pressekonferenz: „Hiroshima war ein echter Ethik-Unterricht über die Grausamkeit. Die Grausamkeit.“ Er fügte hinzu, die moralische Verurteilung von Anwendung und Besitz von Atomwaffen, „muss in den Katechismus der Katholischen Kirche kommen“2. Im Ton immer drängender, in der Sache aber ohne weitere Zuspitzung gab der Papst damit zu erkennen, dass er eine stärkere Verbindlichkeit in der ablehnenden Haltung der römisch-katholischen Kirche anstrebt, vergleichbar der Entwicklung in Bezug auf die Todesstrafe. Das hat, wie er in seiner Botschaft vom Atomwaffenpark in Nagasaki ausführte, seinen entscheidenden Grund in der kirchlichen Tradition: „Die katholische Kirche ist unwiderruflich engagiert im Entschluss, den Frieden zwischen den Völkern und Nationen zu fördern; es ist eine Aufgabe, zu der sie sich vor Gott und vor allen Männern und Frauen dieser Erde verpflichtet fühlt. Wir dürfen nie müde werden, unverzüglich dafür zu arbeiten und darauf Nachdruck zu legen, die wichtigsten internationalen Rechtsmittel für die Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen, einschließlich des Atomwaffenverbotsvertrags, zu unterstützen“3 (Hervorhebung durch den Autor).
Zur Vorgeschichte der gegenwärtigen Debatte
Für viele Menschen mag das starke Engagement des Papstes und des Heiligen Stuhls für die Ächtung der Atomwaffen und für Abrüstung überraschend sein. Doch bereits in der ersten päpstlichen Friedensnote des 20. Jahrhunderts vom August 1917 (Titel: Dès le début), gerichtet „an die Staatsführungen der kriegführenden Länder“, legte Papst Benedikt XV. eine Reihe von Punkten als „Grundlagen für einen gerechten und dauerhaften Frieden“ vor. Dort heißt es: „Vor allem muss der erste und zentrale Punkt sein, dass an die Stelle der physischen Gewalt die moralische Macht des Rechtes tritt. Es braucht daher eine allgemein akzeptierte Übereinkunft über die gleichzeitige und allseitige Abrüstung, deren Regeln und Garantien festzusetzen sind, unbeschadet der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den einzelnen Staaten notwendigen und ausreichenden Verbände.“4 Dieses Anliegen bildet fortan ein beständiges Leitmotiv der römisch-katholischen Friedenslehre.
Das kirchliche Lehramt begegnet den Rüstungsbemühungen der Staaten durchweg mit unüberhörbarer Skepsis, auch wenn es ihnen gegenüber keinen pazifistischen Anspruch geltend macht. Diese Einstellung verschärft sich deutlich im Fall der Atomwaffen. Bereits 1954 schärft Papst Pius XII. in seiner Osteransprache auf dem Petersplatz die Dringlichkeit der Völkerverständigung ein, indem er eindringlich das Grauen eines Atomkrieges beschwört: „So erhebt sich vor den Augen der erschreckten Welt das Bild von riesenhaften Zerstörungen und weiten Gebieten, die der Mensch nicht mehr bewohnen und benützen kann, ganz abgesehen von den biologischen Folgeerscheinungen, die eintreten können, sei es durch Veränderungen an den Erbkeimen und Mikroorganismen, sei es durch das ungewisse Ergebnis, das ein andauernder radioaktiver Reiz für die größeren Organismen – den Menschen nicht ausgeschlossen – und deren Nachkommen herbeiführen kann.“5 Der Papst konkretisiert damit ein früheres Motiv, das er in seiner Weihnachtsbotschaft aus dem Jahr 1950 unter dem Eindruck eines drohenden neuen Weltkrieges entfaltet hatte: „Heute würden in einem Krieg, den Gott verhüten möge, die Waffen sich dermaßen verheerend auswirken, daß sie die Erde gleichsam ‚wüst und leere‘ [Gen 1, 2; im Original als Anmerkung beigefügt, Anm. des Autors], als Einöde und Chaos, ähnlich der Öde nicht ihres Urbeginn, sondern ihres Untergangs, zurückließen.“6 Doch bezeichnend genug für die Dramatik der Situation wagt es der Papst zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, die kurz nach dem Krieg geäußerte Feststellung zu wiederholen, die Kriegserfahrung habe „die Sehnsucht nach Frieden und den Willen, sich für ihn einzusetzen angespornt“ und „das Problem der Abrüstung unter ganz neuen Erwägungen und mit früher nie empfundenem Nachdruck in den Mittelpunkt der internationalen Bestrebungen gerückt“7. Im Kalten Krieg treten Abrüstungsanstrengungen in den Hintergrund und rücken Doktrin und Theorie der nuklearen Abschreckung in den Vordergrund. Es ist das Lehrschreiben Pacem in terris (11. April 1963) von Papst Johannes XXIII., das der Thematik einen bis dahin nie gekannten Rang verschafft.
Die Position der Bischofskonferenz der USA: Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sich bis heute die ethische Diskussion über Sicherheits- und Rüstungspolitik sowohl auf Ebene des päpstlichen Lehramts als auch in weiten Teilen der katholischen Moraltheologie im Rahmen der überkommenen Lehre vom gerechten Krieg bewegt.
Das gilt jedoch nicht für jene Gruppen und Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche, die, vergleichbar den sogenannten Historischen Friedenskirchen (zum Beispiel Quäker, Mennoniten) in der evangelischen Christenheit, einen streng pazifistischen Standpunkt vertreten und folglich die Lehre vom gerechten Krieg ablehnen. Aufgrund dieser streng ethischen Betrachtungsweise hat sich die römisch-katholische Kirche nie darauf eingelassen, das Phänomen der Atomwaffen und die Möglichkeit atomarer Selbstvernichtung der Menschheit in eine endzeitliche Perspektive zu rücken, wie es in Teilen der evangelikalen Gemeinschaften und anderen apokalyptischen Dystopien geschieht.
Die offizielle Haltung der römisch-katholischen Kirche gegenüber dem Krieg hat die Bischofskonferenz der USA in ihrem Lehrschreiben Die Herausforderung des Friedens – Gottes Verheißung und unsere Antwort aus dem Jahr 1983 in fünf Punkten umrissen. Sie hält fest an der traditionellen Sichtweise, insofern sie jedem Volk „das Recht und die Pflicht“ zuspricht, „sich gegen einen ungerechten Krieg zu verteidigen“ (Hervorhebung im Original, Anm. des Autors), und zugleich jedem Angriffskrieg eine moralische Legitimation abspricht.8 Unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil unterstreichen die Bischöfe die maßgebliche Bedeutung des Gebots, bei Kriegshandlungen zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden, sowie das Erfordernis, selbst im Fall eines Verteidigungskrieges das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten: „Keine Defensivstrategie, sei sie nuklear oder konventionell, die das Gebot der Proportionalität verletzt, ist moralisch erlaubt.“9
Auch die ethische Problematik der nuklearen Abschreckung erörtert die nordamerikanische Bischofskonferenz im Licht der Kriterien, die in der Lehre vom gerechten Krieg entwickelt und deshalb in ihrem Hirtenbrief ausführlich dargelegt und mit Blick auf die Lage in der modernen Welt kritisch reflektiert wurden. Sie bilden das ethische Fundament aller kirchlichen und lehramtlichen Verlautbarungen zur Atomwaffenfrage.
Das Motiv der „Frist“
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) hat das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche und viele ihrer Lehren grundlegend erneuert. Doch keine der Neuerungen fiel gleichsam vom Himmel, sie hatten sich in Kirche und Theologie mehr oder minder lange bereits angebahnt. Auch mit Blick auf die Friedenslehre nahm das Konzil die Kernelemente der mit den Weltkriegen verbundenen Einsichten auf, besonders indem es seine Aufmerksamkeit auf die nunmehr verfügbaren Massenvernichtungswaffen richtete: „Die Anwendung solcher Waffen im Krieg vermag ungeheure und unkontrollierbare Zerstörungen auszulösen, die die Grenzen einer gerechten Verteidigung weit überschreiten.“10 Dem Konzil zufolge wohnt den Massenvernichtungswaffen eine Tendenz zum totalen Krieg inne, den es wegen seiner zerstörerischen Folgen entschieden als „ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen“ verurteilt.11 Um dieser Gefahr zu begegnen, sah das Konzil nur einen Weg: „Gewarnt vor Katastrophen, die das Menschengeschlecht heute möglich macht, wollen wir die Frist, die uns noch von oben gewährt wurde, nützen, um mit geschärftem Verantwortungsbewußtsein Methoden zu finden, unsere Meinungsverschiedenheiten auf eine Art und Weise zu lösen, die des Menschen würdig ist. Die göttliche Vorsehung fordert dringend von uns, daß wir uns von der alten Knechtschaft des Krieges befreien“12 (Hervorhebung durch den Autor).
Das Motiv der „Frist“, die es zu nutzen gilt, um politische Alternativen zum Krieg zu schaffen, wird von da an die lehramtliche Beurteilung der nuklearen Abschreckung prägen. So hat die Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten in dem bereits erwähnten Hirtenbrief von 1983 durchaus eingeräumt, sie diene dazu, einen „gewissen Frieden“ zu gewährleisten, und vermieden deshalb eine grundsätzliche Ablehnung.13 Ihre klare Absicht aber war es, durch moralische Verbote und Vorschriften „die weit verbreitete politische Barriere gegenüber einem Griff zur Atomwaffe zu verstärken“. Und sie drängten „auf Verhandlungen, um die Erprobung, Produktion und Stationierung neuer nuklearer Waffensysteme anzuhalten. Es sollten nicht nur Schritte unternommen werden, um die Entwicklung und Stationierung von Waffen zu beenden, auch die Zahl der vorhandenen Waffen muß auf eine Weise verringert werden, die die Kriegsgefahr vermindert.“14 Und: „Wir haben die dringende moralische und politische Verpflichtung, den ,gewissen Frieden‘, den wir jetzt haben, um durch atomare Rüstungskontrolle, Rüstungsminderung und Abrüstung zu einem echten Frieden zu gelangen.“15 Diese Auffassung beinhaltet nicht zwingend die Abschaffung der Atomwaffen als Endziel der Abrüstung, sondern verträgt sich logisch mit dem Konzept einer minimalen Abschreckung. Dennoch hielten die Bischöfe das Festhalten an der Abschreckungsstrategie schon 1983 die moralische Duldung der atomaren Abschreckung nicht als letztes Wort in dieser Sache, sondern als ein bedingtes Ja. Denn: „Abschreckung ist keine geeignete Strategie, den Frieden langfristig zu sichern; sie ist eine Übergangsstrategie, die nur zu rechtfertigen ist in Verbindung mit der unbedingten Entschlossenheit, für Rüstungskontrolle und Abrüstung zu arbeiten“16 (Hervorhebung durch den Autor). Gleichfalls im Jahr 1983 zitierte die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem Hirtenwort Gerechtigkeit schafft Frieden das Konzilswort von der ,Frist‘, die genutzt werden müsse, um eine nukleare Bewaffnung im Sinne einer „Notstandsethik“ „vorübergehend“ tolerieren zu können.17
Die Rede von der Frist sollte offenkundig die Dringlichkeit der politischen Aufgabe der Abrüstung unterstreichen. Sie diente dazu, einen zielgerichteten Prozess in Gang zu setzen, der über den Weg der Rüstungskontrolle und Abrüstung darauf ausgerichtet sein musste, die Strategie der nuklearen Abschreckung zu überwinden. Es ging daher bei der „Frist“ nie in erster Linie um einen bestimmten Zeitraum, sondern um sachliche Bedingungen, die gegeben sein müssen, um die Strategie der nuklearen Abschreckung hinnehmen zu können. Es handelt sich einerseits um die Beachtung der Kriterien, die für jeden Krieg und jede Kriegsplanung beachtet werden müssen, andererseits und entscheidend um die nicht auflösbare Verbindung zwischen einer möglichen befristeten Akzeptanz und dem politischen Einsatz für die Überwindung der Strategie der atomaren Abschreckung. In diesem Sinne hängt die Duldung der Atomwaffen von einem politischen Urteil ab, oder genauer gesagt: von einem Urteil in Bezug auf die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit einer Abrüstungspolitik, die zielgerichtet darauf angelegt ist, die Atomwaffen abzuschaffen.
Die ausschlaggebende Frage lautet also: Wie ist beim gegenwärtigen Stand der Dinge diese Strategie mit Blick auf diese Bedingungen zu beurteilen?
Das Ende der „Frist“
Die Entwicklung im Rahmen der vatikanischen Aktivitäten: Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist von Anfang an in der päpstlichen Verkündigung präsent. Bereits 1965 hatte Paul VI. in seiner Botschaft zum 20. Jahrestag des Abwurfs der Hiroshima-Bombe dazu aufgerufen, für die Ächtung der Atomwaffen zu beten.18 1978 bekräftigte er in seiner Botschaft an die Abrüstungskonferenz der UN das Ziel, „das Arsenal der Atomwaffen völlig zu beseitigen“.19 Der Schritt des jetzigen Papstes setzt diese Linie konsequent fort und konkretisiert sie, indem er nun die Atomwaffen grundsätzlich verurteilt. Als solche war diese Entscheidung für die Öffentlichkeit überraschend, doch sie hatte sich schon über Jahrzehnte hin angebahnt, zum einen in den Beratungen der Päpstlichen Akademie der Wissenschaft, zum anderen im Rahmen der diplomatischen Tätigkeit des Heiligen Stuhls. Die Akademie veröffentlichte im Jahr 1981 eine Stellungnahme zu den Konsequenzen eines Atomwaffeneinsatzes, im Jahr 1982 eine Erklärung zur Prävention eines Atomkrieges und schließlich 1984 eine „Warnung“ vor dem nuklearen Winter als Folge einer nuklearen Auseinandersetzung.20 Im Dokument von 1982 warnten die Wissenschaftler, jeder Gebrauch einer Atomwaffe, auch wenn nur begrenzt, beinhalte das große Risiko einer nuklearen Eskalation. In Erwägung der „überwältigenden Gefahren“ der atomaren Abschreckung kommen sie am Ende zu dem Schluss: „Es ist geboten, Misstrauen abzubauen und Hoffnung und Vertrauen aufzubauen durch eine Abfolge von Schritten, um die Entwicklung, Produktion, das Testen und die Aufstellung nuklearer Waffensysteme einzudämmen, und sie auf wesentlich niedrigere Niveaus zu reduzieren mit der Hoffnung, sie zu guter Letzt völlig abzuschaffen.“21 Das Schwergewicht der Argumentation ruht erneut nicht auf einem grundsätzlichen Verbot der Kernwaffen, sondern auf der Dringlichkeit eines politischen Prozesses, der klar und eindeutig auf dieses Endziel hin geordnet ist.
Die diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhls konzentrierten sich im Zusammenhang mit der Problematik der Atomwaffen – von der intensiven Beteiligung an den Bemühungen um das Atomwaffentestverbot – hauptsächlich auf zwei Prozesse der internationalen Diplomatie, zuerst und vor allem auf die Verhandlungen zum Nichtverbreitungsvertrags sowie dann auf die Konferenz über die humanitären Auswirkungen der Atomwaffen, die in deren Kontext entstand und das dritte Mal 2014 in Wien tagte. Schließlich sind zu nennen die Verhandlungen zum Abschluss des Atomverbotsvertrages, der inzwischen vom Heiligen Stuhl unterzeichnet wurde. In seiner Ansprache während der 9. Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages zitierte Erzbischof Auza als vatikanischer Vertreter abschließend Papst Franziskus mit dem Satz, nukleare Abschreckung und die Drohung der wechselseitigen Vernichtung könne keine Grundlage für eine Ethik der brüderlichen und friedlichen Zusammenlebens der Völker und Staaten sein22, der sich im Schreiben des Papstes an den österreichischen Kanzler Kurz anlässlich der Wiener Konferenz über die humanitären Auswirkungen der Atomwaffen findet.23 Für diese Konferenz legte der Heilige Stuhl einen umfangreichen Beitrag mit dem Titel „Nukleare Abrüstung: Zeit für die Abschaffung“24 vor, der laut dem amerikanischen Theologen Gerard Powers die Position des Vatikans in Bezug auf die miteinander verknüpften Ethiken der Anwendung von Atomwaffen, der Abschreckung und Abrüstung zusammenfasst.25 Man könnte auch sagen, der Text zieht die Bilanz aus der Entwicklung jahrzehntelanger päpstlicher Lehrverkündigung. Er prüft einmal mehr eine Reihe von Gründen für und gegen die atomare Abschreckung und behauptet insgesamt, die nukleare Abschreckung könne nicht länger als eine Politik beurteilt werden, die auf einem festen moralischen Boden steht.
Zunächst verweist das Dokument auf den wachsenden Konsens hinsichtlich der strikten Verurteilung eines Einsatzes von Atomwaffen, erinnert aber auch daran, die Kirche habe dennoch ihren Besitz zum Zweck der nuklearen Abschreckung vorläufig akzeptiert, allerdings unter der Bedingung, diese sei ein Schritt auf dem Weg zu fortschreitender Abrüstung. Dann folgt eine entscheidende Feststellung: „Diese Bedingung wurde nicht erfüllt, bei weitem nicht.“26 Es sei nun an der Zeit, so fährt der Text fort, die Unterscheidung von Besitz und Gebrauch der Kernwaffen infrage zu stellen. Die Zeit sei gekommen, die Abschaffung der Atomwaffen als wesentliches Fundament kollektiver Sicherheit in ein neues Denken einzubeziehen. Jetzt sei die Zeit, nicht nur die moralische Verwerflichkeit des Einsatzes von Atomwaffen, sondern auch die Verwerflichkeit ihres Besitzes zu bekräftigen, und auf diese Weise den Weg zu ihrer Abschaffung zu erhellen.
Es liegt auf der Hand, dass der Papst in seinen jüngeren Äußerungen diese Einschätzung weder verändert noch korrigiert hat. Stattdessen variiert er sie mittels unterschiedlicher Akzente, stets fest verbunden mit der Aufforderung, mit aller Kraft auf die Abschaffung der Atomwaffen hinzuarbeiten. Aber wie genau ist diese Position zu verstehen? Gerard Powers meinte, eine denkbare Lesart besage, der Vatikan sei zu einem nuklearen Pazifisten geworden. Er selbst gab jedoch „nuanciertere Interpretation“ zu bedenken. Ihm zufolge habe der Vatikan nicht seine Haltung bedingter Akzeptanz und das Konzept der Abschreckung als solches aufgegeben, wohl aber das Verhalten der Atommächte beurteilt, die offenbar nicht gewillt seien, die Bedingungen der Akzeptanz zu erfüllen. In der Kritik stehe daher nicht die Idee der Abschreckung, sondern die Moralität ihrer Struktur, wie sie gegenwärtig existiert.27
Ist diese „nuanciertere“ Lesart zutreffend? Nicht ganz, wenn man sie mit der Position der Deutschen Kommission Justitita et Pax vergleicht. Es sei denn, man trennt die Idee der Abschreckung von ihrer nuklearen Verwirklichung.
Die Entwicklung in der römisch-katholischen Kirche in der BRD: Die Deutsche Kommission Justitia et Pax als Organ der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sah sich durch ihn veranlasst, mit Sicht auf die gegenwärtige Lage der internationalen Politik die Frage zu prüfen, ob sie die Position des Papstes teilen kann. Die Kommission hatte sich schon ein Jahrzehnt vorher ausführlich mit der Problematik beschäftigt und 2008 in der Studie Die wachsende Bedeutung nuklearer Rüstung. Herausforderung für Friedensethik und Politik grundsätzlich festgestellt: „Vor dem Hintergrund, dass das tolerierende ‚Noch‘ der 1980er Jahre, das stets mit Abrüstungsappellen an alle Seiten verbunden war, seitens der Politik zu oft entweder überhört oder als friedensethisch gerechtfertigte Akzeptanz umgedeutet und die kirchliche Position dadurch instrumentalisiert wurde, kommt dabei einer Klarstellung der friedensethischen Position der Kirche eine große Bedeutung zu. Die Rede vom ‚Noch‘ war und ist nicht als Legitimation zur einfachen Fortschreibung der Abschreckung zu verstehen. Sie soll lediglich den notwendigen politischen Spielraum zur deutlichen Verringerung der Abhängigkeit der Kriegsverhütung von Mitteln nuklearer Abschreckung, zur angestrebten vollständigen Überwindung atomarer Rüstungen und damit auch der mit ihnen verbundenen Einsatzszenarien erhalten. An der konkreten Nutzung dieses Spielraums ist die Politik zu messen“28 (Hervorhebung durch den Autor).
Neben das Argument der missbräuchlichen Fehldeutung der „Frist“ trat schon 2008 die Wahrnehmung eines Trends zur Unterhöhlung der Rüstungskontrollverträge, die von der Kommission wie folgt kommentiert wurde: „Blickt man auf die tatsächlich beobachtbaren Trends im Bereich der Nuklearrüstung, so gewinnen die Argumente dafür, dass dieses ‚Noch‘ seine Geltung zunehmend einbüßt, immer mehr an Gewicht.“29
In ihrer aktuellen Stellungnahme Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung von 2019 hat die Kommission ein weiteres Mal analysiert, ob die Strategie der nuklearen Abschreckung den ethischen und völkerrechtlichen Kriterien genügen kann, die für eine Fortschreibung der „Frist“ maßgeblich sind. Ihr Urteil fällt eindeutig aus: Es überwiegen mittlerweile die Gründe dafür, dem ‚Noch‘ jede weitere Geltung abzusprechen. Nicht nur erodieren die vertraglichen Pfeiler der Rüstungs- und Kontrollpolitik, auch die Abrüstungserfolge hatten erkennbar ihre Grenze in dem Willen der Nuklearmächte, die Strategie der nuklearen Abschreckung aufrecht zu erhalten. Die mehrfach wiederholte Versicherung der NATO, das bleibe der Grundsatz ihrer Politik, solange es Atomwaffen gebe, bringt deren innere Widersprüchlichkeit auf den Punkt. Eine atomwaffenfreie Welt zu wollen, zugleich aber die Abwesenheit von Atomwaffen zur entscheidenden Bedingung für das Ende der nuklearen Abschreckung zu erklären, ist glaubwürdig nur dann, wenn die Überwindung der Strategie der nuklearen Abschreckung mit der Ächtung der Atomwaffen beginnt. Hatte Justitia et Pax 2008 noch vergleichsweise unbestimmt festgehalten: „Ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Abschaffung von Nuklearwaffen ist ihre internationale Ächtung“30, so legt sie sich jetzt in der Reihenfolge der notwendigen Schritte fest: Die internationale Ächtung der Nuklearwaffen kann nicht am Ende eines Prozesses stehen, der in ihrer faktischen Beseitigung mündet, sondern muss dessen Anfang markieren.31
Von der Ächtung zur Abschaffung der Atomwaffen
Die Soziallehre der römisch-katholischen Kirche richtet sich keineswegs nur an ihre Mitglieder, sondern an – nach einer von Johannes XXIII. geprägten Formel – „alle Menschen guten Willens“. Anders ausgedrückt: Ihre Argumente sollen auch für Menschen einsichtig sein, die zwar nicht den Glauben der Kirche teilen, aber sich dem Anspruch der sittlichen Vernunft unterstellen, mit dem sie aufgrund ihres Menschseins konfrontiert sind. Dementsprechend wenden sich die Päpste immer wieder an Politik und Öffentlichkeit und mahnen, sich der gemeinsamen menschlichen Verantwortung zu stellen und ihr gerecht zu werden. Papst Franziskus baut dabei auf das vorbildhafte Engagement all der Menschen, die aktiv für die Abschaffung der Atomwaffen eintreten: „Eine Welt in Frieden und frei von Atomwaffen ist das Bestreben von Millionen von Männern und Frauen überall auf der Erde. Dieses Ideal Wirklichkeit werden zu lassen erfordert die Beteiligung aller: Einzelne, Religionsgemeinschaften, die Zivilgesellschaft, die Staaten im Besitz von Atomwaffen und atomwaffenfreie Staaten, private und militärische Bereiche sowie die internationalen Organisationen. Unsere Antwort auf die Bedrohung durch Nuklearwaffen muss gemeinsam und konzentriert sein und auf dem mühsamen, aber beständigen Aufbau gegenseitigen Vertrauens beruhen, das die Dynamik des gegenwärtig vorherrschenden Misstrauens durchbricht.“32
In der römisch-katholischen Kirche hat ein neues Nachdenken über die Strategie der atomaren Abschreckung eingesetzt, und einige Bischofskonferenzen haben sich bereits der Position des Papstes angeschlossen. Als Weltkirche, die alle nationalen Kontexte umfasst und übergreift, könnte sie ein Laboratorium sein, in dem sich modellhaft die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung abspielt, ohne die ein wirkmächtiger weltweiter Konsens und damit ein Erfolg des Kampfes gegen die Atomwaffen nicht erreichbar ist. Eine weltweite Öffentlichkeit muss die Regierungen der Atommächte unter Druck setzen, unverzüglich an den Verhandlungstisch zurückzukehren, um konkrete Abrüstungsschritte zu vereinbaren, anstatt nach und nach die bestehenden Verträge zu kündigen oder nicht zu verlängern. Die Bevölkerung der Atommächte darf die Weigerung ihrer Regierungen, sich dem Verbotsantrag anzuschließen, nicht hinnehmen, sondern muss sie beständig und mit Nachdruck drängen, sich gemeinsam auf eine kontrollierte Abschaffung der Atomwaffen zu verständigen, anstatt ihre nuklearen Fähigkeiten auszubauen und zu perfektionieren.
Nicht nur, aber besonders in der Kirche gebietet es die geschwisterliche Solidarität, die unter Umständen spannungsreiche und schwierige Rolle ernst zu nehmen, die in diesem politischen Prozess den Soldaten und Soldatinnen zufällt. Sie können leicht in einen Loyalitätskonflikt mit der militärischen und politischen Führung geraten, der ihr Gewissen belastet und ihre berufliche Zukunft beeinträchtigt oder gar gefährdet. In solchen Situationen brauchen sie seelsorglichen Rat und Beistand. Es dreht sich aber nicht nur um politische Loyalität und soldatischen Gehorsam, es handelt sich in erster Linie um die moralische Integrität der einzelnen Person, die in sich die Pflichten als Glied der Kirche und der Pflicht als Bürgerin und Bürger zum einen sowie die Pflicht als Angehörige der Armee miteinander in Einklang bringen muss. Das kann gelingen, wenn sie ihren militärischen Sachverstand in die öffentliche und politische Debatte über die schrittweise Überwindung der nuklearen Abschreckung einbringen. Denn Abschreckung gehört zum militärischen Handwerk, Abschreckung mit Atomwaffen dagegen nicht.
1 Ansprache von Papst Franziskus an die Teilnehmer am Internationalen Symposium zum Thema Abrüstung, Freitag 10. November 2017, abrufbar unter: www.vatican.va/content/vatican/de.html. Unter dieser Adresse sind alle im Folgenden erwähnten oder zitierten Texte des Papstes und vatikanischen Institutionen zu erhalten. Wenn nicht anders vermerkt, stammt die Übersetzung des Originals aus dieser Quelle.
2 Apostolische Reise von Papst Franziskus nach Thailand und Japan. Pressekonferenz mit dem Heiligen Vater auf dem Rückflug nach Rom, Dienstag, 26. November 2019
3 Apostolische Reise von Papst Franziskus nach Thailand und Japan. Botschaft des Heiligen Vaters über Atomwaffen. Atombombenpark (Nagasaki), Sonntag, 24.11.2019
4 Der Text bei der genannten Quelle nur in französischer und italienischer Sprache erhältlich. Die hier genutzte deutsche Übersetzung liegt vor in: Ernesti, Jörg (2017): Benedikt XV. Papst zwischen den Fronten. Freiburg/Breisgau u. a., Anhang Nr. 5, S. 263–266, S. 264.
5 Der Text der Ansprache findet sich in: Utz, Arthur-Fridolin und Groner, Joseph-Fulko (Hg.) (1962): Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens: soziale Summe Pius XII. 2. Aufl. Freiburg, S. 1980–1983, S. 1981.
6 Der Text ist abgedruckt bei Utz, Arthur-Fridolin und Groner, Joseph-Fulko (Hg.) (1962), S. 1883–1889, S. 1887.
7 Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium, 24.12.1946. In: Utz, Arthur-Fridolin und Groner, Joseph-Fulko (Hg.) (1962), S. 1918–1932, S. 1925
8 Die deutsche Übersetzung des Dokuments liegt vor in: Pax Christi (Hg.) (1983): Herausforderung Frieden. Antworten der Bischöfe in den USA, der Niederlande, der DDR, Österreichs, der Schweiz, Belgiens, Irlands und Japans. Frankfurt/Main, S. 5–129, S. 9.
9 Ebda.
10 Text der Konstitution in: Rahner, Karl und Vorgrimler, Herbert (Hg.) (1966): Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums. Freiburg/Breisgau 1966, S. 449–552, Nr. 80.
11 Ebda.
12 Nr. 81
13 Vgl. Pax Christi (Hg.) (1983), S. 78, das im Text nachfolgende Zitat S. 64.
14 Vgl. Pax Christi (Hg.) (1983), S. 81.
15 Vgl. Pax Christi (Hg.) (1983), S. 76.
16 Vgl. Pax Christi (Hg.) (1983), S. 10.
17 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (1983): Gerechtigkeit schafft Frieden. Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Frieden. (Die Deutschen Bischöfe Nr. 34.) Bonn, Nr. 3.5.2, S. 36.
18 Der Text ist teilweise abgedruckt in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (1980): Dienst am Frieden. Stellungnahmen der Päpste, des II. Vatikanischen Konzils und der Bischofssynode. Von 1963–1980. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 23.). Bonn, S. 42–43, S. 43.
19 Der von Erzbischof Casaroli verlesene Text ist abgedruckt in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (1980), S. 176–183, S. 181.
20 Statement on the Consequences of the Use of Nuclear weapons (1981); Declaration on Prevention of Nuclear War (1982) Nuclear Winter (1984)
21 Zitat aus „Prevention of War“, eigene Übersetzung.
22 Vgl. Statement by H. E. Archbishop Bernadito Auza, Apostolic Nuncio and Permanent Observer oft he Holy See to the United Nations, New York, Wednesday, 29. April 2015
23 Vgl. Message of His Holiness Pope Francis on the occasion oft he Vienna Conference on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons to His Excellence Mr. Sebastian Kurz, Federal Minister for Europe, Integration and Foreign Affairs of the Republic of Austria, President of the Conference on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons
28 Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hg.) (2008): Die wachsende Bedeutung nuklearer Rüstung. Herausforderung für Friedensethik und Politik. Bonn (Gerechtigkeit und Frieden Nr. 113), Nr. 3.1, S. 56.
29 Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hg.) (2008), S. 55.
30 Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hg.) (2008), Nr. 3.2, S 57.
31 Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hg.) (2019): Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abschreckung. Ein Plädoyer der Deutschen Kommission Justitia et Pax. (Gerechtigkeit und Frieden Nr. 137). Bonn, Nr. 6, S. 15.
32 Botschaft des Heiligen Vaters über Atomwaffen, Nagasaki, 24.11.2019.
Prof. i. R. Dr. Heinz-Günther Stobbe ist Moderator der AG „Gerechter Friede“ der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Er war lange Zeit an den Universitäten Münster/Westfalen und Siegen tätig.