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Medizin als Waffe – die Ethik von Winning Hearts and Minds-Einsätzen

Seit Jahrzehnten wird die Militärmedizin formell als strategisches Instrument eingesetzt und dabei manchmal auch als „nichttödliche Waffe“ bezeichnet, die auf die hearts and minds – die „Herzen und Köpfe“ der Bevölkerung – abzielt. Diese Einsätze erfolgen häufig im Kontext größerer Programme, die unter dem Schlagwort humanitäre Hilfe oder Engagement für die Zivilgesellschaft laufen. Mittlerweile stellen medizinisch ausgerichtete humanitäre Hilfsmissionen eine wichtige Komponente bei den aktuellen Einsätzen der Streitkräfte rund um den Erdball dar. Im Gegensatz zu ihren zivilen Gegenstücken (wie Ärzte ohne Grenzen, das Internationale Rote Kreuz und der Rote Halbmond) sind Sinn und Zweck dieser Militärprogramme nicht rein medizinischer Natur. Vielmehr ist bei humanitären Hilfseinsätzen der Streitkräfte die medizinische Versorgung ganz klar an bestimmte strategische Ziele geknüpft. Solche Einsätze werden innerhalb des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums zunehmend befürwortet und allmählich auch von den Streitkräften anderer Staaten angewandt. Diese Praxis wird bisher kaum hinterfragt oder kritisch beleuchtet. 

Der vorliegende Aufsatz beleuchtet mithilfe verschiedener Quellen und Forschungsansätze die ethische Problematik dieser Einsätze. Zu den genannten Quellen gehören Archive, Primärquellen (offizielle Berichte, Doktrinen und veröffentlichte persönliche Berichte), Sekundärquellen sowie eine Reihe mündlicher Erzählungen, die von der Autorin zusammengetragen wurden. Das Thema Ethik wird hierbei deskriptiv verstanden: Auf die Erfassung und Analyse ethischer Probleme und moralischer Dilemmata bei medizinischen Hilfseinsätzen folgen konkrete Lösungsvorschläge. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf den moralischen Gegebenheiten und der ethischen Komplexität der Einsätze, wie sie von den Teilnehmern erlebt werden. Ziel ist die empfundene Verbesserung in der Wahrnehmung der Militärärzte. Größere normative Fragen dahingehend, ob es moralisch zulässig ist, die Medizin für politische Zwecke zu instrumentalisieren bzw. die Medizin ganz allgemein zu instrumentalisieren, würden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen und sollten in einer separaten Untersuchung behandelt werden.  

Die Geschichte der medizinischen Hilfseinsätze für Zivilisten

Seit den Anfängen einer formell organisierten Armeemedizin in den USA versorgen militärmedizinische Fachkräfte auch die zivile Bevölkerung. Die in diesem Aufsatz genannten Einsatzarten sind schon seit längerer Zeit unter einer Vielzahl von Bezeichnungen bekannt, die sich nach dem jeweiligen Programm, dem historischen Zeitraum, der jeweiligen Armee oder dem Aktionsbereich richten. Grundsätzlich jedoch weisen alle diese Einsätze unabhängig von ihren jeweiligen Zielen und Bezeichnungen grundlegende Gemeinsamkeiten auf: Im Rahmen eines offiziellen militärischen Einsatzes oder Programms werden uniformierte militärmedizinische Fachkräfte für die medizinische Versorgung einer bestimmten Zivilbevölkerung eingesetzt. In diesem Zusammenhang wird im Folgenden für eine bessere Übersichtlichkeit der Begriff „medizinische Versorgung von Zivilisten“ als Oberbegriff verwendet, wie dies auch in meinen anderen Arbeiten der Fall ist.1

Der Begriff umfasst sämtliche Programme, die der obigen Beschreibung entsprechen – unabhängig davon, ob diese formeller, informeller oder spontaner Natur sind, und ungeachtet ihrer offiziellen Bezeichnung. Darüber hinaus wird durch die Vermeidung des Begriffes „humanitär“ eine mögliche Verwechslung mit anderen Programmen ausgeschlossen, die nichtmilitärischer, ziviler Art sind und von Nichtregierungsorganisationen durchgeführt werden.

Die ersten offiziellen Einsätze zur medizinischen Versorgung von Zivilisten erfolgten im Rahmen des groß angelegten und weitreichenden Medical Civic Action Program (MEDCAP, Aktionsprogramm zur medizinischen Versorgung von Zivilisten). Dieses Programm begann im Vietnamkrieg, in dessen Verlauf militärmedizinische Fachkräfte über 40 Millionen Zivilisten vor Ort im Rahmen von MEDCAP-Einsätzen untersuchten und behandelten. 1968 wurden circa 188.440 Zivilisten pro Monat ambulant von MEDCAP-Fachkräften versorgt. Diese Zahl erhöhte sich im Jahr 1970 auf 225.000 ambulant behandelte Zivilisten pro Monat. Zur Zeit des Vietnamkriegs erhielt die vietnamesische Zivilbevölkerung nur äußerst begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung, da das Arzt-Patienten-Verhältnis lediglich 1 zu 93.000 betrug.2

Das US-Militär wiederum verfügte über die Mittel, um einer Bevölkerung mit mangelndem Zugang zu Gesundheitsleistungen eine medizinische Versorgung zu bieten, und war sich dabei des großen strategischen Werts dieses Angebots durchaus bewusst. Die medizinische Versorgung war entsprechend  durch und durch strategisch motiviert. Das wichtigste Ziel der MEDCAP-Einsätze lautete, „der Regierung … ein gutes Ansehen in den Augen der Menschen“ zu verschaffen, wobei die Verbesserung der Patienten- bzw. der öffentlichen Gesundheit nur als sekundäres Ziel und Nebeneffekt betrachtet wurde. 

Zu den weiteren strategischen Ansätzen des MEDCAP gehörten umfangreiche psychologische Operationen (PSYOP) sowie die Einbeziehung nachrichtendienstlicher Aufklärungsaktionen.2

Nach dem Vietnamkrieg wurde das MEDCAP angesichts der Vielzahl behandelter Patienten und der mutmaßlich großen Zahl gewonnener hearts and minds als großer Erfolg gefeiert. Es wurde ausgeweitet und wird seitdem rund um den Erdball durchgeführt: in Mittel- und Südamerika, Afrika, Ost- und Westeuropa, Asien und im Nahen Osten. Seit dem scheinbaren Erfolg im Vietnamkrieg befürworten nun Autoren von Publikationen der Streitkräfte, Befehlshaber und Studenten an Militärakademien den zunehmenden Einsatz der Medizin zum Erreichen militärischer Ziele, darunter eine verstärkte Durchführung von Programmen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten. Der Einsatz von MEDCAP-Operationen als militärischen Mittel, mit denen strategische Ziele ohne Einsatz von Gewalt erreicht werden können, erscheint vielen Angehörigen der Streitkräfte sehr verlockend. An den Militärakademien und in den verbundenen Kreisen ist im Zusammenhang mit der Bedeutung der medizinischen Versorgung von Zivilisten oft die Rede von den non-lethal weapons, den „nichttödlichen Waffen“. Befehlshaber sehen eine mögliche Verwendung dieser Waffen insbesondere in zukünftigen und gegenwärtigen low-intensity conflicts (LIC, Konflikte mit niedriger Intensität), military operations other than war (MOOTW, Militäreinsätze unterhalb der Kriegsschwelle) und bei unkonventioneller Kriegführung.

Politik und Praxis haben sich ebenfalls dieser Sichtweise angeschlossen. So liegt inzwischen der Schwerpunkt der Sicherheitspolitik auf Stabilisierungsoperationen, bei denen Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft und humanitäre Hilfe im Vordergrund stehen. Anweisung 3000.05 des US-Verteidigungsministeriums besagt entsprechend, dass es sich bei military stability operations (MSOs) um „grundlegende Einsätze der Streitkräfte der Vereinigten Staaten“ handelt, die „die gleiche Priorität wie Kampfeinsätze erfahren sollen ...“. Auch die Internationale Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) hob die Bedeutung von MEDCAP-artigen Programmen als eine wichtige Einsatzform bei den Missionen der Gegenwart hervor. Gleichzeitig setzen zunehmend viele Armeen auf dieses Konzept und instrumentalisieren die Medizin, um das militärische Ziel zu erreichen, die Bevölkerung vor Ort für sich zu gewinnen. Interessanterweise unterscheiden sich die aktuellen Programme zur medizinischen Versorgung von Zivilisten nicht von dem ursprünglichen Modell, das in Vietnam angewandt wurde. Auch wenn sich Technik und Schauplatz geändert haben – die Programme selbst sind gleich geblieben. Die leitende Doktrin, die strategischen Ziele und Prioritäten sind unverändert.

Bei aller Unterstützung dieser Programme aus den Reihen der Politik und dem Beifall und der Rechtfertigung vonseiten der Befehlshaber gibt es auch kritische Stimmen. So brachten Philosophen, Ethiker, Zivilärzte und auch die Teilnehmer selbst ihre Missbilligung und Unzufriedenheit zum Ausdruck. Trotz der vielen berichteten negativen Erfahrungen der Teilnehmer wurde die Ausweitung der Programme kaum hinterfragt oder von einer kritischen Analyse begleitet. Stattdessen wurden die ethischen Bedenken und Kritikpunkte mehr oder weniger komplett übergangen.

Im Folgenden sollen die ethischen Probleme untersucht werden, die im Zusammenhang mit Programmen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten auftreten. Die ethische Analyse stützt sich dabei auf historische Forschungsarbeiten (Doktrinen, Berichte, Sekundärquellen) sowie auf mündlich übermittelte historische Daten, um so die moralische Realität dieser Einsätze zu erforschen. Die Berichte der Militärärzte gewähren einen Einblick aus erster Hand in die Einsätze zur medizinischen Versorgung von Zivilisten und die speziellen ethischen Konfliktsituationen, vor die sie die Beteiligten stellen.

Die Erfahrung der Militärärzte: mündliche Berichte

Ein Großteil der zu diesen Programmen vorhandenen Primärquellen besteht aus Militärberichten. Leider geben diese Dokumente keine Auskunft zu den ethischen Dilemmata, die Gegenstand dieses Aufsatzes sind. Aus diesem Grund werden mündlich übermittelte historische Daten verwendet und als Grundlage für die in diesem Aufsatz gezogenen Schlussfolgerungen herangezogen. Die aus den mündlichen Berichten gewonnenen Daten wurden im Rahmen teilweise schematisierter Interviews erhoben, die die Autorin unter Einhaltung eines von der zuständigen Ethikkommission genehmigten Forschungsprotokolls führte.

Die Auswahl der Teilnehmer für die Interviews erfolgte notwendigerweise zielgerichtet. Für die vorliegende Forschungsarbeit wurden Veteranen, Pensionäre und im Dienst stehende Ärzte befragt, die im Rahmen militärischer Missionen an Programmen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten teilnahmen. Alle Teilnehmer waren Militärärzte, wobei Rang, Alter und abgeleistete Jahre in den Streitkräften stark variierten. Ebenso breit gefächert war das Spektrum an Programmen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten, an denen die Befragten teilgenommen hatten: Dieses reichte von MEDCAPs in Vietnam, Kuwait, Irak und Afghanistan bis zu Medical Readiness Training Excercises (MEDRETEs, Schulungsübungen zur medizinischen Bereitschaft) in Honduras und Bolivien, darunter auch spontane und informelle Hilfseinsätze für Zivilisten.  Der Zeitraum dieser Einsätze reichte von 1960 bis 2012. Aus Datenschutzgründen wurden sämtliche Aussagen der Studienteilnehmer von Anfang an anonymisiert.

Bei entsprechender Einwilligung wurden die Interviews aufgezeichnet, transkribiert, verschlüsselt und ggf. im Zusammenhang mit vorliegenden Notizen aus dem Einsatz analysiert. Es erfolgte sowohl eine Einzelfall- als auch eine fallübergreifende Analyse in Übereinstimmung mit der von Glaser und Straus entwickelten Methode des permanenten Vergleichs. Mit diesem Vorgehen konnten die Antworten der Teilnehmer gruppiert und gleichzeitig die verschiedenen Perspektiven zu zentralen Themen, ethischen Problemen und empfundenen Dilemmata analysiert werden. So wurde ein systematischer Vergleich wichtiger Themen möglich, die sich aus der Recherche in Archiven, Primärquellen, Sekundärquellen und mündlich übermittelten historischen Daten ergaben. Schließlich brachten die Interviews mündliche Erzählungen und Berichte von Militärärzten ans Licht, die bis zu diesem Zeitpunkt nie erzählt worden waren und wertvollen Einblick in die moralischen Realitäten dieser Einsätze und die ethischen Dilemmata der direkt Beteiligten boten. 

Ethische Probleme

Bei ihren Einsätzen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten fühlten sich die befragten Militärärzte grundsätzlich durch die Umstände, Beschränkungen und ihr Arbeitsumfeld behindert. Das ethische Problem einer unterdurchschnittlichen medizinischen Versorgung wurde im Zusammenhang mit diesen Einsätzen häufig thematisiert. Bei Einsätzen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten bestehen viele Beschränkungen. So werden die Einsatzorte im Vorfeld unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit und des strategischen Wertes festgelegt. In Vietnam zum Beispiel wurden kleine Dörfer aufgrund ihrer politischen Bedeutung und nicht aufgrund der medizinischen Bedürfnisse der Bevölkerung ausgewählt – ein Vorgehen, das noch heute sowohl bei MEDCAP- als auch bei MEDRETE-Einsätzen angewandt wird. Medikamente und Ausrüstung sind bei Einsätzen oft begrenzt und die Zeit ist stets knapp bemessen. Die Medikamente werden dabei aus dem medizinischen Lagerbestand innerhalb der militärischen Versorgungskette bezogen und sind damit üblicherweise nur für Erwachsene geeignet – trotz des Umstandes, dass viele der Patienten Kinder sind, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Die zur Diagnostik benötigte Ausrüstung ist unzureichend oder nicht vorhanden. Daneben stehen den Ärzten häufig keine Übersetzer oder Dolmetscher zur Verfügung, sodass es zu großen Problemen aufgrund der Sprachbarriere kommt. Versorgung über einen längeren Zeitraum zum Beispiel von chronischen Erkrankungen oder Nachbehandlungen können nicht durchgeführt werden, da die Ärzte bei den Einsätzen nur für einen Tag an einem bestimmten Ort sind. Das bedeutet, dass sie häufig nicht viel mehr tun können, als Gesundheitsprobleme zu erkennen und Vitaminpräparate oder Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Aspirin zu verschreiben. Darüber hinaus berichteten Militärärzte davon, dass die Patientenzahl aufgrund von Auflagen des Einsatzlands oder Vorgaben des Militärs begrenzt worden sei. Die häufig altruistisch motivierten Militärärzte berichten auch davon, wie sie von den Zwängen des Einsatzes, den medizinischen Einsatzregeln und Versorgungsengpässen behindert wurden. 

Bei dieser Kritik geht es nicht nur um die Schwachpunkte, die mit der Arbeit in einem mobilen Krankenhaus, in einem Entwicklungsland oder einem Konfliktgebiet an sich zu tun haben. Schließlich handelt es sich um Erfahrungen, die auch zivile Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen machen. Das Problem ist tief gehender und seine Ursache liegt in der Ausgestaltung der Programme zur medizinischen Versorgung von Zivilisten selbst.  Die Frustration angesichts der als unterdurchschnittlich wahrgenommenen medizinischen Versorgung ist dabei Ausdruck eines komplexen programmatischen und ethischen Problems: Medizinische Anliegen haben im Rahmen militärischer Einsätze keine Priorität. Im Gegensatz zu zivilen Hilfseinsätzen, bei denen Ärzte möglicherweise frustriert sind, weil sie angesichts begrenzter Mittel und umgebungsbedingter Zwänge nicht richtig helfen können, rühren die Unzufriedenheit und negative Bewertung hinsichtlich der Programme durch die Militärärzte daher, dass strategische Ziele vor medizinische Ziele gestellt werden. Militärärzte bewerten häufig als moralisch fragwürdig, dass diese Programme ihre Rolle als Soldaten und insbesondere als „Beschwichtigungsmittel“ betonen – Stichwort „winning hearts and minds“ – und dabei die medizinischen Ziele vernachlässigt werden. Die Befragten sind sich der Priorisierung der militärischen Ziele wohl bewusst und beschreiben die Programme als „von medizinisch geringem Wert“, aber „großartiges Propagandamittel“.3

Der Fall des US-Armeearztes Dr. Howard Levy gelangte zu Berühmtheit: Der Militärarzt weigerte sich, die Sanitäter der Spezialeinheit Green Berets in Vietnam in Dermatologie zu unterweisen. Mit den dermatologischen Kenntnissen sollten die Sanitäter die strategischen Ziele des MEDCAP erreichen. Levy sah dies als eine „Prostitution der Medizin für politische und militärische Zwecke“ an. Während des Gerichtsverfahrens erklärte ein amerikanischer Wehrdisziplinaranwalt die Motive hinter dem MEDCAP lapidar wie folgt: 

„Wir wollten die Medizin als Mittel der Annäherung an den Feind und zur Durchsetzung unseres Willens verwenden ... Der eine große Ansatzpunkt ist dabei der Arzt, da die Leute dort kaum Ärzte und ausgebildete medizinische Fachkräfte haben; also wird ein Arzt nach vorne geschickt, um das Vertrauen dieser Leute zu gewinnen, indem er sie behandelt ...“4

Levy lehnte diese Instrumentalisierung der Medizin ab und war zutiefst darüber besorgt, dass die Gesundheit der Patienten kein Hauptanliegen der Mission darstellte. Der Fall Levy und weitere Berichte illustrieren die Sichtweise und moralische Argumentation der Militärärzte. Diese merken in mündlichen Erzählungen, Briefen und persönlichen Schilderungen an, dass die Militärmedizin für die genannten Ziele eingesetzt und in einigen Fällen auch missbraucht wurde. Ablehnung und Unzufriedenheit zeigen sie hinsichtlich der Fälle, in denen sie den Einsatz der Militärmedizin als Ausnutzung beschreiben. Der wichtigste Grund, die genannten Programme und die Instrumentalisierung der Medizin für politische Zwecke abzulehnen, liegt in der erwarteten Auswirkung von Missbrauch und Ausnutzung medizinischer Versorgung auf die Patienten. Dem Unterschied zwischen der Instrumentalisierung der Medizin einerseits und ihrer Ausnutzung andererseits messen die Befragten eine hohe moralische Relevanz und Wichtigkeit bei. 

Während des Vietnamkriegs waren die MEDCAP-Operationen eng mit psychologischen Operationen (PSYOP) verknüpft: Die MEDCAP-Einsätze wurden von einer Beschwichtigungspropaganda begleitet, zu der speziell konzipierte Kuverts mit Medikamenten, Lautsprecheransagen, Geschenke und T-Shirts mit eindeutigen Botschaften gehörten.1 Im Rahmen dieser Einsätze wurde die Medizin als Mittel zur Informationsbeschaffung instrumentalisiert oder sogar missbraucht. So nutzten Befehlshaber das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten, um an taktische Informationen heranzukommen. Gegenüber den strategischen Zielen der Beschwichtigung der Zivilbevölkerung oder Informationsbeschaffung trat die Medizin in den Hintergrund.1 Militärärzte berichteten, dass die Priorisierung der Informationsbeschaffung deutlich das Vertrauen beschädigte, das die Patienten dem Gesundheitsteam entgegenbrachten, und den gesamten MEDCAP-Einsatz überschattete: „Wenn man die ärztliche Tätigkeit dafür verwendet, Informationen [zu beschaffen], verspielt man damit das Vertrauen der Bevölkerung, die man behandelt.“ Dieses Zusammenspiel der Prioritäten und politischen Vorgaben trug dazu bei, dass die Militärärzte keine angemessene medizinische Versorgung leisten konnten, und war darüber hinaus mit dafür verantwortlich, dass die Militärärzte die Medizin als ausgenutzt wahrnahmen. Da die Ziele strategischer Natur waren, war die Verbesserung der medizinischen Versorgung nicht die treibende Kraft, sondern lediglich eine Nebenerscheinung der umgesetzten Ziele.

Militärärzte reagieren unterschiedlich auf ihre negativen Erfahrungen aus den genannten Einsätzen. Stabsärzte werden häufig „sanft gedrängt“, teilzunehmen oder (wenn auch weniger häufig) Einsätze zu organisieren. Anfangs nehmen viele sogar gerne teil, da sie eine klassische humanitäre Hilfsaktion, frei von militärischen Überlegungen, erwarten. Sobald die Realität des Einsatzes deutlich wird, geraten viele in die oben beschriebenen ethischen Konfliktsituationen und kämpfen mit der Instrumentalisierung und Ausnutzung der Medizin, mit der Unmöglichkeit einer angemessenen Patientenversorgung, mit der unterdurchschnittlichen Qualität der Versorgung und mit ihrer moralisch schwierigen Rolle als ärztlich tätige Soldaten. Ihr mangelndes Wissen um die Realität dieser Einsätze rührt aus mehreren Umständen: Militärärzte erhalten häufig nur begrenzt Informationen zu Einsatz, Einsatzort oder der Situation der Bevölkerung vor Ort und bekommen im Vorfeld eines Einsatzes oft keine entsprechende Einweisung. Zudem sind sie auch nur selten an der Planung im Vorfeld beteiligt.

Besonders aufschlussreich ist der Trend, dass einige Studienteilnehmer die Programme ethisch und medizinisch als dermaßen problematisch bewerteten und derartig bestürzt waren, dass sie ihre Teilnahme verweigerten. Die Einzelberichte über solche Vorkommnisse häufen sich – entweder sprechen sich die betreffenden Ärzte ganz offiziell dagegen aus oder aber verweigern ihre Teilnahme inoffiziell, indem sie sich geschickt ihrer Abordnung entziehen. Diese Weigerung verdeutlicht die moralischen Realitäten und tatsächlichen ethischen Konflikte der an solchen Einsätzen beteiligten medizinischen Fachkräfte. Darüber hinaus verweist die Heftigkeit der Reaktionen auf einen Änderungsbedarf, sollte diese Art Einsätze fortgesetzt werden.

Aus schriftlichen Erzählungen, mündlichen Berichten und einer kürzlich vom Center for Disaster and Humanitarian Assistance Medicine (CDHAM) durchgeführten Studie geht hervor, dass Ärzte aus altruistischen Gründen an diesen Programmen teilnehmen. Laut der CDHAM-Studie gab nahezu die Hälfte aller befragten Ärzte an, humanitäre Einsätze seien ein wesentlicher Grund für ihre Entscheidung zum Eintritt in die Streitkräfte gewesen:

„Viele Bewerber für die USUHS [Uniformed Services University of the Health Sciences, eine für den Sanitätsdienst ausbildende staatliche Universität für Gesundheitswissenschaften] ... äußerten sich positiv mit Blick auf mögliche Einsätze im Ausland ... humanitäre Einsätze sind einer der entscheidenden Gründe für ihre Bewerbung  an der USUHS und für die Verfolgung einer Laufbahn als Militärarzt.“5 

Die Umfrageergebnisse geben einen wertvollen Einblick in die Motivation von Militärärzten, die an Einsätzen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten teilnehmen. Ihre Identität als Militärarzt ist dabei zumindest teilweise von diesem humanitären Antrieb geprägt – medizinische Versorgung zu leisten in einer Form, die ihres Erachtens als Zivilarzt nicht geleistet werden kann. Aus der gleichen CDHAM-Studie geht auch hervor, dass humanitäre Hilfseinsätze für 60 Prozent der Befragten wesentlich für ihre Entscheidung zum Verbleib in den Streitkräften waren.5 Die Bedeutung dieser Ergebnisse für die Streitkräfte ist also erheblich. Die Programme spielen eine zentrale Rolle für die Bindung und Rekrutierung und stellen einen wesentlichen Faktor bei der Karriereplanung der Militärärzte dar. Angesichts der großen militärischen Bedeutung der Programme verdienen die Erfahrungen der Militärärzte im Rahmen dieser Einsätze mehr Beachtung: Für sie waren die Programme zur medizinischen Versorgung von Zivilisten bislang eine gut gemeinte, aber fehlgeleitete und letztendlich frustrierende Erfahrung. Sie erwarteten einen humanitären Einsatz mit wohltätiger medizinischer Versorgung, erlebten aber die Realität einer militärischen Operation, bei der medizinische Ziele nur eine nachrangige Rolle spielten.

Erfolgreiche Programme und alternative Lösungen

Es ist wichtig zu betonen, dass Militärärzte nicht mit jeder Variante dieser Art Einsätze Probleme haben. So gibt es erfolgreiche Programme zur medizinischen Versorgung von Zivilisten, bei denen ethische Bedenken und moralische Dilemmata für die Teilnehmer nicht so groß sind. Das MEDRETE-Programm zum Beispiel, eine schulungsorientierte Nachfolgevariante des MEDCAP, erfährt deutlich weniger Kritik. Da hier medizinische Ausbildung ein primäres Ziel ist, spielen hier medizinische Ziele eine tragendere Rolle. Ärzte, die sowohl an MEDCAP- als auch an MEDRETE-Einsätzen teilgenommen haben, berichten, dass die medizinische Versorgung bei letzteren weitaus sinnvoller durchgeführt wurde. Darüber hinaus gibt es auch erfolgreiche Varianten des MEDCAP, die weiterentwickelt und fortgesetzt werden sollten. Bei diesen erfolgreichen Beispielen stehen wieder die medizinischen Ziele im Mittelpunkt – eine Ausnutzung der Medizin wird vermieden, stattdessen werden sowohl die medizinischen als auch die militärischen Ziele erreicht. Internisten haben etwa entzündete Gelenke und Abszesse behandelt, Chirurgen waren bei der Behebung von Lippen-Gaumen-Spalten und bei Amputationen medizinisch (und auch im Hinblick auf die jeweiligen strategischen Ziele psychologischer Einsätze) erfolgreich. Kinderärzte verzeichneten große Erfolge mit Entwurmungsmaßnahmen und Zahnärzte konnten die Mundgesundheit mithilfe von Zahnextraktionen deutlich verbessern. Auch Augenoptiker erzielten spürbaren Erfolg über die Verteilung von Sehhilfen. Bei anderen Einsätzen standen die öffentliche Gesundheit und Präventionsmaßnahmen wie Impfungen und medizinische Bildung in der jeweiligen Landessprache im Mittelpunkt. Obwohl medizinische Eingriffe in diesem Rahmen nur begrenzt durchgeführt werden können, haben die Ärzte doch Wege gefunden, um therapeutisch etwas zu bewirken. Hierbei ist hervorzuheben, dass es bei diesen Einsätzen um Versorgungsleistungen ging, die in kurzer Zeit umgesetzt werden können und gleichzeitig einen nachhaltigen positiven Nutzen für die Gesundheit haben.

Im Gegensatz zu Einsätzen, bei denen strategische Ziele Vorrang hatten und die medizinische Ziele ignorierten, wurden die oben aufgeführten Einsätze durch medizinische Fachkräfte geplant und organisiert. In der Vergangenheit wurden MEDCAP-Einsätze aufgrund ihres überwiegend militärischen (oder strategischen) Zwecks von Befehlshabern und Offizieren ohne medizinischen Hintergrund konzipiert, wobei strategische Ziele klar im Vordergrund standen. Empfohlen wird jedoch, medizinisches Personal in die Planung und Organisation einzubeziehen – denn die einzigen erfolgreichen Programme wurden von Stabsärzten aktiv geplant und berücksichtigten militärische und medizinische Ziele gleichermaßen. Werden Programme auf diese Weise geplant, nehmen die Teilnehmer häufig eine bessere medizinische Versorgung für die Bevölkerung vor Ort wahr. Schulungen für die Ärzte, Möglichkeiten, als Ärzteteam zusammenzuwachsen, und eine insgesamt bessere Erfahrung für alle Beteiligten, mit weniger schwerwiegenden ethischen Dilemmata, sind die positive Folge. Mit der frühzeitigen Einbindung von Ärzten in die Planungsphase könnten die Prioritäten dieser Programme neu gesetzt und dabei die medizinischen Ziele stärker berücksichtigt werden. Durch die Neuausrichtung der Prioritäten können viele der in diesem Aufsatz besprochenen ethischen Probleme angegangen und die Ausnutzung der Medizin und eine unterdurchschnittliche medizinische Versorgung vermieden werden. Gleichzeitig kann damit auch das Ausmaß der Frustration der teilnehmenden Militärärzte im Einsatz verringert werden. 

Trotz des zunehmenden Literaturbestandes zum Thema Militärmedizinethik stellen die ethischen Probleme und moralischen Zwickmühlen in Einsätzen zur medizinischen Versorgung von Zivilisten nach wie vor ein vernachlässigtes Studienfeld dar. Die negativen moralischen Erfahrungen und ethischen Dilemmata der Beteiligten bleiben weiterhin oft ungehört, während sich die Reichweite der beschriebenen Missionen erweitert und diese verstärkt militärmedizinische Einsätze beinhalten, ohne dass es zu einer Änderung in Struktur oder Leitbild käme. Darüber hinaus wurde aus den Berichten der Militärärzte kaum je eine Lehre gezogen.

Es ist bemerkenswert, dass Diskussionen, Leitbilder und Schulungen zum Thema der medizinischen Versorgung von Zivilisten fehlen. Der Mangel an Reflexion, Bildung und einer echten Debatte trägt zur weiteren Verunsicherung in ethischen Fragen bei. Militärärzte sind auf die beschriebene Instrumentalisierung der Medizin nur schlecht vorbereitet und nicht in dem heiklen Balanceakt zwischen ihrer Rolle als Arzt und ihrer Rolle als Soldat geübt. Deshalb müssen Militärärzte und Ethiker einen Beitrag zur Entwicklung eines Leitbilds und zur Erstellung von Schulungsunterlagen leisten. Schließlich fehlen der betreffenden Gruppe auch Trainingsprogramme, in denen sie lernen können, mit ihrer komplexen Rolle umzugehen.

Im Zusammenhang mit den hier besprochenen Programmen und Einsätzen kommen viele moralisch und ethisch komplexe Situationen zum Tragen. Militärärzte sollen als Vertreter einer Doktrin agieren, deren Ziele sich nicht in erster Linie an medizinischer Versorgung orientieren. Inadäquate medizinische Hilfe, die strategischen Zielen untergeordnet ist, sorgt häufig für ethische Dilemmata. Dies stellt grundlegende Überzeugungen der medizinischen Berufsethik vor große Herausforderungen.

Die Frustration, wieder einmal nur Vitamine, Aspirin und Ibuprofen verteilt haben zu dürfen, zeigt sich deutlich in den Bewältigungsmechnismen, mit denen die Militärärzte versuchen, ihre Anspannung abzubauen. Dies wird zum Beispiel folgendermaßen ausgedrückt: „Das Einzige, was wir heute hier den Leuten mitgegeben haben, sind ein paar Magengeschwüre durch überdosiertes Ibuprofen.“ Die moralische Beunruhigung der Studienteilnehmer bezieht sich kaum auf den Einsatz der Medizin als strategisches Instrument oder „nichttödliche Waffe“. Vielmehr wehren die Ärzte sich dagegen, dass strategische Gesichtspunkte über alle anderen Erwägungen gestellt werden und damit die Medizin ausgenutzt wird. Hier ist ein Ausgleich erforderlich. Deutlich wird diese Realität an dem Umstand, dass die Ärzte ihre Erfahrungen bei solchen Einsätzen immer dann als lohnenswert, positiv und unproblematisch sehen, wenn medizinische Ziele in den Mittelpunkt gestellt werden und medizinischer Nutzen erreicht wird. Geraten die Militärärzte jedoch in eine moralische Zwickmühle, weil sie eine medizinische Versorgung leisten sollen, die ihrer Meinung nach grob unzureichend ist, fühlen sie sich oftmals zwischen ihren Rollen hin- und her gerissen. 

Nur selten befassen sich die Streitkräfte gegenwärtig mit diesen Fragen, und nur eine Armee beginnt zurzeit, ihren medizinischen Fachkräften entsprechende Schulungen und Möglichkeiten zur moralischen Reflexion über die Problematik von Winning Hearts and Minds-Einsätzen zu bieten. Dabei sind die Analyse und Diskussion der moralischen Komplexität dieser Programme unabdingbar. Mehr Trainings, Fortbildungen und Leitlinien sind hierzu erforderlich. Im Idealfall sollten diese Trainings und Fortbildungen sowohl von militärmedizinischen Fachkräften als auch von ihren medizinisch nicht geschulten Befehlshabern besucht werden, damit ethische Spannungen abgebaut und medizinische Hilfe angemessen eingesetzt werden kann, ohne missbraucht zu werden.

Eagan Chamberlin, S. (2014): The Warrior in a White Coat: Moral Dilemmas, the Physician-Soldier & the Problem of Dual Loyalty, Medical Corps International Forum Band 4, S. 4–7; Eagan Chamberlin, S. (2013): 1 The Complicated Life of a Physician-soldier: medical readiness training exercises & the problem of dual-loyalties, Journal of Biomedical Sciences and Engineering 6, S. 8–18; Eagan Chamberlin, S. (2013): Using Medicine to ‘Win Hearts and Minds’ – Medical Civilian Assistance Programs, Propaganda & Psychological Operations in the U.S. Military, Lisboa, [http://hdl.handle.net/10362/10758, abgerufen am 21. Mai 2015].

2 Gilbert, D. & Greenberg, J. (1967): Vietnam: Preventive Medicine Orientation, Military Medicine 132, S. 769–790.

3 Wilensky, R. (2004): Military Medicine to Win Hearts and Minds: Aid to Civilians in the Vietnam War, Lubbock/TX.

4 Veatch, R. (1977): Soldier, Physician and Moral Man, in: Case Studies in Medical Ethics, Cambridge.

5 Driftmeyer, J. & Llewellyn C. (2002): Humanitarian Service: Recruitment & Retention Effects among Uniformed Services Medical Personnel, in: Measures of Effectiveness (Bethesda, MD: Center for Disaster and Humanitarian Assistance Medicine).

Zusammenfassung

Dr. Sheena M. Eagan Chamberlin

Dr. Sheena M. Eagan Chamberlin promovierte am Institut für Medizinische Geisteswissenschaften der Medizinischen Fakultät der University of Texas. Zuvor schloss sie den Masterstudiengang Öffentliches Gesundheitswesen (Master of Public Health) an der Uniformed Services University ab. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit umfasst die Themen militärmedizinische Ethik, Medizinphilosophie, Ethik des öffentlichen Gesundheitswesens, Medizingeschichte und die medizinische Geisteswissenschaften. Auf Konferenzen in Nordamerika, Europa und Asien hält sie wissenschaftliche Fachvorträge über Medizinethik, Militärmedizin und Militärgeschichte. Gegenwärtig ist Chamberlin Lehrbeauftragte der Philosophischen Fakultät der University of Maryland und unterrichtet Soldaten im aktiven Dienst und deren Angehörige in Ethikfragen.

sechamberlin@icloud.com


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Hilfe für Verwundete – eine zentrale Pflicht der Menschlichkeit
Paul Bouvier
Medizin als Waffe – die Ethik von Winning Hearts and Minds-Einsätzen
Sheena M. Eagan Chamberlin
Militärärzte und Sanitäter im Konflikt mit dem Kriegsvölkerrecht
Cord von Einem
Kameraden zuerst? Militärische vor medizinischer Notwendigkeit
Michael Gross
Ethische Spannungen in Einsätzen – Erfahrungen von kanadischen Militärärzten
Ethics in Military Medicine Research Group (EMMRG)
Es geht noch besser! Medizin und die Debatte um Human Enhancement bei Soldaten
Bernhard Koch
Von Rollenkonflikten und Verpflichtungen – Militärärzte sind Ärzte
Daniel Messelken
Respekt und Distanz – Ärzte ohne Grenzen und das Militär
Ulrike von Pilar, Birthe Redepenning

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