Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Healthcare in Danger – wie aus Helfern Opfer werden
In den bewaffneten Konflikten der Gegenwart werden medizinische Fachkräfte und Einrichtungen nur allzu häufig zum Ziel gesteuerter Angriffe oder zu Opfern einer unterschiedslosen Kriegführung. Medizinethik und Unparteilichkeit hinsichtlich der Bedürfnisse der Patienten finden keine Anwendung, und das Rote Kreuz stellt kein Zeichen des Schutzes mehr dar. Diese Form der Gewalt wirkt sich direkt und unmittelbar auf die Kranken und Verwundeten aus. Noch dramatischer aber ist die Folgewirkung für die Bevölkerung und das Gesundheitswesen der jeweiligen Länder: Krankenhäuser werden zerstört oder geschlossen, medizinische Fachkräfte werden getötet oder fliehen und die Einrichtungen können ihre Aufgaben nicht wahrnehmen, weil es an grundlegender Ausstattung fehlt. Der Zugang zu elementaren Angeboten wie einer medizinischen Grundversorgung, Impfprogrammen, Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind und Unterstützung bei chronischen Krankheiten wird einfach vorenthalten. Wir stehen vor einem immensen Problem.
Vor 151 Jahren wurde das Erste Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde verabschiedet. Als wichtigste Grundsätze legte das Abkommen die Pflicht zur Hilfe für die Verwundeten, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, und die Neutralität (Unverletzlichkeit) der medizinischen Fachkräfte und medizinischen Einrichtungen fest. Zudem führte das Abkommen das Symbol des roten Kreuzes auf weißem Grund als Zeichen des Schutzes für medizinische Fachkräfte und medizinische Einrichtungen ein.
Seit ihrer Gründung spielen die nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes als Unterstützung für die militärmedizinischen Dienste eine zentrale Rolle und sind zusammen mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) bestrebt, den Opfern bewaffneter Konflikte und anderer Notsituationen Zugang zu medizinischer Versorgung zu bieten. Dennoch ist 151 Jahre nach Verabschiedung des Ersten Genfer Abkommens festzuhalten, dass die Verletzung der dort festgelegten Grundsätze ein akutes und doch häufig ignoriertes Problem darstellt.
Das IKRK zeigte sich bereits 2008 alarmiert durch die zunehmenden Schwierigkeiten bei der sicheren medizinischen Versorgung in Konfliktregionen und führte eine Erhebung und Auswertung von Daten aus 16 Ländern durch, die von Kriegen oder anderen Notsituationen betroffen waren. Diese länderübergreifende Studie kam zu dem Schluss, dass das Problem der Unsicherheit und Gewalt mit der entsprechenden Auswirkung auf die Gesundheitsversorgung nicht als einfache Summe einzelner Zwischenfälle betrachtet werden dürfe. Vielmehr handele es sich angesichts der Konsequenzen um ein komplexes humanitäres Problem, dessen Lösung nicht nur bei den medizinischen Fachkräften liege, sondern auch und vor allem eine Aufgabe von Recht und Politik sei – ein Dialog über humanitäre Fragen müsse gemeinsam mit allen Beteiligten zu abgestimmten Gegenmaßnahmen führen.
Die Ergebnisse der Untersuchung wurden auf der Internationalen Konferenz des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes im Jahr 2011 rund 3.700 Teilnehmern aus über 180 Unterzeichnerstaaten der Genfer Abkommen vorgestellt. Auf der Grundlage der Ergebnisse verabschiedete die Konferenz die Resolution 5 – Health Care in Danger und beauftragte das IKRK, mit Experten der Länder und dem Roten Halbmond sowie mit weiteren Akteuren im Gesundheitsbereich ins Gespräch zu kommen, um die medizinische Versorgung in bewaffneten Konflikten und anderen Notsituationen sicherer zu gestalten. Damit war das Projekt Health Care in Danger (Gesundheitsversorgung in Gefahr geboren, HCID) geboren.
Seitdem hat die Initiative zahlreiche Beteiligte zusammengebracht – Gesetzgeber, politische Entscheidungsträger, staatliches Gesundheitspersonal, Waffenträger, humanitäre Hilfsorganisationen, Vertreter der Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Es geht darum, konkrete und praktische Empfehlungen zu erarbeiten und im Ergebnis die Achtung und den Schutz für die medizinische Versorgung in Konflikten zu stärken.
Das Thema Gewalt gegen Gesundheitspersonal und Gesundheitseinrichtungen wurde in 12 Ländern in Form von Workshops sowie im Rahmen direkter Gespräche mit den oben genannten Akteuren aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dazu zählten die Gesetzgebung, die für die Streitkräfte des jeweiligen Landes etablierte Verfahrensweise, ethische Grundsätze in der Gesundheitsversorgung, die Rolle von Führungspersönlichkeiten der Zivilgesellschaft, die Sicherheit der Gesundheitseinrichtungen, Ambulanzen und Rettungswagen sowie die beobachteten Handlungsformen nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen. In der Folge wurde eine Reihe von Maßnahmen erarbeitet, um die Sicherheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung sowie deren Durchführung zu verbessern. In folgenden Situationen sind diese Maßnahmen für die militärische Einsatzpraxis von direkter Bedeutung: Durchführung von Suchoperationen und Verhaftungen in Gesundheitseinrichtungen, Besetzung von Checkpoints sowie Durchführung von Kampfhandlungen in der Nähe einer Gesundheitseinrichtung. Tatsächlich ergab die Datenerhebung des IKRK, dass Angehörige der Streitkräfte mit am stärksten für Gewalt gegen Gesundheitspersonal und -einrichtungen verantwortlich sind, insbesondere in den oben genannten Situationen.
Viele der in dem HCID-Projekt erarbeiteten Empfehlungen verstehen sich als präventive Maßnahmen. Sie sollen zum Beispiel sicherstellen, dass Gesundheitsdienste, Behörden und Gefechtsbeteiligte sich angemessen auf Situationen einstellen können, die infolge von Unsicherheit oder im Zusammenhang mit Gewalt gegen Gesundheitseinrichtungen entstehen. Zudem soll eine angemessene Vorbereitung auf bzw. Linderung der Auswirkungen bewaffneter Konflikte und sonstiger Notlagen sichergestellt werden.
Die präventive Natur der HCID-Empfehlungen wirkt sich unter anderem auf die folgenden Bereiche aus:
Militärische Leitbilder und Übungen1 tragen dazu bei, im Fall bewaffneter Konflikte und anderer Notlagen einen sicheren Zugang zu medizinischen Leistungen sowie deren sichere Durchführung zu gewährleisten.
Vorsorge in Gesundheitseinrichtungen. Mithilfe einer angemessenen Notfallplanung können die Folgen von Gewalt gegen Gesundheitseinrichtungen abgefedert oder möglicherweise sogar ganz vermieden werden.
Die Schulung der medizinischen Fachkräfte2 erfolgt nicht nur zu fachlichen Aspekten der medizinischen Versorgung, sondern insbesondere auch zu den Rechten und Pflichten sowie zu ethischen Problemen, die in bewaffneten Konflikten und anderen Notlagen typischerweise auftreten.
Schulung und Einbeziehung der jeweiligen nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes.
angemessene Koordinierung aller an der Notversorgung beteiligten Akteure. Dafür sind sowohl Pläne für eine entsprechende Koordinierung als auch szenariobasierte Trainings vor Einsatzbeginn erforderlich.
Erarbeitung von nationalen normativen Rahmenvorgaben3 für die Umsetzung internationaler Verpflichtungen zum Schutz der Gesundheitsversorgung in bewaffneten Konflikten und anderen Notlagen. Um die Wirksamkeit eines normativen Rahmens sicherzustellen, muss er bereits zu Friedenszeiten geschaffen werden.
Im Laufe der Jahre haben sich tragfähige Partnerschaften mit relevanten Akteuren entwickelt, zum Beispiel mit dem Weltärztebund, dem International Council of Nurses (einem Zusammenschluss nationaler Berufsverbände im Pflegebereich), dem International Council of Military Medicine (Internationaler Rat der Militärmedizin), der International Federation of Medical Students Association (Internationale Vereinigung medizinischer Studentenorganisationen) und der Weltgesundheitsorganisation. Nur wenn viele verschiedene Akteure an einem Strang ziehen und aktiv werden, können wir den weitreichenden Folgen von Gewalt gegen Gesundheitspersonal und Gesundheitseinrichtungen im humanitären Bereich wirksam begegnen.
Das Thema gewinnt auf globaler Ebene zunehmend an Fahrt. Inzwischen dürfen wir auf eine Reihe wichtiger Meilensteine verweisen. So wurde zum Beispiel im Dezember 2014 während der 69. Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution zu Außenpolitik und globaler Gesundheit zusammen mit drei weiteren Resolutionen verabschiedet. Die vier Resolutionen rufen die Staatengemeinschaft dazu auf, 1) die Gesundheitsversorgung zu schützen, 2) die Widerstandsfähigkeit der nationalen Gesundheitssysteme zu stärken und 3) geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Gewalt gegen Gesundheitspersonal und Gesundheitseinrichtungen einzudämmen und zu vermeiden. Damit wurde der Weg frei für ein stärkeres internationales Engagement zur sicheren medizinischen Versorgung im Konfliktfall.
Mit Blick in die Zukunft wird die im Dezember 2015 stattfindende Internationale Konferenz des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes ein nächster wichtiger Meilenstein sein. Bei dieser Gelegenheit werden die beteiligten Akteure erneut die Wichtigkeit dieses Themas unterstreichen, seine weitreichenden unmittelbaren und langfristigen Folgen im humanitären Bereich anerkennen sowie sich zur Umsetzung der im Rahmen des HCID-Projekts ausgesprochenen Empfehlungen verpflichten.
1 Vgl. auch HCID-Veröffentlichung: „Promoting military operational practice that ensures safe access to and delivery of health care“.
2 Vgl. auch HCID-Veröffentlichung: „Ambulance and pre-hospital services in risk situations“; „Health care in danger: The responsibilities of health-care personnel working in armed conflicts and other emergencies“.
3 Vgl. auch HCID-Veröffentlichung: „Domestic Normative frameworks for the Protection of Health Care“.
Babak Ali Naraghi
Babak Ali Naraghi ist seit November 2014 Leiter des „Health Care in Danger“-Projekts. Er hat zehnjährige Praxiserfahrung beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und war in verschiedenen Führungspositionen im Einsatz, unter anderem in Afghanistan, Guinea-Conakry, Sudan, Uganda und Sri Lanka. Seit 2000 ist er am Hauptsitz des IKRK in Genf tätig und war zuerst Stellvertreter und anschließend Head of Operations ad interim für Nord- und Westafrika. Er absolvierte einen Master in Politikwissenschaft.