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Ethische Spannungen in Einsätzen – Erfahrungen von kanadischen Militärärzten

Bei internationalen Einsätzen finden militärische, humanitäre und entwicklungstechnische Missionen oft parallel statt. Deshalb kommt es häufig zu einer Überschneidung und manchmal auch zu einer Kollision der Rollen, die das militärmedizinische Fachpersonal (Ärzte, Krankenschwestern, medizinische Assistenten und verwandte Berufsgruppen) zu erfüllen hat. So kann es vorkommen, dass militärmedizinische Fachkräfte gleichzeitig oder zeitversetzt als Ärzte, Soldaten und Entwicklungshelfer fungieren müssen. Dies kann zu komplexen ethischen Konflikten führen, die weit über die in der Medizinethik üblicherweise genannten Fälle hinausgehen. In solchen Situationen mögen die Grundsätze der Medizinethik zwar gelten, erfahren jedoch je nach den jeweiligen internen und externen Einflüssen und Wahrnehmungen der verschiedenen Akteure eine unterschiedliche Gewichtung. So kommen die Aspekte Triage und angemessene Zuteilung der Ressourcen, Behandlungs- und Pflegestandards, Einwilligung nach Aufklärung der Patienten, Patientenautonomie und der Schutz und die Förderung der Menschenrechte je nach Situation unterschiedlich stark zum Tragen. Noch deutlicher zutage treten diese Fragen bei bewaffneten Konflikten, in denen das militärmedizinische Fachpersonal sowohl die Interessen der Patienten als auch der Soldaten zu berücksichtigen hat. Oft stehen die Mediziner unter dem Druck, an medizinischen Hilfsaktionen teilnehmen zu müssen, um das Vertrauen der Bevölkerung vor Ort zu gewinnen, oder sie fühlen sich genötigt, Soldaten auch in zweifelhaften Fällen für kampftauglich zu erklären, die Privatsphäre der Patienten zugunsten militärischer Zwecke zu übergehen oder Soldaten, Kämpfer und Zivilisten gegen deren Willen zu behandeln. Arbeiten die Streitkräfte mehrerer Nationen mit ihren jeweiligen Verhaltensregeln und Verfahren bei Einsätzen zusammen und greifen dabei auf eine gemeinsame medizinische Infrastruktur zurück, erhöht sich automatisch die Eintrittswahrscheinlichkeit ethischer Dilemmata. Entsprechend stellt sich die Frage nach der moralischen Verant wortung militärmedizinischer Fachkräfte in bewaffneten Konflikten: Welcher Institution oder welchem Beruf sind sie vorrangig zur Loyalität verpflichtet? Welchem Berufsethos sollten sie folgen? Wie sollten sie sich verhalten, wenn sie mehrere, einander teilweise entgegenstehende moralische Verpflichtungen zu beachten haben?

Das alles sind keine leichten Fragen. Die Literatur zur Bioethik – insbesondere die zur Militärmedizinethik – bietet einen hilfreichen Ausgangspunkt, weist allerdings hinsichtlich der jeweiligen Rollen und Verantwortlichkeiten des militärmedizinischen Fachpersonals sehr unterschiedliche, teilweise auch polarisierende Ansätze auf. Zudem handelt es sich häufig um konzeptuelle Analysen, die sich nur in geringem Umfang auf empirische Untersuchungen stützen. 2010 starteten wir – die Ethics in Military Medicine Research Group (EMMRG, www.emmrg.ca) – deshalb mithilfe des Büros des Generalarztes der kanadischen Streitkräfte ein empirisches Bioethikprojekt, um die ethischen Spannungen und Dilemmata militärmedizinischer Fachkräfte zu untersuchen, die bei internationalen Missionen eingesetzt werden. Ziel der EMMRG ist die Erarbeitung ethischer Instrumente bzw. Leitlinien, um militärmedizinische Fachkräfte durch den Ausbau ihrer ethischen Kompetenzen und die Stärkung ihres Selbstvertrauens besser für die ethischen Spannungen im Berufsalltag zu wappnen und so auch die Versorgung ihrer Patienten zu verbessern. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die Ergebnisse unserer Studie1.

Erkenntnisse der medizinethischen Literatur

Die Literatur zur Militärmedizin befasst sich häufig mit den politischen und gesellschaftlichen Rollen medizinischer Fachkräfte sowie mit deren Rollen gegenüber ihren Patienten. Wir gruppieren die bestehenden Ansätze zu den Rollen militärmedizinischer Fachkräfte in der Literatur in drei (sich nicht gegenseitig ausschließende) Kategorien: 1) Primat der klassischen bioethischen Grundsätze, 2) Befolgung des Berufsethos und 3) Konflikte, die sich aus dualen bzw. eine Doppelrolle beinhaltenden Tätigkeiten und Loyalitäten ergeben.

1. Das Primat der klassischen bioethischen Grundsätze
Nach diesem Ansatz sollte sich militärmedizinisches Fachpersonal in jeder Situation und zu jedem Zeitpunkt als medizinisches Fachpersonal begreifen und die Bedürfnisse der Patienten, wie von der Medizinethik gefordert, als oberste Priorität behandeln. Einige Autoren halten die Tätigkeit des Arztes bei den Streitkräften grundsätzlich für unethisch, während andere Verfasser für die Rückkehr zu einem pazifistisch ausgerichteten medizinischen Berufsverständnis plädieren. Ein Dilemma entsteht, wenn medizinische Fachkräfte sich angesichts vermeintlicher militärisch operativer Anforderungen verpflichtet fühlen, die Interessen der Patienten zurückzustellen, oder wenn sie die in ihren Augen angemessene Behandlung nicht anbieten können. Militärische Grundsätze, die auf die Wahrung von Kampfkraft und Gehorsam ausgerichtet sind, kollidieren hier also mit medizinethischen Prinzipien wie der Achtung der Patientenautonomie und der Schadensvermeidung. Es besteht demnach ein Spannungsverhältnis zwischen militärischen und medizinischen Kontexten, wobei tendenziell davon ausgegangen wird, dass die Hauptursache für das Auftreten ethischer Konflikte genau in diesem Gegensatz liegt.

2. Divergente ethische Normen
Andere Autoren wiederum vertreten die Auffassung, die traditionellen Grundsätze der Bioethik seien nur schwer auf militärische Missionen anzuwenden, da hier auch die Interessen der Allgemeinheit auf dem Spiel stünden, insbesondere die nationale Sicherheit. Die Medizinethik, so wird argumentiert, könne in Kriegszeiten nicht die gleiche wie in Friedenszeiten sein. Schließlich müsse die Ethik im Kriegsfall oder bei Gefahr für die öffentliche Gesundheit auf besondere Weise angewandt werden, da sie dem Allgemeinwohl verpflichtet sei. Die Gesundheitsversorgung in der Praxis – mit den eingesetzten Technologien, den jeweils verfügbaren Ressourcen und der Bandbreite verschiedener Patiententypen – wird ebenfalls zunehmend komplexer. In bewaffneten Konflikten stehen militärmedizinische Fachkräfte immer wieder in der Pflicht, diametral entgegengesetzte Prioritäten gegeneinander abzuwägen – z. B. die Einsatzbereitschaft der Truppen bzw. die nationale Sicherheit gegen die Medizinethik. Gleichwohl gilt laut dem Weltärztebund (WMA):

„Die Medizinethik im bewaffneten Konflikt ist identisch mit der Medizinethik in Friedenszeiten [...] Wenn Ärzte bei der Ausübung ihres Berufs in einen Loyalitätskonflikt geraten, gilt ihre erste Pflicht ihren Patienten; bei sämtlichen beruflichen Tätigkeiten sind Ärzte an die internationalen Menschenrechtskonventionen, das humanitäre Völkerrecht und die Deklarationen des Weltärztebunds zur Medizinethik gebunden“.2

Wenn es auch um das Interesse der Allgemeinheit geht, bewegen sich medizinische Fachkräfte oft im Spannungsfeld widersprüchlicher Anweisungen und Normen, nämlich derer ihres Arbeitgebers (die Streitkräfte) einerseits und derer ihres Berufsstandes (Arzt, Krankenpfleger usw.) andererseits.

3. Doppelte Loyalität im Beruf – ein Widerspruch?
Einige Autoren leiten die ethischen Herausforderungen der Militärmedizin aus dem Umstand ab, dass sie zwei verschiedene Berufe mit ihren ganz eigenen Verhaltenskodizes und Rollen zusammenführe, welche jedoch nicht immer (bzw. teilweise überhaupt nicht) miteinander vereinbar seien. Der Widerspruch zwischen den Wertvorstellungen des Berufs und der Ethik schaffe das komplexe Spannungsverhältnis der „doppelten Loyalität“ oder „Doppelrolle“.Allerdings umfasst das Konzept der doppelten Loyalität eine Reihe verschiedener Begriffe, die einer weiteren Definition bedürfen, wie z.B. Beruf, Berufsverständnis, Werte, Rolle, Konflikt, Interessenskonflikt, gesellschaftliche/politische Verantwortung und die Rolle der Menschenrechte in Gesundheitsfragen. Wie und zu welcher ihrer beruflichen Rollen sollen sich medizinische Fachkräfte bekennen, wenn sie (entweder gleichzeitig oder zeitversetzt) als Ärzte, Soldaten oder Entwicklungshelfer angefordert werden? Und muss diese Situation unweigerlich eine Entscheidung für das eine oder das andere bedeuten, oder kann eine militärische Fachkraft gleichzeitig auch medizinische Fachkraft sein?

Zusammenfassung
Leider beschränkt sich die bestehende Literatur in vielen Fällen darauf, die zentralen Akteure dieser ethischen Konflikte (z. B. militärmedizinisches Fachpersonal, Kämpfer, Nichtkombattanten, Regierungen) isoliert zu betrachten. Dabei werden weder die dynamischen Wechselbeziehungen noch die kontextabhängigen Faktoren ausreichend thematisiert, welche das Erleben der ethischen Dilemmata und Spannungen entscheidend prägen. Spannungsfälle werden oft isoliert und nicht in ihrer Vielschichtigkeit behandelt. Dementsprechend wird die Arzt-Patient-Beziehung auch in nahezu allen Fällen als Gegensatz zur Rolle medizinischer Fachkräfte in anderen Zusammenhängen (z.B. im Rahmen der Streitkräfte, in Staat und Gesellschaft) gesehen. Häufig kommt es zu stereotypen Urteilen über Ärzte und andere Gesundheitsberufe (Idealisierung) oder über die Streitkräfte (utilitaristischer Ansatz, Überidentifizierung mit den Kämpfern, Autoritarismus). In der wissenschaftlichen Debatte geht es vor allem um die verschiedenen ethischen Pflichten und die Verantwortung der medizinischen Fachkräfte, aber die Grenzen dieser Verantwortung werden nur selten deutlich aufgezeigt. Ethische Spannungen werden angeführt, um eine bestimmte Meinung zu untermauern und dabei a) den Druck militärischer Prioritäten herauszustellen, der auf medizinischen Fachkräften lastet; b) die Unvereinbarkeit von Regeln, ethischen Kodizes und humanitärem Recht mit der Realität militärischer Missionen hervorzuheben; oder c) Richtlinien und Ideologien (Menschenrechte) vorzustellen, die die Teilnahme medizinischer Fachkräfte an bewaffneten Konflikten rechtfertigen oder ablehnen.3 Schließlich stützt sich die theoretische Analyse häufig auf berichtete Sachverhalte und Einzelberichte (z.B. Teilnahme eines Arztes an einem Verhör) oder auf eine konzeptionelle Analyse der Problemstellungen (z.B. Triage). Nur in seltenen Fällen schreiben Militärärzte Fachartikel, Bücher oder Blogs, um ihre Ansichten und Erfahrungen zu beschreiben. Bisher nur in sehr wenigen Studien wurden militärmedizinische Fachkräfte zu den ethischen Dilemmata oder Konflikten befragt, die sie im militärischen Kontext erleben. Allerdings liegen einige vergleichbare Studien zu medizinischen Fachkräften in humanitären Einsätzen vor, die aufschlussreiche Einblicke gewähren.4

Erkenntnisse der empirischen Untersuchung

Um die Natur ethischer Spannungen und Dilemmata im Kontext der Militärmedizin und die Mittel zu ihrer Bewältigung besser verstehen zu können, befragten wir 50 medizinische Fachkräfte der kanadischen Streitkräfte zu ihrem Einsatz in bewaffneten Konflikten, Naturkatastrophen oder Friedensmissionen. Zu den Studienteilnehmern gehörten Ärzte, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Rettungssanitäter und ein Assistenzarzt. Die meisten von ihnen sind Offiziere und blicken auf Einsätze in Afghanistan, Bosnien, den Golanhöhen, Haiti und Sri Lanka zurück. Bei unserer Analyse stellten wir schon zu einem frühen Zeitpunkt fest, dass die Ursachen ethischer Herausforderungen grob in die vier Hauptkategorien eingeordnet werden konnten, die Schwartz et al.5 in ihrer Untersuchung der ethischen Herausforderungen für das Gesundheitspersonal in humanitären Einsätzen vornehmen: 1) Ressourcenknappheit, 2) historische, kulturelle oder gesellschaftliche Strukturen, 3) Richtlinien und Programme und 4) berufliche Rollen. Erfolgen Einsätze in Konfliktregionen oder im Rahmen multinationaler Streitkräfte mit unterschiedlicher Einsatzdauer (Wochen oder Monate), stellen sich diese Herausforderungen umso komplexer dar.

Ursache 1: Ressourcenknappheit
Die Befragten sprechen häufig Probleme im Zusammenhang mit knappen Ressourcen an, sowohl im Hinblick auf die medizinische Ausrüstung als auch auf das Personal. So fällt es vielen Ärzten und Krankenschwestern, die normalerweise in Kanada tätig sind, schwer zu akzeptieren, dass sie am Einsatzort nicht das gleiche Maß an Pflege bieten können wie „zu Hause“. Zudem berichten die Studienteilnehmer von Interessenskonflikten bei der bestmöglichen Zuweisung vorhandener Ressourcen. So geraten Rettungssanitäter auf Patrouille ebenso wie Ärzte in temporären Feldlagern in einen ethischen Zwiespalt, wenn sie einheimischen Patienten (Zivilisten, Polizisten, Militärangehörige) eine Behandlung nur begrenzt oder gar nicht anbieten können, da sie Ressourcen für Patienten der kanadischen oder alliierten Streitkräfte (in diesem Falle der NATO) zurückhalten müssen. Andere berichten von „problematischen“ heldenhaften Behandlungen, die ihre Kollegen an einheimischen Patienten vornahmen, sowie von medizinischen Eingriffen an Soldaten, die sie als unnötig oder auch aussichtslos einstuften.

Ursache 2: historische, kulturelle oder gesellschaftliche Strukturen
Unterschiede hinsichtlich der kulturellen oder religiösen Überzeugungen werden oft als Auslöser erheblicher ethischer Konflikte in der Gesundheitsversorgung genannt. Insbesondere religiös bestimmte Haltungen zur körperlichen Unversehrtheit (z.B. Amputationen oder lebensverlängernde Maßnahmen) lösen bei vielen militärmedizinischen Fachkräften Besorgnis und Unbehagen aus. Auch das Thema Geschlecht zeigt sich in drei typischen Situationen: Erstens bei weiblichen Angehörigen des Militärs, die in extrem patriarchalisch geprägten Kontexten ihre berufliche Autorität infrage gestellt sehen; zweitens in der Behandlung weiblicher Patienten, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind; und schließlich in der fehlenden Selbstbestimmung einheimischer weiblicher Patienten. Zudem bringen viele Studienteilnehmer ihre Frustration, teilweise auch ihre innere Not, angesichts der instabilen Gesundheitsversorgung am Einsatzort und des ungleichen Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen für Kanadier und Einheimische zum Ausdruck. Als besonders belastend erleben die Befragten die Erkenntnis, dass eine Überweisung der Patienten an das Gesundheitssystem vor Ort angesichts ungenügender Ausbildung, fehlender Fachkräfte und Ressourcen sowie mangelhafter Infrastruktur den sicheren Tod der Patienten bedeute.

Ursache 3: Richtlinien
International geltende Gesetze und Konventionen geben medizinischen Fachkräften eine eher grobe ethische Orientierung. Aufgrund ihres Praxisbezugs und der klaren Entscheidungsgrundlagen nennen die Befragten die Medical Rules of Eligibility (MROE, medizinische Auswahlkriterien) als wichtigste Vorgabe. In Afghanistan z. B. schreibt die MROE-Richtlinie die vorrangige Behandlung von Soldaten und Häftlingen vor (wenn auch mit einer Binnendifferenzierung hinsichtlich eigener und fremder Streitkräfte) sowie die Beschränkung medizinischer Eingriffe auf die Wahrung von „Leben, Leib und Augenlicht“.Trotz der klaren Vorgabe durch die MROE-Richtlinie entstehen Spannungen, vor allem in Situationen, in denen medizinische Fachkräfte zu entscheiden haben, ob Opfer von Kollateralschäden, kranke oder verletzte Zivilisten ebenfalls behandelt werden sollen. Zudem ändert sich die Anwendung der MROE-Richtlinie teilweise je nach diensthabendem Arzt (etwa bei der Entlassung der Patienten), sodass die Befragten das Prinzip der „ethischen Gesundheitsversorgung“ in der Umsetzung als teilweise widersprüchlich erleben. Verschärft wird dies noch in Fällen, in denen die Gesundheitsversorgung instrumentalisiert wird (z.B. im Rahmen vertrauensbildender Maßnahmen). Manche Studienteilnehmer beschreiben Frustration und Sorge im Zusammenhang mit Patienten, denen keine kontinuierliche Behandlung angeboten werden kann. Ebenfalls häufig sprechen die Befragten die Problematik (und innere Not) bei der Behandlung von Kindern an, denn die Pädiatrie ist kein Bestandteil der regulären militärmedizinischen Versorgung und fällt nicht unter die MROE-Richtlinie.

Ursache 4: berufliche Rollen
Aufgrund der Vermischung internationaler Einsatzkräfte mit medizinischem Fachpersonal sowie der Spannungen zwischen den verschiedenen Rollen medizinischer Fachkräfte ergeben sich entscheidende Unterschiede bei den Erwartungen und berufsbezogenen Normen hinsichtlich der Behandlung verschiedener Patientengruppen (z.B. Kämpfer und Nichtkombattanten). Zu Spannungen kommt es insbesondere bei den US-Streitkräften, da die eigenen medizinischen Fachkräfte auch in Verhöre eingebunden sind. Interessanterweise – und entgegen der Aufmerksamkeit, die dieses Thema in der Literatur erfährt – führen nur wenige unserer Teilnehmer an, Probleme mit der doppelten Loyalitätspflicht zu haben oder sich nicht als Teil der kanadischen Streitkräfte zu verstehen. So machen einige Befragte deutlich, dass sie sich zwar in erster Linie als medizinische Fachkräfte verstünden, aber auch akzeptierten, dass sie diese Aufgabe für eine militärische Institution erfüllten. Weitere Teilnehmer betrachten ihre Doppelrolle als medizinische Fachkraft und Angehöriger der Streitkräfte von vornherein gar nicht erst als problematisch, da sie beide Rollen als wesentliche Bestandteile ihrer beruflichen Identität verstehen.

Fazit

Unsere Untersuchungsergebnisse veranschaulichen die Komplexität ethischer Fragestellungen im Zusammenhang mit internationalen Einsätzen militärmedizinischer Fachkräfte sowohl im Kriegsfall als auch bei Katastrophen und in Friedensmissionen. Sie zeigen, auf welche Weise diese Fragen durch das berufliche Rollenverständnis der medizinischen Fachkräfte einerseits und durch die Streitkräfte als Institution andererseits geprägt werden. Medizinische Fachkräfte werden in ihren Einsätzen mit komplexen ethischen Problemstellungen konfrontiert, auf die sie sich nicht immer gut vorbereitet fühlen. Auch wenn sich diese ethischen Fragen bzw. Dilemmata vom Thema der psychischen Gesundheit unterscheiden: Sie können – in Extremfällen und wenn sie nicht effektiv gelöst werden – zu Gewissensnot führen und zur Folge haben, dass medizinische Fachkräfte die Teilnahme an Einsätzen verweigern, posttraumatische Belastungsstörungen oder hiermit assoziierte Symptome entwickeln, aus den Streitkräften ausscheiden oder – schlimmer noch – sich selbst oder anderen Schaden zufügen. Dies wiederum wirkt sich auf die Kommandokette, das Team und die militärische Organisation in ihrer Gesamtheit aus (z. B. auf die Quote des Verbleibs der Fachkräfte in den Streitkräften).

Beim Vergleich der Literatur zur Bioethik (hier insbesondere der Veröffentlichungen zur Militärmedizinethik) mit den Erfahrungen unserer Studienteilnehmer von den kanadischen Streitkräften stellen wir in einigen Bereichen eine Divergenz hinsichtlichder der „wahren“ ethischen Probleme der Mediziner in der Praxis fest. So gibt das Thema der doppelten Loyalität, das in der Literatur so viel Beachtung findet, keinen Anlass zur Sorge. Stattdessen zeigen sich komplexe Herausforderungen bei Themen, die auch in der öffentlichen Gesundheitsversorgung und speziell bei humanitären Missionen eine zentrale Rolle spielen: dem Umgang mit Ressourcenknappheit und ungleichem Zugang, der Unmöglichkeit der kontinuierlichen Versorgung und der unausweichlichen Erkenntnis, dass die im Heimatland angebotenen Gesundheitsleistungen bei internationalen Einsätzen häufig nicht erbracht werden können. Die medizinischen Fachkräfte der kanadischen Streitkräfte durchlaufen zwar das gleiche Ethik-Training wie andere Teilstreitkräfte. Schulungen zur Militärmedizinethik beschreiben die Studienteilnehmer jedoch als uneinheitliche Ad-hoc-Maßnahmen. Wie ein Befragter anmerkt, „übernehmen es [die medizinischen Fachkräfte] selbst, sich in irgendeiner Form in Medizinethik weiterzubilden, wenn es jemanden im Team gibt, der dies für nötig erachtet“, aber „ein Großteil der Ethik in der Gesundheitsversorgung beruht auf dem, was man in ... der Schule gelernt hat, und das ist wenig – im besten Falle“. Dass diese Auseinandersetzung überhaupt geführt wird – häufig auf Initiative von Einzelpersonen, die bereits entsprechende Erfahrungen bei ihren Einsätzen gesammelt haben –, zeigt die Notwendigkeit und den Wert spezialisierter Ethikschulungen für militärmedizinische Fachkräfte.

Da militärmedizinische Fachkräfte in sehr unterschiedlichen Umgebungen arbeiten (z.B. in Konfliktregionen oder bei Naturkatastrophen), müssen Ethikschulungen bei dieser vielschichtigen Realität ansetzen. Entsprechend ausgerichtete Fallstudien wären ein geeignetes Unterrichtsmittel, das vor Einsätzen und im Anschluss bei Weiterbildungen eingesetzt werden könnte. Zudem zeigt sich in unseren Interviews immer wieder die Bedeutung formeller und informeller (d.h. unabhängig von der militärischen Rangordnung stattfindender) Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch im Team.Auf diese Weise können vor und während der Einsätze die ethischen Herausforderungen in der Praxis besprochen und nach besonders schwierigen Situationen ausgewertet werden.Darauf aufbauend könnten Mechanismen erarbeitet werden, die den Dialog als zentralen Bestandteil von Ethikschulungen verankern (Gruppendiskussionen) und die als Grundlage für die Problemlösung und Entscheidungsfindung im Einsatz dienen können.

Unsere Studie bestätigt unsere Ausgangshypothese – so einseitig diese innerhalb einer Gruppe von Bioethikern ausfallen mag: Militärmedizinische Fachkräfte können von kontext- und berufsspezifischen Ethikschulungen profitieren. Im nächsten Arbeitsschritt suchen wir nach Möglichkeiten zur weiteren Zusammenarbeit mit den kanadischen Streitkräften (und den Streitkräften weiterer Nationen), um innovative Instrumente für Ethikschulungen aufzuzeigen (z.B. Unterricht mit verschiedenen Methoden, Mobil- und Online-Formate), die inhaltlich und formal speziell auf die Bedürfnisse militärmedizinischer Fachkräfte zugeschnitten sind. Dabei lautet das erklärte Ziel, militärmedizinische Fachkräfte mit entsprechenden Instrumenten so in Ethik zu schulen, dass sie die erforderlichen ethischen Kompetenzen entwickeln, um ihre verschiedenen (und potenziell widersprüchlichen) beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Rollen wahrzunehmen und gleichzeitig den ethischen Herausforderungen ihrer Einsätze wirksam zu begegnen.

Die in diesem Aufsatz vorgestellte Studie wurde mit Mitteln des Ethics Office of the Canadian Institutes of Health Research (CIHR), #EOG-107578, sowie der University of Montreal und der McMaster University unterstützt. Wir danken den befragten Angehörigen der kanadischen Streitkräfte für ihre Teilnahme sowie dem Büro des Generalarztes für die gewährte Unterstützung. Die hier dargelegten Schlussfolgerungen wurden von den Autoren gezogen und geben nicht unbedingt die Meinung der kanadischen Streitkräfte oder der kanadischen Regierung wieder.

1 World Medical Association (2004/1956): WMA Regulations in Times of Armed Conflict and Other Situations of Violence, verfügbar unter: www.wma.net/en/30publications/10policies/a20/ (abgerufen am 28. Mai 2015).

2 Rochon, C. (2015): La bioéthique et les conflits armés : la réflexion éthique des médecins militaires [PhD], Université de Montréal.

3 Hunt, M. (2009): Moral experience of canadian health care professionals in humanitarian work, Prehospital Disaster Med. 24(6), S. 518-24. 

4 Schwartz, L.; Sinding, C.; Hunt, M.; Elit, L.; Redwood-Campbell, L.; Adelson, N. et al. (2010): Ethics in humanitarian aid work: Learning from the narratives of humanitarian health workers. AJOB Prim Res 1(3), S. 45-54. 

Zusammenfassung

Die Forschungsgruppe Ethics in Military Medicine Research Group (EMMRG) betreibt empirische bioethische Studien zu Fragen der Ethik im militärischen Umfeld. Ziel der Forschung ist es, Ethikleitlinien zur praktischen Anwendung in der Ausbildung des militärmedizinischen Personals und Unterstützung der bei internationalen Missionen eingesetzten Sanitäter zu entwickeln. Das Bioethik-Forschungsteam setzt sich aus Wissenschaftlern der University of Montreal (Dr. Bryn Williams-Jones, Christiane Rochon, Ali Okhowat), der McMaster University (Dr. Lisa Schwartz, Sonya de Laat, Jill Horning) und der McGill University (Dr. Matthew Hunt) zusammen.


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