Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Hilfe für Verwundete – eine zentrale Pflicht der Menschlichkeit
Ein grundlegendes, oft vernachlässigtes Problem
In Zeiten von Krieg und bewaffneten Konflikten sind alle Seiten verpflichtet, kampfunfähig gewordene Verwundete und Kranke sowohl bei den eigenen Truppen als auch in den gegnerischen Reihen ohne Unterschied zu retten und zu versorgen. Diese Verpflichtung ist ein zentraler Grundsatz des humanitären Völkerrechts.
Seit einigen Jahren schenken sowohl die Philosophie als auch die Rechts- und Politikwissenschaften dem Umgang mit Feinden beachtliche Aufmerksamkeit – insbesondere angesichts globaler Bedrohungen und des Terrorismus. Bislang galt das Interesse vor allem dem Folterverbot und der Suche nach Antworten auf den Terrorismus; die Versorgung kranker oder verwundeter Gegner blieb bislang weitgehend unbeachtet, so als handele es sich um eine eher zweitrangige Angelegenheit. Möglicherweise erscheint diese Aufgabe als so selbstverständlich und allgemein akzeptiert, dass sie keiner gesonderten Erwähnung bedürfte. Oder vielleicht hofft man, die Erfüllung dieser Pflicht ergäbe sich ganz von selbst durch das Verbot der Anwendung extremer Gewalt und Folter. Diese Annahmen greifen jedoch zu kurz. Die Pflicht, Kranke und Verwundete zu retten und zu versorgen, ist keinesfalls zweitrangig. Sie ist sogar zentraler Bestandteil des humanitären Völkerrechts. Zwar wurde dessen Geltung jüngst in verschiedenen Publikationen über medizinethische Fragen in Konflikten in Frage gestellt. Doch die unparteiische Versorgung verwundeter Gegner könnte durchaus ein wesentlicher Schritt zur Achtung der Menschenwürde und zur Verhinderung extremer Übergriffe und Gewalt sein.
In diesem kurzen Artikel1 werden einige ethische Aspekte dieser Verpflichtung erörtert. Ausgehend von der Pflicht, einer Person in Gefahr Hilfe zu leisten, befasst der Artikel sich mit der Versorgung verwundeter Kombattanten und Gegner und versucht, Antworten auf einige ethische Fragestellungen in diesem Zusammenhang zu geben.
Die Pflicht, einem Menschen in Gefahr zu helfen
Sind wir überhaupt moralisch verpflichtet, einem Menschen in Gefahr zu helfen? Oder ist die Hilfeleistung nur eine Nettigkeit, eine Geste für Menschen, die einfach gern anderen Menschen helfen? Für den Philosophen des chinesischen Altertums Mengzi (372 – 289 v. Chr.) oder für Rousseau in der europäischen Neuzeit war die Antwort klar: Einem Menschen in Gefahr Hilfe zu leisten, bedeutet schlicht und einfach, menschlich zu sein. Mit jemandem, der sich in einer Notlage befindet, Mitgefühl zu haben, erschien diesen Autoren als vollkommen natürliche und universell gültige Handlung, die gleichsam den Ursprung jeglicher Moral darstellte. Für Rousseau wie auch für Mengzi ist das Helfen die erste moralische Pflicht, aus der sich weitere Pflichten ableiten.
Andere Philosophen sahen dies jedoch auch als problematisch an. Erstens, weil diese Pflicht auf Mitgefühl und Emotionen basiert. Immanuel Kant (1785) war der Auffassung, dass die Moralphilosophie auf der Vernunft aufbauen müsse und aus der Pflicht ein universelles ethisches Gesetz erwachsen solle. Wenn jedoch die Ethik zu einer radikalen Pflicht wird, ist altruistisches Handeln unmöglich; es sei denn, es ließe sich verallgemeinern und würde zu einem universellen Gesetz.
Eine zweite Problematik besteht darin, dass sich der Hilfeleistende Gefahren, Mühen und Ausgaben aussetzt, die als über die Verpflichtung hinausgehend empfunden werden können. Dies ist auch die Position von Beauchamp und Childress in ihrer Schrift „Principles of biomedical ethics“ (Prinzipien der biomedizinischen Ethik, 1979), in der sie einen Ansatz entwickeln, der auf vier Grundprinzipien beruht: Selbstbestimmungsrecht, Patientenwohl, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit. Während sich ihr Hauptaugenmerk auf die Achtung der Selbstbestimmung des Patienten und des professionellen Helfers richtet, bleibt die Frage der Hilfeleistung für Menschen in Gefahr weitgehend unbeachtet. Nach Auffassung dieser Autoren ist ein Arzt nur dann moralisch verpflichtet, an einem Unfallort einzugreifen, „wenn das damit verbundene Risiko gering ist und sein Eingreifen nur eine geringe Auswirkung auf sein eigenes Leben hat“. „Ein Arzt ist nicht verpflichtet, ein ‚barmherziger Samariter’ zu sein, er braucht nur ein ‚angemessen guter Samariter‘ (‚Minimally Decent Samaritan‘) zu sein.“
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt der liberale Moralphilosoph Ruwen Ogien (2007), der einen abgestuften Begriff des „Samaritertums“ einführt. Dessen Grundlage ist die Höhe des Risikos, das für den Helfer besteht. Diese „Mindestethik“ erkennt nur eine eingeschränkte Verpflichtung zur Hilfeleistung an. Die Verpflichtung ist zunächst durch das für den Passanten oder den Rettungssanitäter bestehende Risiko und darüber hinaus auch durch die Aufforderung oder Meinung des Hilfebedürftigen selbst begrenzt. Man ist verpflichtet, Hilfe zu leisten, aber auch, die eigene Sicherheit und Gesundheit zu schützen sowie die Selbstbestimmung der gefährdeten Person zu achten und diese nicht gegen ihren Willen zu retten.
Vom Nutzen, Leben zu retten
Utilitaristische Ansätze weisen meist auf andere Problemstellungen hin. Die Rettung von Menschen in Gefahr ist kostspielig und kann begrenzte Ressourcen von anderen Aktivitäten abziehen, die einen größeren Nutzen hätten. McKee und Richardson (2003) definierten die Rule of Rescue (Rettungsregel) als den moralischen Imperativ, „den Menschen verspüren, eine identifizierbare Person vor einem vermeidbaren Tod zu retten“. Die Verfasser führen an, dass die Rettungshandlung im Widerspruch zur Kosten-Nutzen-Rechnung steht und unter Hinweis auf soziale Ungerechtigkeit und das öffentliche Wohl kritisiert werden kann. Die Rettung hat jedoch einen sozialen Wert: Sie ist die Antwort auf eine Reaktion des „Entsetzens und Schreckens“ und Ausdruck der Wertschätzung in einer Gesellschaft zu leben, die auf Beziehungen gegenseitiger Achtung beruht. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung sollte insofern das Bestreben, anderen Menschen in Gefahr Hilfe zu leisten, mit einbeziehen.
Peter Singer (1993) bringt den Aspekt der Nähe mit ein. Er erkennt die moralische Pflicht an, ein Kind zu retten, das vor unseren Augen zu ertrinken droht. Doch trügen wir eine genauso große Verantwortung, weiter entfernt befindlichen Menschen in Not zu helfen, z.B. durch einen Beitrag zu humanitärer Hilfe. Diese Situationen unterscheiden sich jedoch aufgrund der Beziehung zwischen dem Helfer und den potenziell zu rettenden Personen, so Scott James (2007). Im Fall eines ertrinkenden Kindes handelt es sich um einen bestimmten Menschen, der auf den Retter angewiesen ist und dessen Überleben einzig und allein von diesem Retter abhängt. In einer solchen Beziehung der „eindeutigen Abhängigkeit“ bestehe eine klare Pflicht zu handeln.
Kurz gesagt: Die Pflicht, einen Menschen in Gefahr zu retten, ist in den Kulturen, Traditionen, Gesellschaften und Religionen rund um den Erdball tief verwurzelt. Sie gilt a priori, ohne Einschränkung und ohne Unterschied. Gleichzeitig wird sie durch andere Überlegungen wie den Schutz der eigenen Sicherheit und des eigenen Lebens, die Achtung der Würde und Selbstbestimmung der gefährdeten Person, den bestmöglichen Einsatz begrenzter Ressourcen unter Berücksichtigung anderer Hilfebedürftiger sowie die Erfordernis wirksamen und kompetenten Handelns beeinflusst. In dieser Hinsicht sind Personen, die eine besondere Funktion oder Verantwortung innehaben oder über besondere Handlungsmittel verfügen, wie Rettungssanitäter, Ärzte oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, noch zwingender zum Handeln verpflichtet. Sie sind zusätzlich verantwortlich für den Erhalt ihrer beruflichen Kompetenzen und Fähigkeiten. Als Mensch bin ich somit verpflichtet, persönlich zu handeln, wenn ich mich in einer Situation befinde, in der die Würde oder das Leben eines anderen Menschen von meinem eigenen Handeln abhängt und ich die Möglichkeit habe zu handeln.
Die Versorgung verwundeter Kombattanten
Schon in der Antike waren bei den Streitkräften auch Ärzte tätig, doch ihre Rolle war zumeist nicht klar definiert, und alle Kräfte waren im Wesentlichen auf die Kampftätigkeit ausgerichtet. Verwundete Soldaten wurden auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, und einen verwundeten Soldaten hinter die Frontlinie zu transportieren, wurde als eine Flucht vor dem Feind betrachtet. Als Napoleons Militärchirurgen Larrey und Percy (um 1797) eine Art „fliegendes Lazarett“ erfanden, begannen Ärzte, auch mitten auf dem Gefechtsfeld Hilfe zu leisten. Entsprechend ihrem Verständnis medizinischer Ethik versorgten sie die Verwundeten ohne Unterschied, eigene Landsleute und Feinde gleichermaßen. Sie stellten die Regel der unparteiischen Sichtung (Triage) von Kriegsopfern auf und verteidigten zudem die Unabhängigkeit der medizinischen Versorgung. Die unparteiische und effektive Versorgung der Kombattanten brachte ihnen weithin Anerkennung und Bewunderung ein, sodass der Herzog von Wellington in Waterloo das Kanonenfeuer von den Ambulanzen weg lenkte, um Larrey Zeit zu geben, die Verwundeten zu bergen. Aufgrund ihres Einsatzes im Gefechtsfeld schufen diese beiden Ärzte die ethischen Grundlagen für die Militärmedizin und für humanitäre Hilfseinsätze in Kriegssituationen: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität (Unantastbarkeit) und funktionale Unabhängigkeit des medizinischen Personals sowie der medizinischen Versorgungseinrichtungen.
Nach der Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859 organisierte Henry Dunant die Hilfseinsätze für verwundete Soldaten. Er startete später einen dringenden Aufruf zur Gründung von Hilfsvereinigungen, die in Friedenszeiten organisiert werden sollten. Dies führte zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Jahr 1863 und zum ersten „Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten der Streitkräfte im Felde“ von 1864, das die Krieg führenden Armeen verpflichtete, allen verwundeten Kombattanten unparteiische Hilfe zu leisten. Krankenhäuser, Sanitätsfahrzeuge und das mit dem Transport und der Versorgung der Verwundeten betraute Personal sollten als neutral anerkannt, geschützt und respektiert werden. Seit über 150 Jahren ist somit die Rettung und Versorgung kampfunfähiger Verwundeter und Kranker eine vorrangige und im Humanitären Völkerrecht verankerte Verpflichtung.
Infragestellung der Versorgung verwundeter Kombattanten
Einige Autoren stellen diese Verpflichtung in Frage und bestreiten den Geltungsbereich bzw. die Anwendbarkeit dieser Verpflichtung. Es folgt ein kurzer Überblick über die Fragen, die Michel Gross in seinem Buch zur Bioethik im Krieg (2006) sowie in verschiedenen Artikeln aufwirft. Zunächst stellt Gross fest, es sei „Ziel der Militärmedizin, die Verwundeten zu retten, die in den Kampf zurückkehren können“. Diese Aussage führt ihn zur kritischen Erörterung einiger grundlegender ethischer und humanitärer Grundsätze. Zunächst zieht er die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber Kriegsveteranen und verwundeten Kombattanten in Zweifel. Schwer verwundete Soldaten hätten lediglich das Recht auf medizinische Versorgung, wie es jedem anderen Kranken oder Verletzten auch zukomme. Eine Militärorganisation müsse als medizinische Mindestversorgung für schwer verwundete Soldaten lediglich eine Palliativversorgung gewährleisten. Hinsichtlich der Unparteilichkeit schlägt er vor, dass besondere medizinische Anstrengungen und fachärztliche Versorgung nur denjenigen verwundeten Soldaten zugutekommen solle, die in den Kampf zurückkehren könnten. Schwer verwundete oder erkrankte Soldaten sollten eine qualitativ niedrigere medizinische Versorgung oder lediglich eine palliative Behandlung erhalten. Verwundete und gefechtsunfähige Gegner in Gefangenschaft sollten einen niedrigeren Standard der Versorgung oder Palliativbehandlung erhalten.
Gross ist zudem der Auffassung, Ärzte seien grundsätzlich nicht neutral, sondern der Seite zur Loyalität verpflichtet, auf der sie kämpften. Diese Auffassung macht den Weg frei für folgenreiche Veränderungen in der ethischen Praxis, wie etwa hinsichtlich der Beteiligung medizinischen Personals an Verhören mit fragwürdigen Methoden. Doch weiterhin gilt: Ärzte und Pflegekräfte sind ihren Patienten unter allen Umständen und in vollem Umfang zu medizinischer Loyalität verpflichtet.2 Zwar haben sie als Mitarbeiter der Organisationen, für die sie tätig sind, ebenfalls Pflichten zu befolgen. Diese Verpflichtungen dürfen jedoch weder ihre medizinischen Entscheidungen noch die Patientenversorgung beeinträchtigen. Jede Nichteinhaltung ihrer Pflichten gegenüber den Patienten, insbesondere jeder Bruch der ärztlichen Schweigepflicht, hat katastrophale Auswirkungen auf die medizinische Praxis. Ein solcher Verstoß zerstört das Vertrauen und die Beziehung zwischen Arzt und Patient und ebnet den Weg für die Ausbeutung und den Missbrauch des Patienten. Die ärztliche Schweigepflicht muss stets und unter allen Umständen in vollem Umfang gewahrt bleiben.
Die funktionale Unabhängigkeit der Ärzte von Behörden und Institutionen ist daher auch eine wesentliche Voraussetzung für die militärmedizinische Versorgung von Truppen und Inhaftierten. Militärärzte und Pflegekräfte sind insbesondere im Hinblick auf ihre Sicherheit, Logistik und Stationierung auf die Militärbehörden angewiesen. Doch in der Versorgungspraxis muss ihre Unabhängigkeit stets gewährleistet sein.
Zur Frage der Versorgung verwundeter Gegner zitiert Gross aus Umfragen, die mit Sanitätern und Ärzten durchgeführt wurden. Einige geben an, sie würden eher zunächst den eigenen Kameraden helfen und dann erst verwundete Gegner versorgen. Gross zufolge ist „die bevorzugte Versorgung von Familienmitgliedern und Freunden eine fundamentale moralische Verpflichtung“, und er akzeptiert, dass Sanitäter in der Truppe „aufgrund von Freundschaften und Zusammengehörigkeitsgefühl“ Prioritäten setzten. Doch im Krankenhaus, abseits des Gefechtsfeldes, bestehe die Pflicht zur unparteiischen Versorgung der Patienten.
Dieser Ansatz vermischt unterschiedliche Beziehungen, Rollen und Pflichten. Das Konzept der Versorgungsethik bedeutet nicht, dass Familienmitglieder und Freunde vorgezogen werden dürften. Im Gegenteil geht es darum, zwischen professionellem Helfer und Patienten eine „angemessene Distanz“ herzustellen.3 So sollte ein Arzt nach den Grundsätzen der medizinischen Ethik Familienmitglieder zur medizinischen Versorgung an andere Kollegen überweisen, gerade weil die starke emotionale Bindung sein klinisches Urteil beeinflussen könnte.
In Krisen und bewaffneten Auseinandersetzungen kommt es zu starken emotionalen Spannungen in allen Bereichen. Dies gilt auch für die medizinischen Dienste, wenn es beispielsweise um die Versorgung mutmaßlicher Straftäter oder Terrorverdächtiger geht. Gefühle und Empfindungen müssen bewältigt werden und können keinesfalls rechtfertigen, dass die eigenen Landsleute gegenüber verwundeten Gegnern bevorzugt versorgt werden. Die ethisch richtige Antwort ist hier nicht der Verzicht auf eine unparteiische Hilfeleistung, sondern vielmehr die organisatorische Stärkung der Militärmedizin zur Sicherstellung ihrer funktionalen Unabhängigkeit sowie die Förderung der medizinethischen Ausbildung.
Die von Gross gezogenen Schlüsse leiten sich größtenteils aus der Vorstellung ab, die Militärmedizin folge strategischen Zielen. Diese Annahme öffnet einem Angriff auf die Grundprinzipien der Medizinethik und des humanitären Völkerrechts Tür und Tor. Gross nimmt letztendlich in Kauf, dass Ärzte ihre Schweigepflicht brechen und sich an Verhören oder Folter beteiligen könnten, falls solche Handlungen im nationalen Interesse lägen. So extrem diese Positionen erscheinen mögen, beruhen sie doch auf der Vorstellung, die Militärmedizin trage zur Erreichung strategischer Ziele bei. Doch Notfallrettung und medizinische Versorgung sind unter keinen Umständen strategischen oder politischen Interessen unterzuordnen.
Annäherung an eine ethische Antwort
Ein ethikorientierter Ansatz in der Versorgung kranker oder verwundeter Gegner bedeutet die Anerkennung klarer ethischer Verpflichtungen. Gleichzeitig wird auch die Problematik widersprüchlicher Emotionen sowie ethischer Spannungen und Herausforderungen sichtbar, die sowohl im Kampfgebiet als auch in der praktischen medizinischen Versorgung auftreten können. Um diesen zu begegnen, schlagen wir vor, stets die folgenden ethischen Grundsätze zugrunde zu legen.
Humanität
Die Versorgung und Hilfeleistung gegenüber Menschen in Gefahr ist ein ethischer Imperativ. Diese Verpflichtung hängt nicht von strategischen oder politischen Erwägungen ab.
Unparteilichkeit
Die Notfallrettung und Versorgung von Menschen in Gefahr muss nach medizinischen Gesichtspunkten erfolgen, unabhängig von der Nationalität der Patienten, ihrer Zugehörigkeit zu einer Konfliktpartei oder sonstiger Unterscheidungsmerkmale.
Achtung und Schutz der Würde, der Gesundheit und des Lebens
Menschen, die in gegnerische Hände fallen, befinden sich in einer Situation extremer Abhängigkeit und Verwundbarkeit. Behörden, Rettungskräfte und Gesundheitsdienste sind verpflichtet sicherzustellen, dass die Rettungs- und Versorgungsmaßnahmen keine Gelegenheiten für Missbrauch bieten.
Neutralität der medizinischen Versorgung
Rettungsmaßnahmen und medizinische Versorgung unterliegen keinerlei strategischem Ziel. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine diskriminierungsfreie Versorgung von Verwundeten und Kranken erfolgen sowie die medizinische Versorgung von allen Konfliktparteien und -mächten geachtet und geschützt werden.
Einsatz für den Patienten
Der zwischen medizinischem Personal und Patient bestehende Betreuungspakt stellt ein zentrales Element der medizinischen Ethik dar. Er beruht auf dem Grundsatz von Vertrauen und Vertraulichkeit und auf dem professionellen Einsatz für eine kompetente und effektive Versorgung der Patienten.
Unabhängigkeit des medizinischen Personals
Um unparteiisch handeln und sich in vollem Umfang für die Gesundheit und Würde des Patienten einsetzen zu können, muss das medizinische Personal in der medizinischen Versorgung und allen diesbezüglichen Entscheidungen von politischen und militärischen Kräften funktional unabhängig sein. Die Gesundheitsversorgung muss in der Praxis von jeglicher strategischen, politischen oder geheimdienstlichen Zielsetzung unbeeinflusst bleiben. Diese Autonomie muss sich in der Organisation der Versorgung und in den hierarchischen Strukturen widerspiegeln und eine klare Trennung zwischen militärmedizinischen Diensten und Einsatzkommando beinhalten.
Verhältnis zwischen medizinischem Personal und Patient
Das vertrauensvolle, persönliche Verhältnis stellt ein wichtiges Element der Patientenversorgung dar. Dabei sind Probleme zu vermeiden, die sich aus der affektiven und emotionalen Nähe ergeben können. Eine „angemessene Distanz” ist wie in jedem anderen Pflegeverhältnis einzuhalten. Dies kann in Situationen, in denen Gegner als unmenschlich oder entmenschlicht wahrgenommen werden, große Herausforderungen mit sich bringen. Menschlichkeit muss integraler Bestandteil der Versorgung sein.
Achtung des Lebens und der Sicherheit der professionellen Helfer
Die Rettung und Notversorgung kann Sicherheitsrisiken und Gefahren für Leib und Leben mit sich bringen. Dies gilt insbesondere in bewaffneten Konflikten. Die bei diesen Einsätzen bestehenden Risiken müssen erkannt, abgewogen und entschärft werden. Ethik verlangt keine Aufopferung, sondern vielmehr geht es im Sinne verantwortungsvollen Handelns um Fürsorge, Großzügigkeit sowie Akzeptanz bestimmter Risiken im Rahmen von Rettungs- und Versorgungsmaßnahmen.
Gleichberechtigter Zugang zu medizinischer Versorgung
Verwundete, Kranke und Inhaftierte, die in den Einflussbereich der gegnerischen Konfliktpartei geraten, haben entsprechend ihrem medizinischen Zustand mindestens das Recht auf das der allgemeinen Bevölkerung zukommende Versorgungsniveau des betreffenden Landes oder Gebiets.
Unabhängigkeit der Justiz
Die unparteiische Versorgung sowie die Wahrung der medizinischen Neutralität, der Unabhängigkeit und einer angemessenen Distanz in der Behandlung der Patienten sind in Situationen extremer Gewalt dadurch zu gewährleisten, dass die Justiz ihre unabhängige Rolle beibehält. Nur so können Rettungskräfte und medizinisches Personal sich vollständig ihren Patienten widmen.
In Situationen extremer Gewalt, die oft mit einem Verlust an Menschlichkeit einhergehen, kann es äußerst schwierig sein, eine angemessene Arzt-Patient-Beziehung herzustellen. So kann ein Konflikt zwischen der Verpflichtung zur Hilfe und Versorgung in Kampfgebieten einerseits und der Gewährleistung der Sicherheit der Helfer andererseits bestehen oder zwischen der Bereitstellung einer guten medizinischen Versorgung und der begrenzten Verfügbarkeit von Ressourcen. Darüber hinaus kann das medizinische Personal in komplexe Zwangslagen geraten, etwa gegenüber der Justiz, wenn es um die Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht oder die Weitergabe von Informationen über begangene oder geplante Verbrechen geht.
Um diesen Situationen adäquat begegnen zu können, ist ein Ansatz der praktischen Ethik zwingend notwendig. Derartige ethische Fragen lassen sich nicht lösen, indem man einen Teil des Dilemmas ausblendet oder ein einfaches Schema anwendet. Das Ziel der Anwendung der „praktischen Vernunft“ oder der „Klugheit“ („practical wisdom“) muss sein, praktische Leitlinien zu entwickeln, die der Menschlichkeit als ethischem Grundsatz am besten zur Geltung verhelfen.4 Entscheidungen in ethisch schwierigen Situationen zu treffen, setzt einen Deliberationsprozess und eine Diskussion in einer multidisziplinären Gruppe voraus.
Dem Feind zu helfen, ist zentraler Bestandteil der Ethik
Die Hilfeleistung für Menschen in Gefahr appelliert an grundlegende Emotionen der Menschlichkeit, an Mitleid und Mitgefühl. Eine Situation extremer Bedrohung und Gewalt mitzuerleben, führt zu einer Reaktion des Schreckens und Entsetzens. Wer nicht handelt oder keine Hilfe leistet, empfindet Scham, fühlt sich erniedrigt, gedemütigt und des Menschseins unwürdig. Scham- und Schuldgefühle entstehen, wenn Menschen sich der Passivität und Ohnmacht hingeben oder untätig zusehen, wenn anderen Gewalt angetan wird. Sie fühlen sich unmenschlich. Wer trotz aller Hindernisse Hilfe und unabhängige Unterstützung leistet, nimmt das eigene Menschsein wahr. In seinem Buch „Humanity“ untersucht Glover, in welchen Situationen Menschen sich anderen gegenüber unmenschlich verhalten und wie dies zu einer Entmenschlichung führt. Er führt als Beispiel für Menschlichkeit das Handeln eines Arztes an, der unter äußerst schwierigen Bedingungen in Srebrenica tätig war. Nach dem Krieg erklärte der Arzt, besonders stolz sei er darauf gewesen, dass „in Gefangenschaft geratene serbische Soldaten im Krankenhaus Seite an Seite mit den bosnischen Soldaten lagen“.5
Bei ihren humanitären Einsätzen in Kriegssituationen und bewaffneten Auseinandersetzungen erleben die Mitarbeiter des IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) häufig solche Beispiele von Menschlichkeit. Das IKRK unternimmt zahlreiche Anstrengungen, um dieses Verhalten zu fördern. In Kampfgebieten und belagerten Städten, Flüchtlings- und Inhaftierungslagern erleben IKRK-Vertreter aber auch zahlreiche Beispiele von Missbrauch und extremer Gewalt. Sie kennen daher die schrecklichen Konsequenzen, die eine Vernachlässigung von ethischen Pflichten nach sich zieht, nur allzu gut aus eigener Erfahrung. Die Folgen sind katastrophal, verbreiten sich rasend schnell und hinterlassen dauerhaft Spuren. Das Verbot von Folter und unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung gilt absolut; im Namen der Menschlichkeit und in Anerkennung der Menschlichkeit eines jeden Einzelnen. Dieses Verbot stellt an sich noch keine Definition von Menschlichkeit dar, aber es setzt absolute Grenzen, jenseits derer dem Menschen seine Menschlichkeit genommen wird.
Verwundete und Kranke im Krieg zu versorgen und ihnen zu helfen, unabhängig davon, welcher Konfliktpartei sie angehören, Freund und Feind zugleich, ist eine paradigmatische Situation gelebter Menschlichkeit.
1 Dieser Text bezieht sich auf den Artikel Bouvier, P. (2013): The Duty to Provide Care to the Wounded or Sick Enemy, Kap. in: Baer, H. & Messelken, D. (Hrsg.): Tagungsband des 2. ICMM Workshops über Militärische Medizinethik Bern/Zürich. Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachte Meinung des Verfassers entspricht nicht notwendigerweise der Sichtweise des IKRK.
2 Annas, G. (2008): Military Medical Ethics – Physician First, Last, Always. N. Engl. J. Med. 359, S. 1087-1090.
3 Ricœur, P. (2001): Autonomie et vulnérabilité, in: Ricœur, P.: Le Juste 2, Paris, S. 104 / Ricœur, P. (2007): Autonomy and vulnerability, in: Reflections on the Just, Chicago, S. 271.
4 Ricœur, P. (1990): Soi-même comme un autre, Paris, S. 312.
5 Glover, J. (2001): Humanity: a moral history of the twentieth century, London, S. 152.
Dr. Paul Bouvier ist Berater für Gesundheits- und Ethik-Fragen der humanitären Hilfe beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und Dozent für öffentliche Gesundheit am Institut für Weltgesundheit an der Universität Genf. Als Facharzt für Pädiatrie und Experte für öffentliches Gesundheitswesen arbeitete er sowohl in Afrika im Bereich Mutter-Kind-Gesundheit als auch in der Schweiz in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen und in der Sozialpädiatrie. Er war als medizinischer Delegierter des IKRK im Rahmen von Hilfsmaßnahmen und Gefangenenbesuchen in verschiedenen Konfliktgebieten im Einsatz. Seit 2007 ist er Leitender Medizinischer Berater des IKRK für gesundheitliche und ethische Fragen humanitärer Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Opfern in bewaffneten Konflikten. Seit 2012 koordiniert er in 12 Ländern Schulungskurse für humanitäre Einsatzkräfte zu Themen des öffentlichen Gesundheitswesens und zu ethischen Fragen der humanitären Nothilfe.