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Ethische Spannungen in Einsätzen – Erfahrungen von kanadischen Militärärzten

Von Ethics in Military Medicine Research Group (EMMRG)

Militärmedizinisches Personal fühlt sich in internationalen Einsätzen oft sehr beansprucht.  Arbeiten die Streitkräfte mehrerer Nationen mit ihren jeweiligen Verhaltensregeln in Einsätzen zusammen und greifen dabei auf eine gemeinsame medizinische Infrastruktur zurück, erhöht sich automatisch die Wahrscheinlichkeit ethischer Dilemmata. Um die Ursachen ethischer Spannungen im Kontext der Militärmedizin besser verstehen zu können, befragten die Autoren Williams-Jones, B.; de Laat, S.; Hunt, M.; Rochon, C.; Okhowat, A.; Schwartz, L.; Horning, J.  insgesamt 50 medizinische Fachkräfte der kanadischen Streitkräfte zu ihren Einsätzen in bewaffneten Konflikten nach Naturkatastrophen oder Friedensmissionen. Dabei unterteilten sie die Ursachen ethischer Herausforderungen grob in vier Hauptkategorien: Ressourcenknappheit, historische, kulturelle und gesellschaftliche Strukturen, Richtlinien und Programme sowie berufliche Rollen.  

Bei internationalen Einsätzen finden militärische, humanitäre und entwicklungstechnische Missionen oft parallel statt. Deshalb kommt es, so die Autoren, häufig zu einer Überschneidung und zu einer Kollision der Rollen, die das militärmedizinische Fachpersonal (Ärzte, Krankenschwestern, medizinische Assistenten und verwandte Berufsgruppen) bewältigen muss. So kann es vorkommen, dass ein Helfer  gleichzeitig oder zeitversetzt als Arzt, Soldat oder Entwicklungshelfer fungieren muss. Dies kann zu komplexen ethischen Konflikten führen, die weit über die bisherige Fälle der Medizinethik hinausgehen.

Beim Abgleich von „wahren“ ethischen Probleme der Mediziner mit der Literatur der Bioethik und insbesondere der Militärmedizinethik stellte das Autorenteam eine beachtliche Divergenz fest. So gibt das bisher viel beachtete Thema der doppelten Loyalität scheinbar keinen Anlass zur Sorge. Stattdessen zeigen sich hier komplexe Herausforderungen bei Themen, die speziell bei humanitären Missionen eine zentrale Rolle spielen. Dazu gehören der Umgang mit Ressourcenknappheit, die Unmöglichkeit der beständigen Versorgung und die unausweichliche Erkenntnis, dass die im Heimatland angebotenen Gesundheitsleistungen von denen in internationalen Einsätzen häufig abweichen. 

Interessant ist auch die Feststellung, dass in militärischen Konfliktsituationen die Gebote der Medizinethik gelten mögen, es jedoch aufgrund divergierender Einflüsse und Wahrnehmungen der verschiedenen Akteure unterschiedliche Gewichtungen gibt. So kommen die Aspekte Triage und angemessene Zuteilung der Ressourcen, Behandlungs- und Pflegestandards, Einwilligung nach Aufklärung der Patienten, Patientenautonomie, der Schutz von Menschenrechten unterschiedlich stark zum Tragen. Noch deutlicher werden diese Fragen bei bewaffneten Konflikten, in denen das militärmedizinische Fachpersonal die Interessen sowohl der Patienten als auch der Soldaten zu berücksichtigen hat. Steigender Druck macht sich bemerkbar, denn die zwingende Teilnahme an medizinischen Hilfsaktionen für die Vertrauensgewinnung der Bevölkerung vor Ort ist für das militärmedizinische Personal keine Seltenheit.  Ebenso fühlt es sich häufig gezwungen, Soldaten auch in zweifelhaften Fällen für kampftauglich zu erklären, die Privatsphäre der Patienten zugunsten militärischer Zwecke zu übergehen oder Soldaten, Kämpfer und Zivilisten gegen deren Willen zu behandeln. 

Die Studie bestätigt die Ausgangshypothese der Autoren. Militärmedizinische Fachkräfte können von kontext- und berufsspezifischen Ethikschulungen stark profitieren, da sie in sehr unterschiedlichen Umgebungen und Konflikten arbeiten. Das Autorenteam stellt lösungsorientiert fest, dass aufgrund dieser vielfältigen Herausforderungen ein dringender Bedarf an Ethikschulungen besteht.

Originalartikel