Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Es bleibt eine Entscheidung: Sexualisierte Gewalt in Kriegen und Konflikten
Sexualisierte Gewalt ist eine „billige Kriegswaffe ... billig, weil sie nichts kostet. Sehr effektiv, denn sie trifft nicht nur die Opfer, sondern ganze Familien und Gemeinschaften. Das ist biologische Kriegsführung. Es ist psychologische Kriegsführung.“ Diese Worte stammen von Pramila Patten, der UN-Sonderbeauftragten für sexualisierte Gewalt in Konflikten.1 Die Staats- und Regierungschefs der Welt schlossen sich dieser Ansicht vor Kurzem an, als sie zu den Vorwürfen der Vergewaltigung ukrainischer Frauen, Mädchen, Jungen und Männer durch russische Soldaten im aktuellen Krieg Stellung nahmen. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Venediktora bestätigte diese Aussage ebenfalls: Vergewaltigung komme „als Taktik bei der brutalen [russischen] Invasion“ zum Einsatz.2 In anderen Teilen der Welt sieht es nicht anders aus. Die Demokratische Republik Kongo etwa gilt als „internationale Vergewaltigungshochburg“3, weil es während der schwer zu bewältigenden Konflikte im Osten des Landes in unerhörtem Ausmaß zu verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt kommt. Während des Völkermords in Ruanda waren Vergewaltigungen weitverbreitet; sie wurden explizit als Waffe im Rahmen des Völkermords und der Kriegsführung bezeichnet. Auch im Nahen Osten, etwa im Irak und in Syrien, werden Vergewaltigung und Zwangsverheiratung gegen gegnerische Bevölkerungsgruppen (etwa die Jesiden in Syrien und der Türkei) eingesetzt und wurden daher als Kriegswaffen eingestuft.4 Die Täter ersinnen und instrumentalisieren sexualisierte Gewalt immer wieder aufs Neue für ihre Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und fügen damit der Menschheitsgeschichte ein besonders schreckliches Kapitel hinzu. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine beispielsweise vergewaltigte ein Täter nicht nur ein Kind, sondern filmte die Tat sogar und teilte das Video in den sozialen Medien mit dem Ziel, möglichst viele „Likes“ zu erhalten.5 Die Täter sorgen dafür, dass sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten immer und überall und über Generationen von Soldatinnen und Soldaten, von Nichtkombattantinnen und Kombattanten hinweg weitergegeben wird – in zwischenstaatlichen und nicht staatlichen Konflikten, in regulären militärischen Formationen und in irregulären Milizen, in regionalen Armeen und in UN-Missionen. Bei den Tätern handelt es sich fast immer um Männer; betroffen sind überproportional häufig Frauen, Jungen und Mädchen. Die Angriffe erfolgen sowohl willkürlich als auch systematisch; viele Betroffene erleben beides.
Konfliktbezogene sexualisierte Gewalt (CRSV) stellt eine schwerwiegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit durch eine andere Person dar und umfasst eine große Bandbreite an Schädigungen, darunter „Vergewaltigung, sexuelle Versklavung, Zwangsprostitution, Zwangsschwangerschaft, Zwangsabtreibung, Zwangssterilisation, Zwangsverheiratung und jede andere Form sexualisierter Gewalt von vergleichbarer Schwere, die gegen Frauen, Männer, Mädchen oder Jungen verübt wird und direkt oder indirekt mit einem Konflikt zusammenhängt“6. Unabhängig davon, ob die einzelnen Taten zufällig begangen oder systematisch geplant werden, hat sich die Kriegsführung durch konfliktbezogene sexualisierte Gewalt – um die eingangs zitierten Äußerungen Pramila Pattens aufzugreifen – auf eine biologische und psychologische Ebene verlagert. Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit, die Gewalt mit geeigneten Maßnahmen nachhaltig zu verhindern und ihre Folgen zu bewältigen.
Eine willkürlich oder systematisch eingesetzte Kriegswaffe trifft nicht nur die unmittelbar Angegriffenen, sondern wirkt sich potenziell auch auf die Menschen in deren Umfeld aus. Dies kann lebenslange Folgen sowohl für die Betroffenen selbst (falls sie überleben) als auch für ihre Familien und Gemeinschaften nach sich ziehen. Die erfolgreiche Entwicklung von Maßnahmen zur Beendigung dieser Gewalttaten hängt entscheidend davon ab, ob wir die Verhaltensmuster und Beweggründe solcher Einzelpersonen und Gruppen nachvollziehen können, die der Zivilbevölkerung derartiges Leid zufügen.
Warum zum Beispiel kommt es im Krieg Russlands gegen die Ukraine zu sexualisierter Gewalt? Warum prägt sie nach wie vor die meisten Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent? Warum war sie während des Zweiten Weltkriegs in Europa so weit verbreitet? Warum verüben gut ausgebildete Soldaten, zum Beispiel als UN-Peacekeeper, sexualisierte Gewalt genau an den Menschen, die sie laut ihrer Mission schützen sollen? Mit anderen Worten: Was veranlasst einen Kämpfer mitten in einem gewalttätigen Konflikt dazu, Zivilistinnen und Zivilisten sexualisierte Gewalt zuzufügen? Was könnten mögliche Auslöser oder begünstigende Faktoren sein?
Gesicherte Belege aus allen Konfliktgebieten lassen darauf schließen, dass sexualisierte Gewalt in verschiedenen Subkontexten stattfindet und von unterschiedlichen Akteuren und Faktoren beeinflusst wird – einschließlich persönlicher und zwischenmenschlicher Faktoren sowie soziokultureller Zusammenhänge. Die Daten zeigen, dass sich die Gewalttaten sowohl spontan als auch organisiert oder in institutionalisierter Form ereignen und innerhalb der Tätergruppen sogar gutgeheißen werden können.7 Die Betroffenen werden den Berichten zufolge von einzelnen Tätern oder auch von mehreren Personen vergewaltigt, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in privaten Umgebungen. Diese Subkontexte können entscheidend dazu beitragen, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und zu verstehen, warum manche Menschen sexualisierte Gewalt ausüben und andere sich bewusst dagegen entscheiden.
Eine Betroffene, die 2004 im frühen Teenageralter von der zwischen 1987 und 2008 in Norduganda operierenden Rebellengruppe Lordʼs Resistance Army (LRA)8 entführt wurde, berichtete von einem „mitfühlenden" Kämpfer: Dieser hatte beobachtet, wie Soldatentrupps sie nacheinander vergewaltigten, und nutzte einen günstigen Moment, um ihr zur Flucht zu verhelfen. Genau wie seine Kameraden habe der Mann ihr befohlen, ihm zu einem nahe gelegenen Gebüsch zu folgen. Dort sagte er ihr, dass er sie nicht vergewaltigen würde, sondern mit ihr fliehen wolle, da er mit dem Verhalten seiner Kameraden nicht einverstanden sei. Einige Tage später erreichten sie den Heimatbezirk der jungen Frau in Norduganda, wo ihr Weggefährte sich den nationalen Streitkräften ergab. „Der Mann hat mich nie angefasst, obwohl es für ihn ein Leichtes gewesen wäre. Denn nach wochenlangen Übergriffen hatte ich [den Widerstand] längst aufgegeben.“ Flucht oder die Beihilfe zur Flucht Gefangener bedeutete bei der LRA den sicheren Tod – dies ist vielfach dokumentiert.9 Der Retter der jungen Frau folgte zweifellos seinem inneren, bei Christina Lamb zitierten „Ehrenkodex“ und riskierte dafür sein Leben. Mit seiner Entscheidung, sie zu verschonen, widersetzte er sich dem traditionellen Rollenverständnis militärischer Männlichkeit, welches Härte, Gewalt und Eroberungsverhalten in Kriegszeiten zur Norm erklärt.10
Eine andere Betroffene, die 1997 im Alter von 13 Jahren aus ihrer Schule entführt wurde, schildert in ihren Erinnerungen, dass sie mit einem älteren LRA-Kommandanten zwangsverheiratet wurde und schließlich zwei Kinder zur Welt brachte.11 Diese beiden Fälle zeigen die verschiedenen Subkontexte konfliktbezogener sexualisierter Gewalt innerhalb desselben Konflikts: Im ersten Fall geschieht sie spontan, im anderen Fall ist sie systematisch bzw. institutionalisiert. In der ersten Situation, in der die militärische Führung sexualisierte Gewalt nicht befiehlt, sondern sie duldet, fördert oder gar keine Kenntnis davon hat, geht es um das Verhalten der einzelnen Männer. Bis in die jüngste Zeit wurde die fast überall in und nach Konflikten verbreitete sexualisierte Gewalt hauptsächlich damit erklärt, dass sich Männer ihre „Kriegsbeute“ nähmen und „sich nie ändern“ würden. Ab Ende des 20. Jahrhunderts wurde dieser Ansatz, nicht zuletzt aufgrund der Veränderungen in der Kriegsführung, durch die Theorien ersetzt, die sexualisierte Gewalt als „Kriegswaffe“ beschrieben. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird das Konzept der militärischen Männlichkeit in die Analysen einbezogen.
Spontane und systematisch verübte Gewalt: Gibt es eine freie Entscheidung?
In vielen Konflikten wird sexualisierte Gewalt nicht befohlen. Vielmehr entscheiden einzelne Personen sich dazu, ohne dass ihre Vorgesetzten davon erfahren. In anderen Fällen werden die Taten geduldet oder von der militärischen Führung befördert, wie etwa im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre im westafrikanischen Sierra Leone.12 In solchen Fällen sind die Soldaten bei der Entscheidung über „Richtig und Falsch“ sich selbst überlassen. Oft werden die Opfer als Kriegsbeute betrachtet und behandelt, mit der der einzelne Soldat (die Täter sind überproportional häufig männlich) nach eigenem Gutdünken verfahren kann – was, wie das Beispiel des geretteten Mädchens zeigt, dem alten Narrativ „Männer werden sich nie ändern“ neue Nahrung gibt. In den meisten Fällen wird die Gewalt daher als selbstverständlich hingenommen und gilt als „unvermeidliche Begleiterscheinung des Kriegs“13. Sie ist Teil dessen, was während eines Konflikts erwartet wird, und stellt gleichsam die gerechte „Belohnung“ für die „Risiken und Opfer“ dar, die die Soldaten erdulden müssen.14
In fast allen Fällen „spontaner“ Gewalt haben die Beteiligten die Wahl, sich für die richtige Seite zu entscheiden. Wie der oben erwähnte LRA-Soldat, der die junge Frau rettete, hat der Einzelne durchaus die Möglichkeit, sich aus der Tiefe der eigenen Ressourcen heraus (zum Beispiel Spiritualität, Achtung von Nichtkombattanten, Güte, Gerechtigkeitssinn, Mitgefühl) auf das eigene Gewissen zu besinnen, potenzielle Opfer zu schützen und dazu beizutragen, den Kreislauf der sexualisierten Gewalt im Konflikt zu durchbrechen – und zwar nicht nur, indem er sich weigert, sich an Gewalttaten zu beteiligen, sondern auch, indem er andere davon abhält. Indem sich der einzelne Soldat dafür einsetzt, sexualisierte Gewalt im Konflikt zu beenden, bezeugt er seine „Achtung vor der Menschlichkeit“. Diese wird sich nur mithilfe des gesunden Menschenverstands und der Ideale, die einen guten Soldaten ausmachen, zu einer festen Größe ausbilden lassen, um Entscheidungen über Recht oder Unrecht zu treffen, wenn keine direkten, auf Kampfhandlungen gerichteten Befehle vorliegen.
In anderen Fällen wie dem der entführten und zwangsverheirateten jungen Frau ordnen die militärischen Befehlshaber der Konfliktparteien Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt gegen gegnerische Gemeinschaften an und setzen sie systematisch ein.15 Oft dient sexualisierte Gewalt (als Kriegswaffe) der „militärischen Unterwerfung des Feindes“: Frauen und Kinder werden vergewaltigt, um die Männer zu demoralisieren und Frauen, Kinder und zivile Gemeinschaften, die mit den gegnerischen Kombattanten in Verbindung stehen, zu beherrschen.16 Die Täter üben sexualisierte Gewalt dann oft mehr oder weniger öffentlich aus und zwingen die Familienangehörigen der Betroffenen unter Androhung des Todes, zuzusehen oder sich an den Taten zu beteiligen.17 Solche Taten zielen nicht nur darauf ab, das einzelne Opfer zu demütigen, sondern ganze Familienverbünde und die örtlichen Gemeinschaften zu zersetzen. Auf diese Beschädigung – die Entweihung des Selbst wie auch des erweiterten Selbst – bezieht sich auch Pramila Patten.
Wenn die Konfliktparteien ein ähnliches Verständnis von Normen und Werten haben, können sich Vergewaltigung und sexuelle Gewalt massiv auf das „erweiterte Selbst“ auswirken und sowohl direkt als auch indirekt das gesamte soziokulturelle Gefüge der Betroffenen und ihrer Gemeinschaften in Mitleidenschaft ziehen. Dies war etwa während des Völkermords in Ruanda 199518 und in Bosnien-Herzegowina19 sowie während des Krieges der Lord’s Resistance Army in Norduganda zu beobachten. Im Laufe des dortigen 20-jährigen Bürgerkriegs (1987−2008) entführte die LRA Tausende von Frauen, Kindern und Jugendlichen und institutionalisierte Vergewaltigung durch die Praxis der Zwangsehen.20 Wenn die Täter wissen, welche Bedeutung Normen, Überzeugungen und Praktiken zum Thema Sex und Sexualität für die Betroffenen und ihre Gemeinschaften haben, können sie sich dies für ihre Angriffe zunutze machen.
Vergewaltigungen haben deshalb in vielerlei Hinsicht weitere, „nicht konventionelle“ Bedeutungen, die die Angreifer ausnutzen können. In Norduganda zum Beispiel verstanden die betroffenen ethnischen Gruppen die sexualisierte Gewalt als „Verstoß gegen die moralische Ordnung“21. Es wird vermutet, dass dieser Verstoß zu einem kollektiven Trauma führte, das üblicherweise harmonische Beziehungsgeflecht der Familien und Gemeinschaften beeinträchtigte und deren Reproduktion gefährdete. In vielen weiteren Fällen konfliktbezogener sexualisierter Gewalt in afrikanischen Gesellschaften, die aufgrund der dort geltenden Normen und Praktiken vergleichbar sind, griffen die Täter somit gezielt die Werte an, mit denen diese Gemeinschaften ihr Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen und festigen.
Der Fall der LRA geht darüber sogar noch hinaus, denn die Rebellenführung institutionalisierte die Zwangsverheiratung hauptsächlich, um die Geburt der „neuen Acholi“ – also jener ethnischen Gruppe, zu der die LRA-Führung gehörte – zu erzwingen. Die Rebellengruppe nutzte das Mittel der Entführung zur Zwangsrekrutierung Tausender Kinder und Frauen. Mädchen und Frauen wurden, wie im oben beschriebenen Fall der jungen Grace Acan, als „Ehefrauen“ in die Gemeinschaft eingebunden. Die Neugeborenen, so das Kalkül, sollten über ihre Sozialisierung zu den neuen Acholi werden. Für die Menschen in Norduganda, deren Töchter von der LRA zwangsverheiratet wurden, war es, als habe man deren „Gebärmutter gekapert“.22 Sowohl die Rebellen, die zur Regulierung dieser Praxis sogar einen eigenen Moralkodex entwickelten, als auch ihre früheren Ältesten verstanden, was dies bedeutet und nach sich zieht: die Entweihung und Niederlage der einen und die Fortpflanzung und den Sieg der anderen. Für die Ältesten kam die Vergewaltigung einer Tochter im Krieg nicht nur einer „militärische Niederlage“ ihrer Gemeinschaft gleich, sondern auch einem Angriff auf ihre Lebensweise insgesamt, mit verschiedenen wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und politischen Auswirkungen. Sexualisierte Gewalt kann daher als eine Waffe bezeichnet werden, mit der wesentliche Lebensprozesse der Zielgruppen unterbrochen und zum Erliegen gebracht werden. Darüber hinaus müssen die betroffenen Gemeinschaften langfristige, sogar generationenübergreifende physische und psychosoziale Folgen tragen, etwa die Ansteckung mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten, die Entstehung von Fisteln, die Geburt von Kindern sowie psychische Erkrankungen. Und damit ist noch nicht das ganze Ausmaß des Schadens beschrieben, den sexualisierte Gewalt als Waffe in den betroffenen Gemeinschaften anrichten kann.
Über Grenzen und Disziplin
Sexualisierte Gewalt ist in Post-Konflikt-Gemeinschaften nach wie vor weitverbreitet. Sie wird von Fremden, Sexualpartnern, Vätern, Brüdern und weiteren Personen verübt, die die Betroffenen kennen. In Friedenszeiten wird gemeinhin vorausgesetzt, dass etablierte gesellschaftliche Normen, Werte und Strukturen einen schützenden Rahmen für die körperliche Unversehrtheit der Menschen schaffen, und dass Täter, wenn sie gefasst werden, durch Gewohnheitsrecht oder andere Rechtssysteme zur Verantwortung gezogen werden.
Auch im Kriegszustand gehorchen Gesellschaften einem System oder bestimmten Regeln; es gilt das Kriegsvölkerrecht, an das sich viele Staaten im Konfliktfall halten. Es gibt Regeln zu Kombattanten, Nichtkombattanten, Kriegsgefangenen, zum Umgang mit der Zivilbevölkerung, der Presse, medizinischen und humanitären Helfern et cetera. Allerdings halten sich immer weniger Akteure daran – weder an das Ius ante bellum (das regelt, welche Kriege zur Selbstverteidigung zulässig sind, mit der Ausnahme von Angriffskriegen zur Veränderung international anerkannter Grenzen) noch an das (oft humanitäre) Ius in bello (das die Konfliktparteien an die von ihnen ratifizierten internationalen Abkommen bindet).
Doch unabhängig davon, ob sexualisierte Gewalt unter Zwang verübt wird oder nicht, müssen wir uns fragen: Haben Menschen überhaupt den Entscheidungsspielraum, die Wahl, diese Grenze nicht zu überschreiten? Ihre Beteiligung oder ihre Komplizenschaft zu verhindern? Zu welchem Zeitpunkt wäre dies überhaupt möglich? Der LRA-Kämpfer ehrte einerseits sich selbst, indem er Grenzen setzte und diese nach außen projizierte, um die missbrauchte junge Frau zu schützen. Er entschied sich sozusagen dagegen, an ihrem Körper in Wettbewerb über Männlichkeitsvorstellungen zu treten – und indem er ihr zur Flucht verhalf, nahm er anderen die Möglichkeit, sie weiter zu missbrauchen. Männer wie er zeigen, dass konfliktbezogene sexualisierte Gewalt selbst innerhalb der Tätergruppen ständig umstritten ist. Einige schrecken nicht davor zurück, die Zivilbevölkerung anzugreifen. Andere hingegen, wie der Retter des Mädchens, verweigern die Beteiligung an solchem Übel.
Warum? Weil sexualisierte Gewalt für sie ein Unrecht darstellt, ungeachtet aller Umstände. Solche Menschen rechtfertigen ihre eigenen Entscheidungen nicht mit veränderten Bedingungen. Vielmehr zeigen sie, dass Kombattanten durch ihr eigenes Handeln Kontexte (neu) definieren und tatsächlich den Krieg moralisch prägen können, sowohl auf individueller als auch auf systemischer Ebene. Diese moralische Prägung beginnt nicht erst, wenn die Soldaten bereits im Gefecht stehen, und sie sollte nicht dem Zufall überlassen werden. Sie muss sich auch nicht auf spontane Entscheidungen begrenzen. Soldaten und Soldatinnen müssen vielmehr in ihrer Ausbildung, während und nach einem Konflikt bewusst und gezielt darauf vorbereitet werden. Sie alle haben einen unterschiedlichen familiären Hintergrund und wurden anders erzogen, daher haben sie auch unterschiedliche Vorstellungen vom Leben und von Lebensführung. Solche Fragen können im Rahmen der militärischen Ausbildung und Erziehung offen geklärt werden, um ihnen die notwendigen Instrumente und Unterstützungsangebote an die Hand zu geben, damit sie die richtigen Entscheidungen treffen und schwierige Situationen in einem Konflikt bewältigen können.
Um konfliktbezogener sexualisierter Gewalt umfassend und nachhaltig vorzubeugen, müssen diejenigen regionalen, staatlichen und internationalen Gremien, die befugt sind, den Rahmen der Kriegsführung zu setzen, einschließlich der direkt für die Truppenaufsicht zuständigen Stellen, sowohl im Frieden als auch in Kriegszeiten bestimmte Maßnahmen durchsetzen. Hierzu gehören die Einrichtung von Mechanismen zur Überwachung und Meldung sexualisierter Gewalttaten in Kriegen und Konflikten, die Erhebung und Analyse von Daten über das Verhalten von Soldatinnen und Soldaten, geschlechtersensible, inklusive Mechanismen der Übergangsjustiz sowie die konsequente strafrechtliche Verfolgung der Täter. Zudem sollte militärisches Personal (einschließlich der Kommandeure) innerhalb der Ausbildung klarer in Fragen von Recht und Unrecht unterwiesen werden.
3 BBC News (2010): UN official calls DR Congo ‘rape capital of the world.’ 28.4. news.bbc.co.uk/2/hi/8650112.stm (Stand: 13.6.2022). Zu konfliktbezogener sexualisierter Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo siehe auch: Kristof, Nicholas D., und WuDunn, Sheryl (2010): Die Hälfte des Himmels: Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen. München.
6 Conflict-Related Sexual Violence: Bericht des UN-Generalsekretärs, 2019. (Übersetzung aus dem Englischen.)
7 Wood, Elisabeth J. (2014): Conflict-related sexual violence and the policy implications of recent research. In: International Review of the Red Cross. 96 (894), S. 457−478. https://doi:10.1017/S1816383115000077 (Stand: 25.5.2022); Eriksson Baaz, Maria und Stern, Maria (2013): Sexual Violence as a Weapon of War? Perceptions, Prescription, Problems in the Congo and Beyond. London, 2013; Kirby, Paul (2013): How is Rape a Weapon of War? Feminist International Relations, Modes of Critical Explanation and the Study of Wartime Sexual Violence. In: European Journal of International Relations, Bd. 19, Nr. 4, S. 797−821.
8 Z. B. Carlson, Khristopher und Mazurana, Dyan (2008): Forced Marriage within the Lord’s Resistance Army, Uganda. Tufts University Feinstein International Center, May.
9 Acan, Grace (2018): Not Yet Sunset: A Story of Survival and Perseverance in LRA Captivity. Kampala; Carlson, Khristopher und Mazurana, Dyan (2008). (Übersetzung aus dem Englischen.)
10 Z. B. Eriksson Baaz, Maria und Stern, Maria (2009): Why Do Soldiers Rape? Masculinity, Violence, and Sexuality in the Armed Forces in the Congo (DRC). In: International Studies Quarterly, Bd. 53, Nr. 2, S. 495−518.
11 Acan, Grace (2018).
12 Wood, Elisabeth J. (2014); Eriksson Baaz, Maria und Stern, Maria (2010): The Complexity of Violence: A Critical Analysis of Sexual Violence in the Democratic Republic of Congo (DRC), Working Paper, The Nordic Africa Institute, Sida, May.
15 Siehe z. B. Baines, Erin (2014): Forced Marriage as a political project: sexual rules and relations in the LRA. In: Journal of Peace Research 51 (3), S. 405−417.
16 Card, Claudia (1996): Rape as a Weapon of War. In: Hypatia 11 (4), S. 5−18. https://doi:10.1111/j.1527-2001.1996.tb01031 (Stand: 25.5.2022); Stop Rape Now: UN Action Against Sexual Violence in Conflict. https://www.un.org/womenwatch/feature/wps/StopRapeNow_Brochure.pdf (Stand: 25.5.2022).
17 PLoS Medicine Editors (2009): Rape in war is common, devastating, and too often ignored. In: PLoS Medicine, 6 (1), e21. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000021 (Stand: 25.5.2022).
18 Card, Claudia (1996); Human Rights Watch (1996): Shattered lives: Sexual violence during the Rwandan genocide and its aftermath. http://www.hrw.org/reports/1996/Rwanda.htm (Stand: 26.5.2022).
19 Siehe: Notes. In: Heineman, Elizabeth D. (Hrsg.) (2011): Sexual Violence in Conflict Zones: From the Ancient World to the Era of Human Rights. Philadelphia, S. 257−320. https://doi.org/10.9783/9780812204346.257 (Stand: 26.5.2022).
21 Siehe: Liu Institute for Global Issues und das Gulu District NGO Forum (2007): ‘Abomination’: Local belief systems and International Justice. Field Notes, 5.9.2007. (Übersetzung aus dem Englischen.)
22 Siehe: Apio, Eunice Otuko (2016): Children born of war in northern Uganda: kinship, marriage, and the politics of post-conflict reintegration in Lango society. Diss. University of Birmingham. (Übersetzung aus dem Englischen.)
Dr. Eunice Otuko Apio ist Anthropologin, Romanautorin und Menschenrechtsaktivistin. Sie lebt und arbeitet in Uganda. Sie forscht zu den Themenbereichen Gender, Konflikte, infolge konfliktbezogener sexualisierter Gewalt geborene Kinder sowie Post-Konflikt-Gesellschaften. Als Forschungsstipendiatin an der Universität Birmingham führt Dr. Apio zurzeit gemeinsam mit Prof. Janine N. Clark eine vom Europäischen Forschungsrat finanzierte vergleichende Fünfjahresstudie zur Resilienz von Betroffenen konfliktbezogener sexualisierter Gewalt durch (September 2017 bis August 2022).