Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Vergessene "Kinder des Krieges": Children Born of War
Nicht nur die jüngst erfolgte Invasion der Ukraine, sondern auch die an vielen weiteren Orten, etwa in Afghanistan, Jemen und Syrien begangenen Kriegsgräuel zeigen mehr als deutlich, dass es in den Kriegen des 20. und 21. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich oder vorwiegend um Territorialgewinne geht. Vielmehr spielen sich diese Konflikte in einem Graubereich ab – außerhalb des Geltungsbereichs des Kriegsvölkerrechts.2 In diesen bewaffneten Konflikten werden Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübt, etwa großflächige Angriffe auf zivile Ziele oder auch der strategische und taktische Einsatz von Terror. Unter anderem werden sexualisierte Gewaltverbrechen an Frauen und Männern verübt, deren Ausmaß an Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Missachtung des international anerkannten Kriegsrechts historisch so gut wie beispiellos ist. Die Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten verschwimmen zunehmend.3
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts greifen sowohl staatliche als auch irreguläre Truppen immer systematischer auf Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung zurück.4 Nach den Massenvergewaltigungen in den Balkankriegen, dem Völkermord in Ruanda und zahlreichen Konflikten in Afrika und Asien5 ist inzwischen sehr deutlich geworden, dass die Grundsätze des Kriegsvölkerrechts in der heutigen Zeit nicht umfassend umgesetzt werden – weder in Bezug auf die begriffliche Fassung der aktuellen Kriegshandlungen noch auf die Schaffung eines Rechtsrahmens, der eine Grundlage für die erfolgreiche Strafverfolgung der Täter bietet. Die systematische und gezielte Anwendung von Vergewaltigungen wird mittlerweile nicht mehr als Begleiterscheinung eines Krieges, sondern als Kriegshandlung betrachtet. Diese Entwicklung hat auch zu einer rechtlichen Neubewertung der konfliktassoziierten sexualisierten Gewalt geführt. Vergewaltigung im Krieg ist seit dem Zusatzprotokoll II zu den Genfer Konventionen als „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“ geächtet.6 Aber erst die Internationalen Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) revidierten das bis dato gültige Verständnis sexualisierter Gewalttaten im Krieg und gingen dazu über, in ihren Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Sexualdelikte beinhalteten, Vergewaltigungen auch formell als Kriegsverbrechen zu verfolgen und zu ahnden. Auch das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 stuft schwere sexualisierte Gewalthandlungen wie Vergewaltigung, sexualisierte Sklaverei, Zwangsprostitution, erzwungene Schwangerschaft und Zwangssterilisation als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein.7
Drei Jahrzehnte sind seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien vergangen. In dieser Zeit hat die konfliktassoziierte sexualisierte Gewalt gegen Frauen (und in jüngster Zeit auch gegen Männer8) in den Medien, aber auch in der Wissenschaft und bei politischen Entscheidungsträgern zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Mit der bahnbrechenden Resolution 1325 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“ (englisch „Women, Peace and Security“, abgekürzt WPS) und den nachfolgenden neun Resolutionen zu verwandten Themenbereichen, die einen internationalen politischen Rahmen zur Förderung und zum Schutz der Rechte von Frauen in Konflikt- und Post-Konflikt-Situationen bilden, wurden unbestreitbar Fortschritte erzielt. In krassem Gegensatz dazu erfährt das Schicksal Zehntausender Kinder von fremden Soldaten und einheimischen Frauen – oft gezeugt infolge sexualisierter Gewalt, aber auch infolge teilweise einvernehmlicher, teilweise ausbeuterischer und missbräuchlicher gewaltfreier Beziehungen – kaum Aufmerksamkeit. Die Bemühungen um die Wiedereingliederung dieser sogenannten Children Born of War (CBOW) und ihre Einbeziehung in Prozesse der Transitional Justice sind bisher ebenfalls eher begrenzt.9 Erst seit der Verabschiedung der Resolution 2467 im Juni 2019 erkennt der UN-Sicherheitsrat CBOW als Rechtssubjekte an, die – im Vergleich zu Frauen und Mädchen, die durch Vergewaltigungen schwanger wurden – sowohl ähnliche als auch spezielle Beeinträchtigungen erleben. Lord Ahmad of Wimbledon, der Sonderbeauftragte des britischen Premierministers für die Prävention sexualisierter Gewalt in Konflikten, bezeichnete dies als „unsichtbare Krise“. Er unterstützt ausdrücklich die Empfehlungen des bisher einzigen ausführlichen Politik-Briefings zum Thema CBOW.10 Das Dossier fordert weltweite, geschlechtsspezifische Studien zu CBOW sowie zu Frauen, die durch Vergewaltigungen in Kriegen schwanger werden. Echter Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit, so das Briefing, könne nur erreicht werden, wenn alle Menschen, einschließlich gefährdeter Frauen und ihrer Kinder, ohne Stigmatisierung und Diskriminierung in den Prozess einbezogen würden.
Zu den CBOW gehören nach der heute in Forschung und Politik weithin akzeptierten Terminologie Kinder, die von ausländischen oder feindlichen Soldaten während eines bewaffneten Konflikts bzw. von Besatzungssoldaten nach einem Konflikt gezeugt wurden, Kinder von (oft sexuell versklavten) Kindersoldatinnen sowie von Angehörigen von UN-Friedenstruppen gezeugte Kinder. Die große Breite an Konflikt- und Post-Konflikt-Szenarien, in denen die CBOW geboren werden, sowie die sich daraus ergebende Kategorisierung verweist implizit auf ein breites Spektrum an Beziehungen zwischen der Zivilbevölkerung und bewaffneten Truppen bzw. Angehörigen von UN-Friedenstruppen, in die diese Kinder hineingeboren werden bzw. aus denen sie hervorgehen. Hinsichtlich der Art, Intensität, Häufigkeit und Dauer der Kontakte zwischen der lokalen Bevölkerung und ausländischen oder feindlichen Soldaten lassen sich in den Beziehungen zwischen Militär und Zivilbevölkerung während und nach bewaffneten Konflikten große Unterschiede feststellen. Kinder entstehen infolge von Kriegsvergewaltigungen, aus ausbeuterischen oder missbräuchlichen Beziehungen, aus Zwangsprostitution oder transaktionalem Sex (Geschlechtsverkehr im Austausch gegen Geld oder Güter; hierbei können die betroffenen Frauen nur in sehr eingeschränktem Maße ihre Zustimmung verweigern), aus Geschlechtsverkehr zur Überlebenssicherung oder aus kurz- oder langfristigen einvernehmlichen Kontakten, unter anderem auch aus Liebesbeziehungen.11
Die Umstände der Zeugung mögen sehr unterschiedlich sein. Doch die Erfahrungen der CBOW weisen bemerkenswerte Übereinstimmungen auf, oft unabhängig von der elterlichen Beziehung. Die Kinder sind auf einzigartige Weise mit dem Konflikt und dem (ehemaligen) Feind oder Besatzer verbunden. Dadurch sind sie einer Reihe von Widrigkeiten ausgesetzt. Ihre Herkunft als Kinder von Soldaten (feindlicher Armeen, Rebellen oder Besatzer) hebt sie von den lokalen Bevölkerungen ab. Häufig leiden ihre Mütter – durch die Verbindung mit dem Feind und durch vorurteilsbehaftete Stereotype – unter dem doppelten Stigma als Opfer und Überlebende sexualisierter Gewalt und als Alleinerziehende. Sie müssen ihre Kinder außerhalb der starren Familiennormen oft patriarchalischer Gesellschaften aufziehen, und sowohl Mütter als auch Kinder sind häufig von andauernder extremer Armut, gesundheitlichen Problemen sowie von Ausgrenzung betroffen, sowohl hinsichtlich ihrer Bildungschancen als auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.
Durch diese doppelte Benachteiligung erleben CBOW oft, dass ihre Rechte und Bedürfnisse im Vergleich zu denen anderer kriegsbetroffener Personengruppen überproportional stark infrage gestellt werden. Dennoch wurden die äußerst wichtigen Menschenrechtsfragen, die sich an dieses Thema knüpfen, bis vor Kurzem überhaupt nicht thematisiert. Ein kürzlich erschienener Bericht spricht insbesondere im Hinblick auf die Kinder, die infolge konfliktassoziierter sexualisierter Gewalt geboren werden, von einem „erheblichen Defizit an politischen Maßnahmen und Schutz“. Seit in den frühen 2000er Jahren12 im Bereich Internationale Beziehungen erstmals dazu geforscht wurde, haben Arbeiten mit unterschiedlichen disziplinären und geopolitischen Schwerpunkten eine beachtliche empirische Basis aufgebaut und ein breites Spektrum von Benachteiligungen, Risiken und Schädigungen aufgezeigt. Dazu gehören, um nur einige zu nennen, Kindstötungen, Aussetzung bei der Geburt, Kindheitstraumata (etwa körperliche und emotionale Misshandlung/Vernachlässigung), entwürdigende Bezeichnungen innerhalb der lokalen Gemeinschaften, Stigmatisierung und Diskriminierung, Armut und Ernährungsunsicherheit, eingeschränkter Zugang zu Bildung sowie Obdachlosigkeit. In Kombination führen sie zu einem deutlich erhöhten Risiko für eine schlechte physische und psychische Gesundheit sowie – mit Blick auf Fragilität von Post-Konflikt-Gemeinschaften und -Staaten – die Anfälligkeit der CBOW für Radikalisierung bzw. (erneute) Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen13.
Psychologische, soziale und wirtschaftliche Belastungen für CBOW14
Trotz der unterschiedlichen geopolitischen und historischen Kontexte sind den CBOW bestimmte Erfahrungen gemein. Ihre Kindheit und Jugend ist häufig durch besondere individuelle, soziale und gesellschaftliche Bedingungen geprägt. Diese wurden mithilfe eines psychologischen Modells beschrieben, welches drei korrelierende, für die psychische Gesundheit der CBOW besonders wichtige Faktoren herausstellt: (1) Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen, (2) Kindesmisshandlung und (3) Identitätsentwicklung.15
Fragen rund um die eigene Identität gehören zu den grundlegendsten Herausforderungen für CBOW. In vielen Fällen verheimlichen die Mütter und Familienangehörigen der CBOW die Identität der Väter. Die Gründe sind vielfältig: Außereheliche intime Beziehungen gelten in vielen Gesellschaften als Tabu, oft sind Schamgefühle vorhanden. Zudem besteht der Wunsch, das Kind und die Familie vor möglicher Stigmatisierung und/oder Diskriminierung zu schützen. Obwohl die meisten CBOW während ihrer Kindheit oder Jugend direkt von ihren Müttern oder nahen Verwandten erfahren, wer ihre Väter sind, kommen andere erst durch Zufall darauf oder weil sie von ihrem weiteren sozialen Umfeld absichtlich darüber informiert werden. Wieder andere werden sich ihrer Herkunft erst bewusst, wenn sie in ihrer Gemeinschaft zur Zielscheibe von Beschimpfungen werden.
Viele CBOW, die erst im Erwachsenenalter von ihrer Herkunft erfahren, berichten von einem diffusen Unbehagen oder davon, unter dem Tabu ihrer Abstammung gelitten zu haben. Durch die ungeklärten Fragen nach der eigenen Identität ist das Zugehörigkeitsgefühl bei vielen CBOW gestört. Fast alle CBOW wachsen ohne Wissen oder Erzählungen über ihre Väter auf. Diese sind in ihrem Leben nicht nur physisch abwesend, sondern werden auch aktiv von jeder Form des Erinnerns an die Vergangenheit ausgeschlossen.
Inzwischen gilt als anerkannt, dass eine mehr oder weniger offene Diskriminierung/Stigmatisierung den Lebensweg der CBOW in fast allen Post-Konflikt-Gesellschaften entscheidend prägt. Die meisten Betroffenen sind sogar mehrfach belastet, unter anderem als „Nachkommen des Feindes oder Fremder“, durch ihren gemischtethnischen Hintergrund und als „uneheliche Kinder“. Entwürdigende Bezeichnungen wie bui doi (Staub des Lebens), Amibankert (amerikanischer Bastard), Russenbalg oder enfant indésiré (ungewolltes Kind) verdeutlichen die negativen gesellschaftlichen Einstellungen, mit denen CBOW konfrontiert sind. Die meisten erleben in der Schule, Nachbarschaft und Familie offene Feindseligkeit, Gewalt und soziale Ausgrenzung. In vielen Fällen ist das Aufwachsen der CBOW von den familiären und gesellschaftlichen Konflikten geprägt, die sich aus ihrer Integration bzw. der Erfahrung von Ablehnung ergeben. Tabus, Geldsorgen und die Zurückweisung durch Familie und Gesellschaft spielen oft eine Rolle. Dass CBOW einem erhöhten Risiko der Kindesmisshandlung ausgesetzt sind, erscheint angesichts der negativen Einstellungen, die Familien und Gemeinschaften gegenüber diesen Kindern und ihren Müttern hegen, sowie aufgrund der schwierigen Bedingungen für Mütter und Kinder kaum überraschend.
Die beschriebenen individuellen Erfahrungen hängen von den wichtigsten Bezugspersonen, Familien und dem gesellschaftlichen Umfeld der CBOW ab. Aufgrund der besonderen Bedingungen ihrer Zeugung wachsen viele dieser Kinder bei ihren alleinerziehenden Müttern auf, häufig in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Andere wiederum werden zur Adoption freigegeben, wachsen in Kinderheimen oder bei ihren Großeltern bzw. nahen Verwandten auf und müssen sich immer wieder an neue primäre Bezugspersonen gewöhnen. Die Stigmatisierung und Diskriminierung, die diese CBOW erleben, stehen stellvertretend für die allgemein negative, sogar feindselige Haltung ihrer näheren und weiteren Umgebung. Gehen die Mütter eine neue Partnerschaft ein, erhöht die neue Familienkonstellation in einigen Fällen das Risiko erneuter Diskriminierung. Erhalten CBOW individuelle Unterstützung durch gemeindefinanzierte, staatliche, kirchliche oder NGO-Hilfsprogramme, so führt dies unter Umständen zu Animositäten und Eifersüchteleien im sozialen Umfeld, insbesondere wenn diese Hilfsprogramme nicht in wirksame Mechanismen der Übergangsjustiz eingebunden sind. So erhielten beispielsweise Kindersoldaten im Rahmen der Amnestie, die ehemaligen LRA-Kämpfern in Norduganda gewährt wurde, staatliche Unterstützung bei ihrer Wiedereingliederung in die lokalen Gemeinschaften, während vielen, die Opfer der durch die LRA begangenen Massaker geworden waren, keine vergleichbare Unterstützung zuteilwurde. Dies führte zu Spannungen zwischen den Rückkehrern und denen, die nicht zwangsrekrutiert worden waren. Auch die Vergabe von Stipendien durch einige Nichtregierungsorganisationen an Frauen, die Entführung und Versklavung überlebt hatten, und ihre Kinder führte zu weiteren Spannungen, da andere vom Krieg betroffene Kinder nicht in gleichem Umfang Hilfe erhielten.16 Um die vielschichtigen Probleme der CBOW und ihre Auswirkungen differenziert zu analysieren, braucht es ein umfassendes und kohärentes Modell, das die Wechselwirkungen zwischen struktureller Diskriminierung und gesellschaftlicher Marginalisierung bzw. Ausschluss aus der Gemeinschaft systematischer als bisher untersucht.
Aus einer generationenübergreifenden Perspektive wäre zu erörtern, wie die Dyade der Mutter-Kind-Beziehung die Persönlichkeitsentwicklung der CBOW und ihren Umgang mit der Gemengelage von Problemen beeinflusst, die alle CBOW trotz ihrer unterschiedlichen historischen und geopolitischen Kontexte übereinstimmend erleben. Die Forschung zum Thema konzentrierte sich über lange Zeiträume fast ausschließlich auf Kinder, deren Zeugung auf konfliktassoziierte sexualisierte Gewalt zurückgeht. Die vorliegenden Erkenntnisse über CBOW deuten jedoch darauf hin, dass die Umstände der Zeugung keinen wesentlichen Einfluss auf die während der Kindheit erlebten Schwierigkeiten haben. Zur Veranschaulichung der komplexen und generationenübergreifenden Folgen sexueller Übergriffe und konfliktassoziierter sexualisierter Gewalt für Mütter von CBOW und die Kinder selbst widmen wir den folgenden Abschnitt dem Thema der in Deutschland geborenen Besatzungskinder des Zweiten Weltkriegs.
Unbestritten ist, dass sich konfliktassoziierte sexualisierte Gewalt in den letzten Phasen des Zweiten Weltkriegs extrem häufte; allerdings gibt es dazu keine genauen Zahlen oder offizielle Erhebungen. Man ist daher auf Schätzungen angewiesen, denen zufolge zu Kriegsende sowie in der Nachkriegszeit etwa 1,9 Millionen deutsche Frauen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurden. Dazu kommen geschätzt mehrere Tausend Vergewaltigungen durch alliierte amerikanische, britische und französische Soldaten.17 Aufgrund fehlender Daten zur konfliktassoziierten sexualisierten Gewalt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren ist auch die Zahl der unter diesen Umständen gezeugten CBOW unbekannt. Man geht jedoch davon aus, dass bis zu 400.000 CBOW aus sexuellen Kontakten zwischen einheimischen Frauen und Besatzungssoldaten entstanden; diese beinhalteten sowohl konfliktassoziierte sexuelle Gewalt als auch intime Beziehungen mehr oder weniger einvernehmlicher Natur – von sogenannten „Versorgungsbeziehungen“ bis hin zu Liebesbeziehungen. Es wird davon ausgegangen, dass eine beträchtliche Zahl dieser Kinder durch Vergewaltigungen gezeugt wurde.18 Soziale Stigmatisierung, Scham und Angst führten dazu, dass die von den Besatzungstruppen ausgeübte sexualisierte Gewalt, unabhängig von der Nationalität der Täter, nicht offen thematisiert und tabuisiert wurde. Weibliche Überlebende konfliktassoziierter sexualisierter Gewalt aus dieser Zeit wiesen hohe Prävalenzraten verschiedener psychischer Störungen auf – auch noch Jahrzehnte später.19 Im Jahr 2013 wurde die erste empirische Studie über psychosoziale Aspekte von CBOW-Kindheiten in Deutschland nach 1945 durchgeführt. Wie bereits erwähnt, sind die Lebensumstände vieler Betroffener während der Kindheit von belastenden finanziellen, sozialen und familiären Belastungen gekennzeichnet. Nur 1,4 Prozent (n = 2) der an der Studie teilnehmenden Personen wuchsen bei ihren biologischen Vätern auf. Mehr als die Hälfte erlebte mindestens einen Wechsel der primären Bezugsperson aufgrund eines Umzugs (zum Beispiel von der Mutter zur Großmutter). Ein großer Teil erlebte in der Kindheit und Jugend verschiedene Arten von Misshandlung: Mehr als die Hälfte der Befragten (57 Prozent) berichtete von emotionaler Misshandlung, 44 Prozent von emotionaler Vernachlässigung, 41 Prozent erlitten körperliche Misshandlungen und etwa ein Viertel sexuellen Missbrauch. Diese Zahlen sind alarmierend, da sie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung derselben Generation fünf- bis zehnmal höher liegen20 Außerdem berichteten viele teilnehmende Personen von Stigmatisierung und Diskriminierung.21 Die oft schwierigen Entwicklungsbedingungen der CBOW im Deutschland der Nachkriegszeit haben sicher mit dazu beigetragen, dass die Betroffenen auch noch Jahrzehnte später häufiger an psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), Depressionen oder psychosomatischen Beschwerden leiden.22 Betrachtet man die psychischen Folgen der konfliktassoziierten sexualisierten Gewalt für die Mütter und die oft schwierigen Bedingungen für alleinerziehende Mütter unehelicher Kinder in Deutschland nach dem Krieg, so wird deutlich, wie prekär die Entwicklung positiver Mutter-Kind-Beziehungen war. Selbst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter berichten CBOW häufiger über unsichere Bindungsmuster in ihren aktuellen Beziehungen. Sie fühlen sich weniger wohl mit Nähe und Intimität; der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu anderen Menschen fällt schwerer.23 Die Ergebnisse der Studie zeigen, wie langfristig sich die Umstände der kindlichen Entwicklung auf den Bindungsstil, die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden eines Menschen über seine gesamte Lebensspanne hinweg auswirken. Aus einer generationenübergreifenden Perspektive lässt sich sagen, dass die liebevolle Mutter-Kind-Bindung durch die bei der Vergewaltigung der Mutter erfahrene Gewalt erschwert werden und von fehlender Nähe und Ambivalenz gekennzeichnet sein kann. Schaffen es die Mütter jedoch, eine liebevolle Bindung zu ihren Kindern aufbauen, können sich auch positive Mutter-Kind-Beziehungen entwickeln – dieses Phänomen wurde in vergleichbaren Kontexten beschrieben, in denen die Mütter extreme zwischenmenschliche Traumata durchlebt hatten, etwa in Ruanda oder Uganda.24
Wie bereits erwähnt, gehen die derzeitigen Hilfsprogramme für Überlebende konfliktassoziierter sexualisierter Gewalt nicht auf die spezifischen Bedürfnisse der CBOW ein. Auch Prozesse der Transitional Justice beziehen diese Gruppe von Betroffenen nicht mit ein, unabhängig davon, ob sie infolge gewalttätiger oder gewaltloser Beziehungen gezeugt wurden. So bleiben nicht nur die Bedürfnisse einer beträchtlichen Anzahl extrem gefährdeter Menschen in Post-Konflikt-Gesellschaften unberücksichtigt, es werden genau die Menschen marginalisiert und ausgegrenzt, die das Fundament eines nachhaltigen Friedens in ihren Ländern legen könnten, was wiederum zur Fragilität von Post-Konflikt-Gesellschaften beiträgt.
Empfehlungen
CBOW stellen eine besonders gefährdete, vom Krieg betroffene Bevölkerungsgruppe dar. Dennoch erfahren sie wenig Aufmerksamkeit, und ihre Bedürfnisse werden kaum erfüllt. Hilfsprogramme müssen vor allem die folgenden Maßnahmen umfassen:
Nicht nur muss in der ethischen Ausbildung der Streitkräfte ein gendersensibler Ansatz verfolgt und jegliche konfliktassoziierte sexualisierte Gewalt als unzulässige Handlung thematisiert werden. Vielmehr braucht es auch ein besseres Verständnis der Soldatinnen und Soldaten für die Dynamik der Machtverhältnisse, die die Möglichkeiten von Frauen, freiwillig intime Beziehungen mit Soldaten einzugehen, stark einschränken.
Zusätzlich müssen Soldatinnen und Soldaten besser über die Folgen daraus resultierender Schwangerschaften sowohl für die Kinder als auch für ihre Mütter aufgeklärt werden.
Die Straflosigkeit in Fällen konfliktassoziierter sexualisierter Gewalt, sexueller Ausbeutung und von Missbrauch im Rahmen von Konflikten und Friedensmissionen muss beendet werden; klar strukturierte Verfahren für die Feststellung der Vaterschaft und die Sicherung des Unterhalts für CBOW sind erforderlich.
Auf gesellschaftlicher Ebene müssen CBOW und ihre Mütter in ihren Gemeinschaften unterstützt werden, wenn keine finanzielle Unterstützung von den leiblichen Vätern eingefordert werden kann. Im Rahmen der Gerechtigkeitsfindung brauchen Post-Konflikt-Gesellschaften sichere, diskriminierungsfreie Räume für die Anliegen der CBOW. Die Öffentlichkeit muss über Stigmata und Tabus in Bezug auf CBOW und ihre Mütter aufgeklärt werden.
CBOW und ihre Mütter sollten als besonders gefährdete Gruppe von Kriegsbetroffenen Zugang zu geeigneten psychosozialen Unterstützungsdiensten erhalten.25
In jüngerer Zeit haben CBOW aus verschiedenen Generationen und geopolitischen Kontexten begonnen, ihre Erfahrungen in der Kindheit und mit Stigmatisierung und Diskriminierung auf verschiedene Art und Weise zu thematisieren. Das betrifft CBOW des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Besatzungszeit, die mittlerweile oft über siebzig Jahre alt sind, genauso wie solche aus den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, dem Völkermord in Ruanda oder den bewaffneten Konflikten in Uganda der 1990er- und 2000er-Jahre. Sie haben unter anderem Autobiografien veröffentlicht26 und an dokumentarischen Tanzperformances27 und Dokumentarfilmen28 mitgewirkt, die einem doppelten Zweck dienten: das Bewusstsein für die spezifischen Probleme von CBOW zu erhöhen und einen Beitrag zur Entstigmatisierung und Enttabuisierung ihrer Existenz zu leisten. Diese Beispiele, von denen viele auf dauerhafter und erfolgreicher Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Betroffenengruppen beruhen, zeigen in aller Deutlichkeit, wie sehr vom Krieg betroffene Bevölkerungen von solchen bereichsübergreifenden Kooperationen profitieren.
1 „Children Born of War“ (CBOW) wurden im Zusammenhang mit Prozessen von Transitional Justice als vergessene Kinder bezeichnet (siehe z. B. Carpenter, R. Charli (2010): Forgetting Children Born of War: Setting the Human Rights Agenda in Bosnia and Beyond. New York). In ähnlicher Weise spiegelt sich dieses Gefühl auch in der Namenswahl einiger Selbsthilfeorganisationen. So heißt beispielsweise die bosnische CBOW-Organisation Zaboravljena Djeca Rata (Vergessene Kriegskinder).
2 Newman, Edward (2004): The “New Wars” debate: A historical perspective is needed. In: Security Dialogue 35 (2), S. 173-189.
3 Stern, Orly (2018): The Principle of Distinction. In: Stern, Orly (Hrsg.): Gender, Conflict, and International Humanitarian Law. Abingdon, S. 15-40; Tadros, Victor (2018): The Moral Distinction Between Combatants and Noncombatants: Vulnerable and Defenceless. In: Midwest Studies in Philosophy, 37, S. 289-312.
4 Crawford, Kerry F. (2017): Wartime Sexual Violence: From Silence to Condemnation of a Weapon of War. Washington D.C.
5 Loken, Meredith (2017): Rethinking rape: The role of women in wartime violence. In: Security Studies 26 (1), S. 60-92; Cohen, Dara Kay (2016): Rape during Civil War. Ithaca.
7 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (1998) https://www.icc-cpi.int/resource-library/documents/rs-eng.pdf (Stand: 20.5.2022); Jeleel, Rana (2013): Weapons of sex, weapons of war: Feminism, ethnic conflict and sexual violence in public international law during the 1990s. In: Cultural Studies 27, S. 115−135.
8 Zalewski, Marysia et al. (Hg.) (2018): Sexual Violence against Men in Global Politics. Abingdon.
9 Rohwerder, Brigitte (2019): Reintegration of children born of wartime rape. K4D Helpdesk Report 628. Institute of Development Studies. Brighton.
11 Lee, Sabine und Glaesmer, Heide (2022): Children born of war: a critical appraisal of the terminology. In: Lee, Sabine, Glaesmer, Heide und Stelzl-Marx, Barbara (Hrsg.): Children Born of War – Past, Present, Future. Abingdon, S.12–34, S.24–26.
12 Carpenter, R. Charli. (Hg.) (2007): Born of War: Protecting Children of Sexual Violence Survivors in Conflict Zones. Bloomfield CT; Carpenter, R. Charli (2010).
13 Lee, Sabine (2017): Children Born of War in the 20th Century. Manchester; Rohwerder, Brigitte (2019).
14 Teile dieses Abschnitts sind bei Lee, Sabine und Glaesmer, Heide (2022) ausführlicher behandelt und stellen die Grundlage für den vorliegenden Beitrag dar.
15 Glaesmer, Heide et al. (2012): Die Kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Ein Rahmenmodell für die psychosoziale Forschung. In: Trauma und Gewalt – Forschung und Praxisfelder, 6(4), S. 318−328.
16 Apio, Eunice Otuko (2016): Children born of war in Northern Uganda: Kinship, marriage and the politics of post-war reintegration in Lango society (unveröffentlichte Dissertation, Birmingham), S. 199.
17 Gebhardt, Miriam (2015): Als die Soldaten kamen. München; Grossmann, Atina (1995): Eine Frage des Schweigens: Die Vergewaltigung deutscher Frauen durch Besatzungssoldaten. In: October 72, S. 42−63; Sander, Helke und Johr, Barbara (eds.) (2008). BeFreier und Befreite: Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. 3. Aufl., Frankfurt a. Main.
18 Stelzl-Marx, Barbara and Satjukow, Silke (2015): Besatzungskinder – Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland (Occupation Children – Offspring of Allied Soliders in Austria and Germany). Wien, Köln, Weimar, S. 11.
19 Kuwert, Philipp et al. (2010). Trauma and current posttraumatic stress symptoms in elderly German women who experienced wartime rapes in 1945. In: The Journal of Nervous and Mental Disease 198(6), S. 450−451.
20 Glaesmer, Heide et al. (2017), S. 1147−1156.
21 Aßmann, Anna-Lena et al. (2015): Stigmatisierungserfahrungen deutscher Besatzungskinder des Zweiten Weltkrieges. In: Trauma und Gewalt - Forschung und Praxisfelder, 9(4), S. 294−303.
22 Kaiser, Marie et al. (2015): Depression, Somatization, and Posttraumatic Stress Disorders in children born of occupation after WWII in comparison with the general population. In: The Journal of Nervous and Mental Disease, 203(10), S. 742−748.
23 Kaiser, Marie et al. (2018): Long-term effects on adult attachment in German occupation children after WWII in comparison with a birth-cohort matched representative sample of the German general population. In: Aging & Mental Health 22(2), S. 197−207.
24 Kiconco, Allen (2015): Understanding former ‘Girl Soldiers’ central themes in the lives of formerly abducted girls in post-conflict Northern Uganda (unpublished PhD thesis, Birmingham).
25 Anderson, Kimberley (2022): Addressing the needs of mothers and their children born of conflict-related sexual violence: a framework for support in psychosocial settings. In: Lee, Sabine, Glaesmer, Heide und Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Abingdon, S. 136−151.
26 Baur-Timmerbrink, Ute (2015): Wir Besatzungskinder. Söhne und Töchter alliierter Soldaten erzählen. Berlin; Behlau, Winfried. (ed.) (2015): Distelblüten. Russenkinder in Deutschland. Ganderkesee.
27 Siehe zum Beispiel: In the Name of the Father: docu-dance theatre collaboration between alphagroup. Graz und University of Birmingham. https://www.the-alpha-group.org/current-production/ (Stand: 8.6.2022).
Prof. Dr. Sabine Lee schloss ihr Studium der Mathematik, Geschichte und Philosophie an der Universität Düsseldorf ab. Im Anschluss erwarb sie einen Master of Phil. in Internationalen Beziehungen und promovierte im Fach Neuere Geschichte an der Universität Cambridge. Im Jahr 1993 erhielt sie einen Lehrauftrag für Europäische Geschichte an der Universität Hull, bevor sie 1994 an das Institut für Neuere Geschichte der Universität Birmingham wechselte.
Prof. Dr. Heide Glaesmer schloss ihr Studium der Psychologie an der Universität Leipzig mit einem Diplom ab. Sie promovierte in Gesundheitswissenschaften/Public Health an der Technischen Universität Berlin und ist approbierte Psychotherapeutin in kognitiver Verhaltenstherapie. Sie ist stellvertretende Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig, wo sie das Forschungslabor für Psychotraumatologie und Migration leitet.