Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
"Frauen und Mädchen bleiben bei der Entwicklung und Ausrichtung humanitärer Hilfe häufig außen vor"
Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Naturkatastrophen, Flüchtlingskrisen oder bewaffnete Konflikte alle Menschen auf die gleiche Weise treffen, sagt Isadora Quay von CARE. Ganz im Gegenteil: Es ist nicht nur unerlässlich, ein Verständnis für strukturelle Ungleichheiten und die Diskriminierung von Frauen zu entwickeln, sondern auch, die genderspezifischen Verwundbarkeiten zu erkennen, sobald sich eine humanitäre Krise abzeichnet. In diesem Interview mit „Ethik und Militär“ gibt sie zahlreiche Erklärungen und Beispiele, von der Corona-Pandemie bis hin zu genderspezifischen Programmen und Frauen als Krisenmanagerinnen in Afrika.
Frau Quay, könnten Sie uns zunächst kurz Ihre Tätigkeit beschreiben?
Ich bin bei CARE die Koordinatorin für Genderfragen in humanitären Krisen. CARE ist ein sehr großer Verband mit mehr als hundert nationalen Büros. Ich koordiniere zwischen all diesen verschiedenen Ländern mit ihren unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen. Meine Aufgabe ist es, unsere strategische Ausrichtung für Genderfragen in Krisensituationen festzulegen. Ich kümmere mich auch darum, entsprechende Strukturen zu schaffen und deren Ausstattung mit den erforderlichen Fachkräften sicherzustellen.
Worin besteht der Unterschied zwischen den Aufgaben von Genderberaterinnen und -beratern, den sogenannten Gender Advisors, und Ihrem Verantwortungsbereich?
Gender Advisors sorgen als technische Beratung dafür, dass die genderspezifischen Probleme verstanden werden, die in Krisensituationen auftreten. Und dass wir sie als Hilfsorganisation entsprechend berücksichtigen. Wir verfügen über einen großen Schatz an Erfahrungen, Instrumenten und Ansätzen, die wir nutzen können, um diese Probleme zu erkennen und auf sie zu reagieren. Gender Advisors sind oft zuständig für die Leitung spezieller Hilfsprogramme, etwa im Bereich geschlechtsspezifische Gewalt, „Frauen, Frieden und Sicherheit“, Partizipation oder wirtschaftliche Teilhabe.
Seit wann spielen Genderaspekte bei humanitären Einsätzen und in der Arbeit von CARE eine Rolle?
Mitte der Neunzigerjahre, nach der Konferenz von Peking, haben die Organisationen der Vereinten Nationen sich als Erste zur Berücksichtigung von Genderfragen auch im humanitären Bereich verpflichtet. Diese Verpflichtungen auf höchster Ebene fanden nach und nach Eingang in die Praxis. CARE hat 2009 eine Koordinationsstelle geschaffen sowie eine Strategie für Genderfragen in der Nothilfe entwickelt. Im Vergleich zu anderen Organisationen ähnlicher Größe haben wir eines der größten Teams für Gender in der humanitären Hilfe. Ich bin seit 2013 in einer Reihe ähnlicher Funktionen tätig, und wir haben uns in den letzten zehn Jahren intensiv damit beschäftigt, diese Vorhaben in die Praxis umzusetzen – sie sind zwar populär, stellen uns manchmal aber vor große Herausforderungen.
In dem vor einigen Jahren von CARE veröffentlichten Bericht „Women and Girls in Emergencies“1 heißt es, dass „die besonderen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen bei humanitären Einsätzen und deren Finanzierung nach wie vor unzureichend berücksichtigt werden". Wurden in der Zwischenzeit Fortschritte erzielt?
Die erste Strategie zu Genderfragen in humanitären Krisen wurde 2009 erarbeitet. Zu dieser Zeit gab es in der gesamten Organisation nur eine Person, die auf dieses Thema spezialisiert war. Jetzt arbeiten mehr als 44 erfahrene Kolleginnen und Kollegen in diesem Bereich. Einige von ihnen leiten eigene Teams, was sich wiederum auf die Finanzierung auswirkt. Das von uns entwickelte Toolkit, das wir seit 2013/2014 einsetzen, hat uns sehr geholfen, die unterschiedlichen Bedürfnisse von Männern, Frauen, Mädchen und Jungen in humanitären Krisen zu erforschen und zu verstehen. Auch im Bereich der Genderanalyse hat sich sehr viel getan. 2020 haben wir mehr als 50 Gender-Schnellanalysen (Rapid Gender Analysis)2 durchgeführt. Das ist eine hilfreiche Methode, um die genderspezifischen Aspekte einer Krise und der Gesellschaft, in der sie auftritt, schnell zu erheben – häufig auch angereichert durch Befragungen. Seitdem sind die Zahlen jedes Jahr ähnlich hoch, nicht nur bei CARE, sondern auch bei vielen anderen Organisationen, die dieselbe Methodik anwenden. Die Verfügbarkeit von Genderanalysen für die Begleitung humanitärer Hilfe hat also erheblich zugenommen, auch wenn sich die praktische Umsetzung teilweise immer noch als schwierig erweist und sicherlich noch nicht den Umfang erreicht, den wir uns eigentlich vorstellen.
Lassen Sie uns ein wenig tiefer in Ihre eigene Tätigkeit einsteigen. Warum ist es so wichtig, Genderfragen in die humanitäre Hilfe einzubeziehen?
Erstens geht es bei der humanitären Hilfe um Menschen allgemein. Genderfragen einzubeziehen bedeutet nicht, dass es nur um Frauen und Mädchen geht, sondern vielmehr auch um Männer, Jungen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und jüngere Kinder. Menschen haben zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens unterschiedliche Bedürfnisse, je nachdem, in welcher Situation sie sich befinden. Genau auf diese Unterschiede kommt es an. Wir dürfen unsere Augen nicht vor gesellschaftlichen Problemen verschließen, zumal diese in einer humanitären Krise nicht nur fortbestehen, sondern sich oft verschärfen. Man kann also zum einen mit dem gesunden Menschenverstand argumentieren.
Genauso kann man auch grundlegende Prinzipien anführen. Es ist ungerecht, wenn humanitäre Hilfe nur von Männern und nur aus einer männlichen Perspektive heraus konzipiert wird. Dass dies passiert, wurde erst kürzlich am Beispiel von Corona-Schutzkleidung deutlich. Manche Schutzanzüge passten Frauen nicht richtig, weil sie nur für Männerkörper entworfen wurden – selbst solche einfachen Dinge werden nicht beachtet! Wer Schutzkleidung entwirft, die Frauen nicht passt – dabei stellen Frauen die Mehrheit der weltweit im Gesundheitswesen Beschäftigten –, gewährt ihnen weniger Schutz. 51 Prozent der Weltbevölkerung sind weiblich. Dennoch bleiben Frauen und Mädchen bei der Entwicklung und Ausrichtung humanitärer Hilfe häufig außen vor.
Die Pandemie soll die Situation von Frauen in vielerlei Hinsicht verschlechtert haben. So waren diese zum Beispiel durch die Zunahme von Kontrollposten zur Durchsetzung von Lockdown-Maßnahmen und Ausgangssperren in vielen Ländern einem höheren Risiko für Übergriffe und sexuelle Belästigung durch Polizisten und Soldaten ausgesetzt.
Das stimmt. Während humanitärer Krisen können wir Ähnliches beobachten, etwa bei der Wasserversorgung. Wenn Toiletten oder Wasserentnahmestellen in einem Flüchtlingscamp ausschließlich von Männern betreut werden und viele Frauen in der Schlange stehen, steigen das Risiko und die Häufigkeit von sexueller Ausbeutung und von Übergriffen.
Die Daten zeigen, dass geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt insbesondere in Krisen und bewaffneten Konflikten zunimmt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Tatsächlich lässt sich geschlechtsspezifische Gewalt in allen Arten von Krisen beobachten – nicht nur während eines Konflikts, in dem die Streitkräfte präsenter sind und eine Militarisierung der Gesellschaft insgesamt stattfindet. Auch während der Corona-Pandemie oder bei Naturkatastrophen nehmen Menschenhandel und Gewalt in verschiedenen Ausprägungen zu. Offenbar sind hohe Stressbelastungen ein Nährboden für schädliche Verhaltensweisen – und geschlechtsspezifische Gewalt gehört immer dazu. In diesem Punkt stimmen alle verfügbaren Daten überein. Aber ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet, daher kann ich Ihnen keinen Grund nennen. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Fachleute eine endgültige Antwort darauf geben können …
… das ist auf jeden Fall Grund zur Sorge ...
… aber es gibt umfangreiche Forschung, die zeigt, dass geschlechtsspezifische Gewalt zu den ersten Formen von Ungleichheit gehört, die Menschen in ihrem häuslichen Umfeld erfahren, und dass diese Gewalt sich weiter fortsetzt. Die Arbeit von Valerie Hudson zu diesem Thema ist sehr aufschlussreich. Sie befasst sich mit allen Formen der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Ihre empirischen Untersuchungen, die sich auf konkrete Zahlen und Daten stützen, zeigen, dass Länder mit einem höheren Grad an geschlechtsspezifischer Ungleichheit im häuslichen Umfeld – und diese Länder sind rund um den Globus zu finden – mit höherer Wahrscheinlichkeit in Konflikte geraten. Die familiären Strukturen sind dabei der entscheidende Faktor. Hudson argumentiert, dass die im Elternhaus erlernte Unterdrückung, meist aufgrund des Alters oder des Geschlechts, später in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft und in der Gesellschaft weiter praktiziert wird. Daraus entstehen konkrete Formen der Unterdrückung bis hin zu Konflikten.
Schauen wir auf frauen- bzw. genderspezifische Bedürfnisse in Krisenzeiten im Allgemeinen: Wie gehen Sie vor, um genderspezifische Hilfe zu leisten? Sichere Räume für Frauen in Flüchtlingscamps etwa reichen möglicherweise nicht aus.
Zuallererst müssen wir verstehen, wie sich eine Krise jeweils auf Männer, Frauen, Mädchen und Jungen sowie alle weiteren Geschlechtsidentitäten auswirkt und wie sich die Lage aus Sicht aller Betroffenen entwickelt. Natürlich können wir nicht warten, bis die perfekte Analyse vorliegt, weil wir ja gleichzeitig mit unserer Hilfe dringende Bedürfnisse stillen wollen. Aus diesem Grund ist die Gender-Schnellanalyse bewusst als „unvollkommenes“ Instrument konzipiert. Wir veröffentlichen die Ergebnisse innerhalb von 24 oder 48 Stunden nach Ausbruch einer Krise, dann noch einmal innerhalb der ersten zwei Wochen und erneut nach sechs bis acht Wochen. Auf diese Weise können wir direkt Programme aufsetzen und laufend Änderungen und Verbesserungen vornehmen, sobald wir mehr Informationen erhalten – und diese Flexibilität ist wichtig.
Wie bereits erwähnt wissen wir schon im Voraus, dass in einem gewissen Umfang Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt erforderlich werden, da diese leider immer auftritt und sich immer verschärft. Wir haben auch Belege dafür, dass die Teilhabe von Frauen in Krisenzeiten grundsätzlich zurückgeht, obwohl gleichzeitig auch neue Möglichkeiten für Frauen entstehen, sich einzubringen. Nur wenn wir dies im Auge behalten, werden die Stimmen der Frauen in Bedarfserhebungen sowie vor Ort Gehör finden. Dies sind die Grundpfeiler unserer Arbeit im Bereich Gender und humanitäre Hilfe bei CARE.
Wie könnte Teilhabe von Frauen in Zeiten aussehen, in denen die allergrundlegendsten Bedürfnisse befriedigt werden müssen? Besteht nicht die Gefahr, dass Genderfragen aufgrund der Dringlichkeit der Situation zum zweitrangigen Thema werden?
Selbst in einer humanitären Notlage kann es sehr wichtig sein, die Betroffenen zu fragen, was sie wirklich brauchen, und flexibel darauf zu reagieren. Ich erinnere mich an eine Situation in einem Camp in den kurdischen Autonomiegebieten im Irak. Ich fragte den irakischen WASH-Ingenieur (die Abkürzung steht für Water, Sanitation, Hygiene, Anm. d. Red.), übrigens wie alle anderen Teammitglieder ein überaus gebildeter Mensch, ob er schon an die Küchen gedacht habe. Er erzählte, dass er das Thema genau an jenem Tag bei der Gemeinschaftsbesprechung eingebracht habe. Ich sagte: „Okay, super – und wer ist bei dieser Besprechung dabei?" Er antwortete: „Die Familienoberhäupter.“ Als ich ihn fragte: „Hm, und diese Männer, stehen die eigentlich oft am Herd?“, versprach er sofort, sich bei einigen der Frauen, die sich in diesem Camp um die Essenszubereitung kümmerten, nach ihren Vorstellungen zu erkundigen.
Wie Sie bereits erwähnt haben, bedeutet die Einbeziehung der Genderperspektive nicht nur den Blick auf die Bedürfnisse der Frauen und Mädchen. Warum und wann sollten wir auch die Situation der Jungen und Männer berücksichtigen?
Natürlich gibt es Krisen, die die Männer und Jungen in besonderer Weise betreffen. Doch für diejenigen, die humanitäre Hilfe leisten, sind diese Probleme nicht immer leicht zu erkennen. Ich kann Ihnen etwa von Flüchtlingscamps in Kenia berichten, in denen ausschließlich junge Männer lebten, die nicht kochen konnten. Ein anderes Beispiel: Jungen sind deutlich häufiger von Zwangsrekrutierungen betroffen. Und in der Flüchtlingskrise in Griechenland waren mehr als 70 Prozent der Geflüchteten männlich – hauptsächlich unbegleitete afghanische und syrische Männer und eine großen Zahl Minderjähriger. Acht- oder zwölfjährige Jungen, die auf der Insel Lesbos auf der Straße leben, haben sicherlich andere Probleme als junge Mädchen, aber auch sie sind gefährdet.
Einige Hilfsorganisationen konzentrieren sich ausschließlich auf Frauen und Mädchen, und das kann bei bestimmten Themen durchaus sinnvoll sein. CARE legt aber Wert darauf, in der humanitären Hilfe die Rollen und Beziehungen aller Betroffenen zu verstehen. Auch wenn wir in unserer Arbeit die Teilhabe von Frauen verbessern wollen, dürfen wir nicht unter den Tisch fallen lassen, wie und wo Männer Entscheidungen treffen. In diesem Fall konzentrieren wir uns vielleicht auf die Lücke, die wir schließen möchten, aber wir ignorieren die Männer und Jungen deshalb nicht. Eine humanitäre Krise gefährdet alle, aber eben auf unterschiedliche Weise. Bestimmte Gefahren, die sich durch systemimmanente Ungleichheit ergeben, bleiben zudem manchmal im Verborgenen.
Strukturelle Ungleichheiten in einer Gesellschaft führen meist zu einer unverhältnismäßig starken Gefährdung der Frauen. Der Ansatz von CARE ist es, mehr Gleichberechtigung und Empowerment zu erreichen. Ist humanitäre Hilfe also nicht neutral?
Neutralität und Unparteilichkeit sind sehr wichtige Grundpfeiler unserer Arbeit. Aber wir arbeiten mit ihnen in Gesellschaften, die auf vielen Ebenen von grundlegender Ungleichheit geprägt sind. Ich schließe mich Valerie Hudsons These an, dass eine der ersten Ungerechtigkeiten, die wir im Elternhaus erfahren, die geschlechtsspezifische Ungerechtigkeit ist. Selbst in Europa wenden Frauen deutlich mehr Zeit für Haushalt und Kinderbetreuung auf als Männer. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie als geeignete Kandidatinnen für eine Führungsposition angesehen werden, ist sehr viel geringer. Und das liegt an Vorurteilen und Traditionen. Ungerechtigkeit verändern und bekämpfen zu wollen, halte ich für sehr moralisch. Durch die humanitäre Hilfe können wir einige Veränderungen praktisch umsetzen. Konflikte und Krisen fügen allen schreckliches Leid zu, aber sie können auch Gelegenheiten bieten, die Geschlechterrollen auf eine Art und Weise zu verändern, die sich in Friedenszeiten so vielleicht nicht ergeben würden.
Andererseits wird es oft als Einmischung empfunden, wenn wir kulturell gewachsene Geschlechternormen in anderen Gesellschaften hinterfragen. Wie sehen Sie diesen Punkt? Hat der Westen zum Beispiel versucht, Afghanistan seine eigenen Standards aufzuzwingen?
Ich meine, dass wir die Verantwortung haben, uns für die Beendigung von Ungleichheit einzusetzen. Andererseits glaube ich auch – und viele muslimische Feministinnen würden mir hier sicherlich zustimmen –, dass Ungleichheit ein globales Phänomen ist. Unser Vorgehen sollte also mit Bedacht auf das jeweilige Land zugeschnitten sein. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen schätzen die traditionellen Werte ihrer Gesellschaften und wollen ihr Land und dessen Kultur nicht pauschal ablehnen. Gleichzeitig wollen sie etwas verändern, weil sie der Ansicht sind, dass das derzeitige System nicht für alle gerecht ist. Die Behauptung, Kultur sei statisch, ist doch ein Mythos. Die Sozialanthropologie zeigt, dass sie sich ständig wandelt und neu erfunden wird. Wussten Sie, dass einige der ältesten Schriften über Frauenrechte aus dem Iran stammen? Die Vorstellung, dass wir diese Debatte nur in Westeuropa und Nordamerika führen, scheint mir viel eher einer westlich zentrierten Sichtweise zu entspringen.
Die Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit unterstreicht die Bedeutung der Teilhabe von Frauen an der Prävention und Beilegung von Konflikten. Beschäftigen Sie sich auch damit?
Wir haben das umfangreiche Programm „Women Lead in Emergencies“ ins Leben gerufen, an dem unsere Kolleginnen und Kollegen aus der politischen Lobbyarbeit sowie das Programmteam für Genderfragen in humanitären Krisen nun schon seit einigen Jahren arbeiten. In den verschiedensten Krisengebieten auf der ganzen Welt, von Kolumbien über die Philippinen bis zum Südsudan, tun sich Frauen solidarisch zusammen. Allerdings bilden sie dabei meist informelle Gruppen. Von außen betrachtet wirkt es vielleicht so, als säßen in den Führungsgremien überhaupt keine Frauen. Aber bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass sie ihre eigenen Wege gefunden haben, um sich gegenseitig zu unterstützen und dem Bedürfnis nach Vernetzung Rechnung zu tragen. Wir machen diese Gruppen ausfindig und unterstützen sie dabei, aktiv zu werden. Wir geben ihnen nicht vor, dass sie eine bestimmte Anzahl Toiletten bauen oder an bestimmten Konferenzen teilnehmen sollen. Sie bekommen ein bestimmtes Budget und entscheiden selbst, welche Maßnahmen für ihre jeweilige Gemeinschaft wichtig sind.
Mich würde sehr interessieren, wie das in der Praxis aussieht.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Die Arbeit in der Provinz Zinder im Niger ist aufgrund der massiven Vertreibungen dort sehr schwierig. Die Frauen, die wir unterstützten, fuhren mit als Erstes zum Bürgermeister in der nächsten Stadt, um für ihr Anliegen zu werben. Ein Flüchtlingscamp in der Nähe war sehr groß geworden und brauchte eine Schule. Und wissen Sie was? Sie bekamen die Schule! Kurz darauf stiegen sie wieder in den Bus zum Bürgermeisterbüro, weil sie das Wasserholen zu viel Zeit kostete. Dass sich Frauen derart mobilisieren, kannte man dort nicht, und schon wenige Tage später wurde ein neuer Brunnen gebohrt. Die politischen Entscheider und einheimischen Männer waren beeindruckt. Sie selbst hatten das Thema nämlich schon seit Ewigkeiten vorangetrieben und dachten sich: „Wow, diese Frauen haben echt Power!“
Im Südsudan haben Frauen in ihren Flüchtlingscamps Friedenskonferenzen organisiert und die erste Vereinigung geflüchteter Frauen im Südsudan gegründet. Das war genau das, was sie wollten. Diese Beispiele zeigen, wie positiv es sich auf die Frauen selbst, aber auch auf die Gemeinschaft auswirken kann, wenn wir Führungsverantwortung und Teilhabe von Frauen als integralen Bestandteil der humanitären Hilfe sehen.
Während wir dieses Interview führen, dauert der verheerende Krieg in der Ukraine an. Können Sie uns eine kurze Gender-Schnellanalyse der wichtigsten Herausforderungen für die humanitäre Hilfe geben?
Die Krise zeigt bereits jetzt starke geschlechtsspezifische Dimensionen – in Bezug darauf, wer im Land bleibt und wer es verlässt. Das hat große Auswirkungen auf die Erfahrungen, die die Menschen machen: Familientrennung und -zusammenführung, Menschenhandel (wir sehen ein erhöhtes Risiko für diejenigen, die das Land verlassen haben), den Schutz von Kindern oder das unmittelbare Erleben des Konflikts. Wir unterstützen in der Ukraine auch kleinere, von Frauen geführte Organisation im Rahmen des Programmes „Women Lead in Emergencies“. Dort gibt es eine sehr starke Frauenrechtsbewegung, die sich nun auch humanitär engagiert und auf Unterstützung angewiesen ist. Das ist etwas, was mir Hoffnung gibt.