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Zunehmende Komplexität und Unsicherheit als zukünftige Herausforderungen für die NATO und den Westen

Die NATO steht vor einem beispiellosen Spektrum von Sicherheitsrisiken im euroatlantischen Raum. Das Auftauchen bzw. Wiederaufleben staatlicher Akteure als potenzielle Kontrahenten, gepaart mit der zunehmenden Bedrohung durch den Terrorismus, hat zu einer erneuerten Schwerpunktlegung auf Abschreckung und Verteidigung geführt. Anhaltende transnationale Herausforderungen wie organisierte Kriminalität, Klimawandel oder wirtschaftliche Instabilität vergrößern die Unsicherheit und Komplexität unseres Sicherheitsumfelds zusätzlich. Da wir in einer globalisierten Gesellschaft leben, können wir die Entwicklungen jenseits unserer Grenzen nicht ignorieren.

Das Allied Command Transformation (ACT) der NATO – mit Sitz in Norfolk, Virginia – hat zur Aufgabe, die NATO mit relevanten militärischen Kapazitäten in der richtigen strategischen Ausrichtung auszustatten, um aktuelle, aber viel mehr noch um zukünftigen Herausforderungen zu begegnen und der NATO jetzt und auf absehbare Zeit Relevanz zu verleihen.

Gleichzeitig unterstreicht dies die Notwen­digkeit der Stabilitätsprojektion. Auf dem War­schauer Gipfel 2016 beschloss die NATO, ihre strategische Ausrichtung in einem 360-Grad-­Ansatz anzupassen. Die Staats- und Regierungschefs bestätigten dabei erneut, dass die drei Kernaufgaben – Bündnisverteidigung, Krisenbewältigung und kooperative Sicherheit – weiterhin gültig bleiben. Um ihre Leistungs­fähigkeit aufrechtzuerhalten, hat die NATO daher einen Anpassungsprozess in Gang gesetzt, bei dem unter anderem das ACT die Richtung vorgibt.

Drei wichtige Fragen setzen dabei den Rahmen:
Verstehen wir den Kontext und die Entwicklungen in unserer Sicherheitsumgebung vollständig?
Haben wir die richtigen Fähigkeiten, um sich entwickelnden Bedrohungen zu begegnen?
Halten wir mit der Geschwindigkeit des Wandels Schritt, und passen wir uns im gesamten Spektrum der vernetzten Sicherheit an (z. B. Regierungen, ziviler Sektor, Militär, Wirtschaft, Kultur, Nichtregierungsorganisationen)?

All dies erfordert eine Allianz, die strategisch aufmerksam, flexibel und agil genug ist, um gleichzeitig zu entscheiden, zu operieren und sich anzupassen. Geschieht dies nur halbherzig, könnte die NATO sich in der Zukunft im herkömmlichen Sinne als dominant und gleichzeitig praktisch als irrelevant erweisen. Natürlich hat sich die NATO schon vorher angepasst, aber das neue, aktuelle Sicherheitsumfeld zeigt uns, dass wir nicht allzu viel Zeit haben, um den richtigen Weg zu finden. Wir müssen bereit sein, belastbar und ausdauernd. Um die Anpassung des Bündnisses richtig zu gestalten, müssen wir unsere Prozesse und unsere Anpassungsfähigkeit beschleunigen, unser Situationsbewusstsein erhöhen und uns auf die Herausforderungen der Zukunft, nicht die der Vergangenheit vorbereiten. Die heute getroffenen Entscheidungen müssen mittel- und langfristige Auswirkungen mitberücksichtigen. Zudem müssen wir ehrgeizig und innovativ sein. Vielleicht müssen wir sogar den Begriff „Innovation“ im militärischen Kontext neu definieren.

All dies erfordert ein besseres Verständnis dessen, was uns heute umgibt und in Zukunft umgeben wird. Dabei geht es nicht darum, die Zukunft vorherzusagen, sondern allgemeine Trends zu erkennen. Das ACT veröffentlichte seine erste Ausgabe der Strategic Foresight Analysis (SFA) im Jahr 2013. Aber tatsächlich gehen deren Ursprünge zurück in das Jahr 2009, als das ACT vom heutigen US-Verteidigungsminister James Mattis geführt wurde. Damals initiierte er das Multiple Futures Project als solide Grundlage für einen Großteil unserer strategischen Planung. In diesem Schlüsseldokument wurden bereits viele künftige Trends, Bedrohungen und Anforderungen registriert, die die Anpassung der militärischen Ausrichtung der NATO seit den Gipfeln von Wales und Warschau vorangetrieben haben.

Ziel der überarbeiteten SFA 2017 ist nach wie vor ein gemeinsames Verständnis vom strategischen Sicherheitsumfeld der Zukunft. Sie beschreibt die wichtigsten politischen, sozialen, technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen Trends der kommenden Jahre und die sich daraus ergebenden Sicherheitsfolgen für das Bündnis und seine Mitgliedsstaaten. Gestützt auf ein professionelles militärisches Urteilsvermögen, hilft die SFA, sowohl die Gegenwart zu verstehen als auch die Zukunft zu visualisieren, damit sich die NATO anpassen kann.

Darüber hinaus entwickeln sämtliche Mitgliedsstaaten ihre eigenen Foresight-Dokumente. Erst die Zusammenführung all dieser verschiedenen Perspektiven verleiht der SFA einmaliges Gewicht. Sie dokumentiert nicht nur ein Verständnis, das von 29 alliierten Nationen geteilt wird, sondern ist auch das Resultat eines umfassenden Ansatzes, der sich sowohl aus der Expertise der NATO-Staaten speist als auch die Kompetenz von Partnernationen, anderen internationalen Organisationen, Think­tanks, der Industrie und der Wissenschaft einfließen lässt.

Die SFA entsteht vor allem in enger Abstimmung mit der Europäischen Union. Die im November 2017 erschienene Analyse „Shaping the Future of Geopolitics“ des European Strategy and Policy Analysis Systems (ESPAS) und die SFA haben sich in ihrer Entstehung wechselseitig bereichert. Da 22 Nationen in beiden Organisationen Mitglied sind, sollten eine gewisse Überschneidung und gleiche Einschätzungen in den Dokumenten nicht überraschen, sondern als Ausdruck gemeinsamer Stärke und geteilter Resilienz sowie als gemeinsame Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit bewertet werden.

Um einen gemeinsamen Standpunkt der 29 Alliierten auszudrücken, nimmt die SFA 2017 darüber hinaus auch abweichende Meinungen in bestimmten Punkten auf, in denen keine Übereinstimmung erzielt werden konnte. Dies unterstreicht den Anspruch auf größtmögliche Objektivität.

Die SFA bildet die gedankliche Grundlage für das Framework for Future Alliance Operations (FFAO), welches zu Beginn dieses Jahres von den beiden strategischen Kommandos der NATO veröffentlicht wurde. Dieses Dokument geht einen Schritt weiter, indem es anhand einer Reihe von instabilen Szenaren aus der SFA militärische Implikationen für die nächsten Jahre ableitet. Es identifiziert Charakteristika und Bedingungen für die zukünftigen Fähigkeitsprofile der Allianz, damit diese im Sicherheitsumfeld von morgen Herausforderungen bewältigen, aber auch Chancen nutzen kann.

Dies wirft die Frage auf, was genau die bedeutendsten Veränderungen und Trends seit der SFA 2013 sind und welche wesentlichen Auswirkungen sich daraus für die Allianz ergeben könnten.

Machtverschiebung als Herausforderung für den Westen

Die während der letzten Jahre im asiatisch-­pazifischen Raum zu beobachtende geostrategische Machtverschiebung hat nun einen entscheidenden Wendepunkt erreicht. Durch sie ist das Wiederaufleben von Machtpolitik in dieser Region unübersehbar geworden. China nutzt seine ökonomische Stärke zur Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben, die als Grundlage einer entstehenden globalen Machtstrategie dienen. Das benachbarte Indien geht den gleichen Weg. Es könnte so mittelfristig vergleichbaren Einfluss gewinnen. Zur gleichen Zeit tritt Russland wieder auf den Plan und will als Großmacht wahrgenommen werden. Es stellt die nach dem Ost-West-Konflikt etablierte Ordnung im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion infrage, indem es sich fehlende Einigkeit und Entschlossenheit westlicher Nationen zunutze macht.

Schließlich bildet sich ein breites Spektrum nicht staatlicher Akteure mit beachtlichen Ressourcen und Ambitionen heraus – von terroristischen Gruppierungen bis hin zu global agierenden Unternehmen –, die Einfluss auf Gesellschaften, Regierungen und internationale Institutionen nehmen. Dieser Trend, in Verbindung mit einem zunehmenden Vertrauensverlust gegenüber Regierungen und Institutionen, bedingt eine Reihe von Konsequenzen für die Allianz.

Zunächst stellt die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Machtkonflikten die auf festen Regeln beruhende internationale Ordnung infrage und beeinträchtigt unmittelbar den Zusammenhalt der Allianz. Darüber hinaus erfordern die zunehmende Komplexität des Sicherheitsumfelds und die große Diversität der Akteure die Entwicklung einer globalen strategischen Aufmerksamkeit der NATO die über den euroatlantischen Raum hinausgehen muss. Drittens wird die NATO in dieser beispiellosen Bandbreite und Vielzahl globaler Entwicklungen ihre Zusammenarbeit mit bestehenden Partnern, anderen internationalen Organisationen oder relevanten nicht staatlichen Akteuren verstärken und einen wirksamen Dialog mit den aufstrebenden Mächten aufnehmen müssen, um vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu entwickeln.

Die steigende Innovations­geschwindigkeit wird unsere Gesellschaften verändern

Neue Technologien bilden zweifelsohne den am schnellsten wachsenden und sichtbarsten Trend. Die buchstäblich disruptive Natur mancher Technologien hat bereits begonnen, unseren Alltag und die Gesellschaften, in denen wir leben, zu verändern. Der Anstieg der Rechenleistung wird zusammen mit künstlicher Intelligenz (KI) und autonomen Systemen den technologischen Fortschritt weiter beschleunigen. Die Entwicklung globaler Netzwerke erleichtert den Zugang zu neuen Technologien und Informationen sowie deren Verbreitung an Einzelpersonen. Hinzu kommt, dass Regierungen ihre treibende Rolle bei der Entwicklung von Spitzentechnologien verlieren, was zu einer übermäßigen Abhängigkeit vom kommerziellen Sektor, einschließlich in Souveränitätsbereichen wie Verteidigung und Sicherheit, führt; auch dieser Trend wird sich wahrscheinlich fortsetzen. Für die NATO resultiert daraus eine Bedrohung durch unsere potenziellen Gegner, die sich den leichteren Zugang zu disruptiven Technologien nutzbar machen. Dies schließt sogar einzelne Akteure ein. Daher wird das Bündnis mit dem Tempo dieser Entwicklungen Schritt halten und sich an die entsprechende Geschwindigkeit anpassen müssen. Ein Paradigmenwechsel in unseren Beschaffungsprozessen wird erforderlich sein, damit wir innovative Lösungen schneller in unser Fähigkeitsprofil integrieren können.

Start-ups geben eigenes Geld für Forschung und Entwicklung aus. Wenn der Markt ihre Produkte annimmt, machen sie ein Vermögen, wenn nicht, wenden sie sich anderen Ideen zu und entwickeln etwas Neues. Wenn wir dieses Modell jedoch mit unseren staatlichen Beschaffungsprozessen vergleichen, müssen wir anerkennen, dass wir in der Regel staatliche Gelder für die Konzeptentwicklung und das Experimentieren ausgeben. Anstatt ein Rüstungsprojekt aufgrund neuer Rahmenbedingungen zu stoppen, fühlen wir uns an die Millionen gebunden, die wir bereits ausgegeben haben, und weichen deshalb häufig nicht von jenen Entscheidungen ab, die wir 15 Jahre zuvor getroffen haben.

Dies entspricht nicht der Innovationsgeschwindigkeit der Welt, in der wir letztlich wirksam werden sollen. Unser Geschäftsmodell unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht, wir konzentrieren uns oft eher auf Prozesse als auf das Ergebnis.

Die Vereinigten Staaten haben 2014 ihre dritte Offset-Strategie veröffentlicht, um sicher­zu­stel­len, dass die USA den globalen technolo­gi­schen Vorsprung im Verteidigungssektor behalten und sich auf die fortschrittlichsten Technologien konzentrieren. Viele Technologien, die ursprünglich für andere Zwecke entwickelt wurden, wurden als relevant für das heutige und zukünftige Militär identifiziert. Andere globale Großmächte von einer militärischen Konfrontation mit den USA abzuschrecken und hierzu die fortschrittlichsten Technologien zu nutzen ist der Zweck der dritten Offset-Strategie.

Für die NATO ist es ebenso unerlässlich, die Ausgaben für die fortschrittlichsten Verteidigungstechnologien zu erhöhen. Die USA haben den Europäern ermöglicht, an einigen ihrer Fähigkeitsprogramme teilzunehmen. Ein gemeinsamer Fokus für die NATO und die USA ist dabei die Verbesserung von Mensch-Maschine-Schnittstellen. Maschinen verdrängen den Menschen zunehmend in der Datenverarbeitung. Wir müssen Mittel und Wege finden, um dies zu unserem Vorteil zu nutzen. Darüber hinaus könnten die ungleichmäßigen technologischen Entwicklungsgeschwindigkeiten in den verschiedenen Bündnisstaaten zu Kompatibilitätsproblemen innerhalb der NATO führen. Unterschiedliche ethische und rechtliche Interpretation und Akzeptanz führen zu unterschiedlichen Verbreitungsgraden von neuen technologischen Entwicklungen und zu einer Abneigung, mit Nationen zu kooperieren, die diese Technologien in ihren Operationen einsetzen.

Der technologische Vorsprung und die neuesten Gadgets, die unsere soziale Interaktion, unser Konsumverhalten, unsere Planungen und unser gesamtes wirtschaftliches Verhalten einem stetigen Wandel unterwerfen, haben ihren Ursprung nicht mehr im militärischen Bereich. Die Informationsumgebung entwickelt sich zu einem neuen Schlachtfeld, in dem Daten die wichtigste strategische Ressource sind. Dies erfordert adaptive Denkweisen, technologisches Bewusstsein, angemessene politische Maßnahmen und rechtliche Rahmenbedingungen, um die Einführung neuer Technologien zu erleichtern und ein Höchstmaß an Interoperabilität für Fähigkeiten sicherzustellen, die zunehmend miteinander verbunden sein werden.

Bei alldem müssen wir uns der Auswirkungen auf den Menschen als unsere wichtigste Ressource bewusst sein und eine Änderung von Denkmustern bewirken, um relevant zu bleiben. In der internationalen Gemeinschaft wird beständig diskutiert, wie einschlägige Rechtsnormen – etwa das Kriegsvölkerrecht, Menschenrechte und Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten – umgesetzt werden. Es besteht ein wachsender Konsens über die Notwendigkeit, internationale Normen auf das Gebiet der KI und autonomer Systeme anzuwenden. Da wir diesbezüglich am Anfang eines politischen Prozesses stehen, könnte die NATO die Dis­kussionen maßgeblich mitgestalten und vorantreiben.

Tatsächlich wird die Komplexität zu einer ech­ten Herausforderung, wenn wir uns den rechtlichen Rahmen und die eng damit verbundenen ethischen Aspekte genauer ansehen. Welche Entscheidungszyklen sehen wir für den Einsatz von unbemannten und halbautonomen Systemen vor? Künstliche Intelligenz wird unweigerlich zu autonomen Selbstlernplattformen führen. Solche sind bereits technologisch entwickelt, wenn auch nicht vollständig einsatzbereit.

Haben wir die dafür notwendigen rechtlichen Anpassungen in Betracht gezogen? Sind wir im Prozess der ethischen Diskussion auf der Höhe der technischen Entwicklung? Sind wir uns der Sorgen, Bedenken und Ängste unserer Bürger ausreichend bewusst?

Wie auch immer die Diskussion sich dreht und wendet, wir werden unsere westlichen Gesellschaften miteinbeziehen müssen. Wir können jedoch diese technologischen Entwicklungen nicht wegwünschen – wenn wir sie nicht annehmen, werden andere es tun. Daher müssen wir bereit sein, gegen die von ihnen ausgehende Bedrohung abzuschrecken und uns zu verteidigen. Unsere potenziellen Gegner verwenden zunehmend globale Netzwerke, um falsche oder irreführende Informationen zu verbreiten und so die öffentliche Meinung und die Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie weder rechtliche Einschränkungen formulieren noch ethische Debatten führen werden, die wir selbst jedoch werden führen müssen.

Die NATO wird nicht nur Kapazitäten entwickeln müssen, mit denen sie Veränderungen im Informationsraum erkennen kann, um strategisch wachsamer zu werden und einen agilen Ansatz in der strategischen Kommunikation zu wählen. Von gleicher Bedeutung ist, dass die NATO und ihre Mitgliedsstaaten die Widerstandsfähigkeit gegen falsche Informationen erhöhen – falsche Informationen, die von Gegnern verbreitet werden, welche sich nicht an die gleichen Normen, Regeln und rechtlichen Rahmenbedingungen gebunden fühlen.

Was bedeutet das konkret für den Bereich der Abschreckung?

Veränderte Gesellschaften könnten das Bündnis beein­flussen

Eine zunehmende Urbanisierung wird zu größerer Konkurrenz um Ressourcen und mög­licherweise gar zu Knappheit führen. Zukünftige Konflikte könnten sich daran entzünden, wer kritische Infrastrukturen besitzt und kontrolliert. Die Verstädterung wird zusätzliche Verwundbarkeit bezüglich der Verteilung verfügbarer Ressourcen entstehen lassen. Darüber hinaus wird die alternde Bevölkerung weiterhin die Gesundheits- und Sozialsysteme vor Herausforderungen stellen und möglicherweise die notwendigen Budgets für Vertei­digung und Sicherheit limitieren. Des Weiteren nimmt die Polarisierung der Gesellschaften zu, wovon in erster Linie die westlichen Nationen betroffen sind, weil sie auf eine unüberschaubare Vielzahl individueller Lebensentwürfe und größtmögliche Anerkennung von Minderheiten setzen.

All diese Faktoren werden die Instabilität und das Risiko großer Migrationsbewegungen, in­ne­rer Unruhen und möglicherweise sogar von Bürgerkriegen erhöhen. Folglich muss die NATO bereit sein, in stark urbanisierten Umgebungen zu operieren. Daher werden die damit verbundenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in die Planung und Durchführung von NATO-geführten Operationen integriert.

Das Verständnis von Zivilschutz und wechselseitiger Verflechtung verschiedener staatlicher Dienste unter den alliierten Nationen wird also ein entscheidender Faktor sein, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu verbessern und Resilienz zu entwickeln.

Bedrohungen und strategische Chancen durch Umwelt- und Klimaveränderungen

Der Klimawandel betrifft beinahe sämtliche Lebensbereiche und umfasst technische, rechtliche und politische Herausforderungen. Erhöhte Häufigkeit und erhöhtes Ausmaß von Naturkatastrophen werden das Sicherheitsumfeld weiterhin prägen. Da der Klimawandel immer besser erforscht wird, gilt es, die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der langfristigen Planung und Risikobewertung des Bündnisses zu berücksichtigen. Die folgenden Implikationen müssen dabei in Betracht gezogen werden:

Erstens wird die leichtere Erreichbarkeit der Arktis die Entfernungen zwischen Europa und Asien um ein Drittel verringern. Sie wird auch eine verstärkte militärische Nutzung der Regionen des hohen Nordens und der Arktis durch Freund oder Feind ermöglichen. Dies wird sich sowohl auf die Bedrohungsanalyse des Bündnisses für diese Regionen auswirken als auch erweiterte Möglichkeiten für unsere strategischen Lines of Communication bieten.

Zweitens besteht die Notwendigkeit, die Abhängigkeiten von Rohstoffen und kritischer Infrastruktur in militärischen Einsatzplanungen zu verringern. Extreme Wetterbedingungen, Fragen der Wasser- und Ernährungssicherheit sowie andere Klima- und Umweltstressoren müssen in die Lagefeststellung und Planung der Bündnispartner einbezogen werden.

Drittens werden Naturkatastrophen den Bedarf an humanitärer Hilfe erhöhen. Dass dies militärische Mittel bindet, muss ebenfalls in den Einsatzplänen berücksichtigt werden.

Strategische Schocks in noch nie da gewesener Größenordnung

Alle diese kurz dargestellten Trends könnten gleichermaßen zu Krisen führen. Die größte Gefahr besteht jedoch im Zusammentreffen dieser und vieler weiterer in der SFA beschriebener Trends, wodurch strategische Schocks in noch nicht gesehener Größenordnung ausgelöst werden können. Sind wir heute darauf vorbereitet, solche Schocks zu ertragen und abzufedern? Ziehen wir wirklich die möglichen Auswirkungen dieser Schocks in Betracht, und sind wir bereit, dafür zu planen? Oder ziehen wir es vor, derartige Szenarien zu ignorieren, weil wir Angst vor Debatten über ihre Konsequenzen und die Maßnahmen haben, die wir ergreifen müssten, um widerstandsfähig zu sein?

Welches Verständnis die alliierten Nationen von ziviler Bereitschaft und der Interdependenz zwischen den staatlichen Diensten haben, wird sich wesentlich darauf auswirken, ob sie Überlebensfähigkeit verbessern und Resilienz aufbauen. Der Aufbau von Resilienz erfordert bereits in Friedenszeiten eine dauerhafte Vernetzung zwischen zivilem, privatem und militärischem Sektor. Das Warten auf neue Krisen, um die Bedürfnisse und die erforderlichen Prozesse überhaupt erst zu benennen, wird zu Versagen und existenziellen Bedrohungen für unsere Nationen führen.

Es ist wichtig, ein gemeinsames Verständnis der zukünftigen Trends und ihrer Auswirkungen auf Sicherheit und Stabilität zu haben. Um diese Herausforderung zu meistern, leistet die SFA durch ihre gemeinsame Perspektive der 29 Mitgliedsstaaten einen wertvollen Beitrag als Grundlage für die Diskussion zukünftiger Trends, Bedrohungen und Herausforderungen und fördert insbesondere den Zusammenhalt des Bündnisses. Das Dokument wird uns ermöglichen, unsere nationalen Verteidigungspläne besser zu koordinieren, um uns der Zukunft zu stellen und neue Chancen zu nutzen.

Die SFA ist überdies das wichtigste Dokument für nationale Sicherheitsdoktrinen sowie für Verteidigungs- und Sicherheitsstrategien. Es wird den alliierten Nationen und Partnern helfen, Zukunftsperspektiven in die heutigen Entscheidungen einzubeziehen, und es dem Bündnis ermöglichen, sich permanent anzupassen.

Aber tatsächlich sind wir als ACT bestrebt, mehr als nur zu beeinflussen. Unser Ziel ist die Umsetzung der Ergebnisse von Warschau in einer größeren Perspektive und Kohärenz.

Es geht darum, das, was bereits existiert, besser zu nutzen, es durch bestehende Strukturen zu optimieren, es tagtäglich und dauerhaft zu nutzen, aber ohne dabei in die erste Reihe zu treten oder doppelte Arbeit zu leisten.

Dies könnte sich auf alles beziehen, mit dem wir uns beschäftigen: Führung, Fähigkeiten, Training und Übungen, Logistik und Partnerschaften. Und die Geschwindigkeit in diesem Prozess wird den Unterschied ausmachen, ob man einem potenziellen Gegner einen Schritt voraus ist oder nicht.

Unser Ziel ist es, Verbindungen zu knüpfen, zu bündeln, was in der NATO, in den Nationen und in anderen Organisationen zum Vorteil aller vorhanden ist. Und damit auch die nationalen Zuständigkeiten im Dienst des Bündnisses zu stärken. Aus diesem Grund konzentriert sich der Persistent Federated Approach des ACT nicht nur auf Command and Control, sondern auch auf Fähigkeiten, Logistik, die Art, wie wir trainieren und üben, und auf unseren Ansatz für Partnerschaften. Partnerschaften, die nicht auf Partnerstaaten beschränkt sind, sondern internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Industrie, Wissenschaft usw. ebenfalls umfassen.

Eine Persistent Federation für ein höheres Maß an Resilienz

Es geht um die ständige Verbesserung der Art und Weise, wie die NATO und die einzelnen Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten und kooperieren – unter Beibehaltung der vollen Souveränität und Kontrolle über ihre eigenen Strukturen und Mittel. Dies würde unter anderem die Vereinheitlichung von Richtlinien und Befugnissen erfordern. Schlüssel ist jedoch eine Veränderung der Arbeitsethik und -praxis.

Ein föderativer Ansatz würde durch die Einbeziehung der NATO-Staaten und ihrer Partner, des Privatsektors, der Wissenschaft und aller Quellen öffentlich zugänglicher Informationen Einblicke in eine spezifische Situation ermöglichen. Er würde ein verbessertes strategisches Lagebild ermöglichen, um Frühwarnung zu geben und sich verschlechternde Situationen frühzeitig einschätzen zu können. Solch ein Wechsel in Politik und Denkweise kommt nicht von einer Organisation selbst. Er beruht auf den Menschen in der Organisation, ihrer Neugierde, mit Veränderungen Schritt zu halten und sich ihnen anzupassen. Die NATO und ihre Bündnisstaaten müssen die Ungewissheit und die Notwendigkeit akzeptieren, aus der sich schnell verändernden Welt um uns herum zu lernen, und sie müssen ihre Interaktion verbessern, um ein gemeinsames, umfassendes Bewusstsein und ein höheres Maß an Resilienz zu erreichen. Heute zu verbessern, morgen zu gestalten und beides zu verbinden ist die treibende Kraft für das Allied Command Transformation.

Zusammenfassung

Admiral Manfred Nielson

Admiral Manfred Nielson ist seit 2016 Deputy Supreme Allied Commander Transformation in Norfolk, Virginia. Er hat Einheiten auf allen Ebenen kommandiert und hatte zahlreiche leitende Funktio­nen im Bundesministerium der Verteidigung inne. Nach der Beförderung zum Flottillenadmiral von war er von 2003 bis 2005 Kommandeur der Marineschule Mürwik in Flensburg und nahm von Mai bis Oktober 2003 als Commander Task Force 150 an der Operation Enduring Freedom teil. 2010 wurde er zum Vize­admiral befördert und zum Befehlshaber der Flotte in Glücksburg ernannt. Von 2012 bis 2015 war er Inspekteur der Streitkräftebasis in Bonn. Mit Übernahme der NATO-Aufgabe bei ACT erfolgte die Beförderung zum Admiral.


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