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Foresight und moderne Zukunfts­forschung: Möglichkeiten und Praxis

Über die ersten großen Zivilisationen ist bekannt, dass sich Menschen bereits vor Tausenden von Jahren mit Zukunft beschäftigt haben. Meist ging es um Wetterprognosen für die Landwirtschaft der Gemeinschaften, um Gesundheit und Schicksal, um Bedrohungen und auch um günstige Konstellationen für Kriegführung. So ist überliefert, dass Alexander der Große vor seinem langjährigen Eroberungszug nach Osten das Orakel von Delphi befragt haben soll, ob denn die Erfolgsaussichten günstig seien. 

Zukunftsdenken in der Neuzeit

Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich seitdem sehr verändert. Wirtschafts- und Produktionssysteme, Lebensweisen, Kultur und Glaubenssysteme, Technologien, Militär, Wissenschaften, Medien und Politik haben sich vor allem in ihren Formen sehr gewandelt. Und so lässt sich auch die Befassung mit künftigen Entwicklungen für Menschen heutzutage selbst im Alltag selten auf ein Ja oder Nein reduzieren, wie es vormals das Orakel oder heutzutage der Stammtisch oder Boulevardmedien suggerieren. Denn die Möglichkeitsräume für menschliches Verhalten sind prinzipiell sehr umfangreich. Und daher wird in der heutigen Soziologie auch von „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross) gesprochen. Hinzu kommt die zunehmende Beschleunigung von Veränderungen mit ihren vielfältigen Folgen und Herausforderungen für die modernen Menschen, Institutionen und Gesellschaften. Zu solchen Herausforderungen gehören – hier nur stichwortartig aufgeführt – Klimawandel bzw. Klimakatastrophe, technischer Wandel und speziell Digitalisierung, Individualisierung, Kommerzialisierung, Konzentration von Kapital und Urbanisierung. Zu dieser Verkomplizierung kommen zusätzlich die Bedingungen der Globalisierung hinzu, unter denen die räumliche Dimension und damit das Wahrnehmungs- und das mehr oder weniger bewusste Wirkungsfeld der Menschen noch mehr ausgeweitet wird. Die alltäglichen Unsicherheiten für heutige Menschen sind andere als vor Jahrtausenden, sie erscheinen weniger existenziell, aber sie sind wirkmächtig und beschäftigen uns mehr oder weniger bewusst.

Menschen vermögen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden. Zudem ist menschliches Handeln a priori und großenteils auf Zukunft ausgerichtet. Und insofern der Mensch eine Art „denkendes Tier“ ist, ist sein Verhalten auch nur teilweise durch Instinkte und simple Routinen geleitet. All das heißt, dass sowohl das individuelle als auch das kollektive Verhalten von Menschen extrem „kontingent“ ist und letztlich von unzähligen Faktoren und deren Zusammenspiel und Wahrnehmung beeinflusst wird. Prognosen menschlichen Verhaltens sind daher kaum oder nur unter bestimmten Umständen möglich. Die moderne, wissenschaftlich fundierte Zukunftsforschung und Vorausschau1 arbeitet deshalb nicht auf Prognosen hin, sondern auf eine möglichst gute und hinreichende Fundierung und Diskussion künftiger Möglichkeitsräume. So fasste es der frühere Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) Rolf Kreibich prägnant zusammen: „Man kann die Zukunft nicht vorhersagen, aber man kann wissenschaftliches Zukunftswissen erarbeiten und nutzen, um Zukünfte besser zu erfassen (mögliche, wahrscheinliche, wünschbare), und in einem partizipativ-demokratischen Prozess darauf hinarbeiten, dass Katastrophen vermieden werden und das Beste realisiert wird.“2

Bedarfe an Zukunftsdenken

Aus den geschilderten Phänomenen (Optio­nenvielfalt und Herausforderungen) lässt sich eine Art „objektiver Bedarf“ an Zukunftsforschung und Zukunftswissen ableiten. Das Nach- oder besser Vorausdenken über das Morgen und dessen Voraussetzungen ist somit keineswegs trivial. Denn insofern Menschen sich ihren Umwelten anpassen müssen und dies mehr oder weniger bewusst und gestaltend tun, gilt es für sie und die historisch ausdifferenzierten Institutionen und Professionen, nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart zu „verstehen“ bzw. für sich selbst „verständlich zu machen“, sondern mehr noch sich der Zukunft zu widmen, weil sich „dort“ die im Entstehen begriffenen Lebensräume der Menschen befinden werden und weil damit Unsicherheiten und entsprechende – womöglich gefährliche, teilweise sogar lebens- und existenzbedrohende – neue Herausforderungen, Gefahren und Risiken verbunden sein können. 

Im Verlauf der Geschichte haben sich die Formen des Umgangs mit Zukunft und der damit verbundenen Unsicherheit sehr gewandelt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts kann von einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Zukunftsdenkens gesprochen werden. Erste wichtige Impulse gingen von den Technikwissenschaften aus, in denen teilweise über die intendierten und nicht intendierten Folgen neuer Technologien und ihrer Anwendungen nachgedacht und geforscht worden ist. Sehr wichtige Impulse für die moderne Zukunftsforschung gingen auch von der militärischen Forschung aus. Hier agierten vor allem US-amerikanische Thinktanks, allen voran die RAND Corporation, die sich durch die Verknüpfung von drei neuen wissenschaftlichen Theorieansätzen hervortat: Kybernetik, Spieltheorie und Rational-Choice-Theorie. Der neue Ansatz Zukunftsforschung entstand indes erst, „nachdem sich um 1960 in einem transatlantischen Prozess europäische und US-amerikanische Wissensbestände zu Konzeptionalisierungen von Zukunftsforschung verbanden, welche dann auch wieder in die USA zurückwirkten“3. Seither sind vielfältige Ansätze entwickelt worden, sich mit jener Sphäre auseinanderzusetzen, die noch nicht realisiert ist, sich aber zumindest teilweise „abzeichnet“: mit Zukünften. Dies im Plural, denn solange sich nicht „eine Zukunftsoption“ durchgesetzt hat, gibt es zahlreiche Möglichkeiten von Zukunft. 

Inzwischen bestehen weltweit Arbeits- und Forschungszusammenhänge, die sich unter Nutzung von Konzepten und Methoden verschiedener Wissenschaftsdisziplinen mehr oder weniger systematisch zukünftigen Entwicklungen widmen. Großteils sind damit prag­matische Ziele und Vorgehensweisen verbunden, so in Bereichen wie Marktforschung, Stadtplanung, Organisationsentwicklung, Tech­nikgestaltung und Militär. Im Zuge der „reflexiven Moderne“ (Ulrich Beck) werden diese Aktivitäten weiter professionalisiert sowie teilweise wissenschaftlich fundiert mit entsprechenden Institutionen, Expertennetzwerken und im Hochschulbereich. 

Akteure und Institutionen von Zukunftsforschung

Eine besondere, voraussetzungsvolle Form des Umgangs mit Zukünften ist die wissenschaftlich fundierte Zukunftsforschung. Im Zuge der allgemeinen kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung haben sich in den letzten Jahrzehnten Forschungsbereiche wie Technikfolgenabschätzung und Technikvorausschau, Meteorologie und Klimaforschung, militärische Strategieentwicklung, Risikoforschung, Stadtplanung etc. herausgebildet, deren Arbeit auch durch rapide wachsende Computerkapazitäten (z. B. Modellierung, Visualisierung, Big Data) ­zunehmend unterstützt und erweitert worden ist. 

Darüber hinaus wurden im Laufe der vergangenen Dekaden vor allem in westlichen Ländern wie Deutschland immer mehr Kapazitäten und Formen von Zukunftsforschungskompetenzen geschaffen, sowohl im Bereich von Unternehmen als auch im staatlichen, also politisch-administrativen Bereich. Hierzu zählen vor allem Enquetekommissionen in Bundestag und Landtagen; das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB); Teams in Grundsatzabteilungen von Regierungen und Ministerien; Stabsstellen in Administrationen und Verwaltungen; Regierungskommissionen; von Ministerien in Auftrag gegebene Vorhaben; Teams, Kommissionen, Abteilungen in Parteien und Stiftungen; internationale Gremien (z. B. UN, SDSN, Weltbank, IPCC, Club of Rome, NATO). So wurden im Bundesverteidigungsministerium, im Auswärtigen Amt und im Bundesumweltministerium Zukunftsforschungskapazitäten geschaffen; in weiteren Ministerien wird derzeit darüber nachgedacht.4 Dabei geht es häufig darum, die von externen Zukunftsforscherinnen und -forschern eingeholten Expertisen hinreichend fundiert zu bewerten bzw. zu nutzen. 

Wissenschaftlich fundierte Zukunftsforschung

Schließlich fand auch eine Selbstprofessionalisierung der wissenschaftlichen Zukunftsforschung statt. So wurde 2007 von Zukunftsforscherinnen und -forschern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz das Netzwerk Zukunftsforschung gegründet.5 Verschiedene internationale Expertennetzwerke im Bereich der Zukunftsforschung gibt es schon seit Jahrzehnten. Und am Institut Futur der Freien Universität Berlin startete 2010 ein inter- und transdisziplinärer Masterstudiengang, der erste und bislang einzige akademische Studiengang für Zukunftsforschung in Deutschland, während es in verschiedenen anderen außereuropäischen Staaten bereits Studienmöglichkeiten im Bereich Zukunftsforschung gibt. Dort werden Grundlagen und Methoden zur Erforschung, Konstruktion und Reflexion von Zukunftsvorstellungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft vermittelt.6 

Bemerkenswert ist insgesamt die große Breite der methodischen Ansätze. Sie stammen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere den Sozialwissenschaften. Sie umfassen Trend- und Megatrendstudien, Szenarien sehr unterschiedlicher Art, Delphi-Befragungen, diverse Typen von Modellierungen, Nutzung von Bibliometrie und Big Data, bis hin zu Roadmapping und weiteren quantitativen Methoden sowie qualitativen Ansätzen. Für die fachliche Weiterentwicklung und Selbstprofessionalisierung wurde von einer Arbeitsgruppe im Rahmen des Netzwerks Zukunftsforschung ein wichtiges Handbuch verfasst.7 Dieses ist als Versuch konzipiert, erste Vorschläge und Anregungen für Standards und Gütekriterien im Bereich der Zukunftsforschung zu formulieren, um praxisnahe Orientierungen für Arbeit über Zukünfte zu bieten. Theoretisch bezieht sich moderne Zukunftsforschung auf diverse Gesellschaftstheorien und Gesellschaftsanalysen sowie auf Theorien des Wandels. Dies wird insbesondere in den universitären Arbeitszusammenhängen geleistet.

Für die systematische Suche und Priorisierung von gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends sowie von treibenden Faktoren wird häufig die STEEP-Methode genutzt. Damit werden verschiedene wichtige Bereiche von Ver­änderungsprozessen untersucht. Es handelt sich meist um die folgenden fünf Bereiche: Social, Technological, Economic (macro), Environmental, Political. Je nach Problemstellung werden gelegentlich auch die Bereiche Values (STEEPV) oder auch Military herangezogen (STEEPM). Jeder dieser Bereiche wird möglichst systematisch nach einflussreichen, wirkmächtigen Entwicklungen und treibenden Kräften und Akteuren untersucht. Zusätzlich werden dann die gegenseitigen Effekte und Wechselwirkungen eingeschätzt und Schlussfolgerungen für die eigenen Entscheidungen und Handlungen ausgearbeitet.

Trotz dieser positiven Entwicklungen vermag auch die moderne, wissenschaftlich fundierte Zukunftsforschung lediglich mehr oder weniger plausible, intelligente Schlaglichter auf die künftige Entwicklung aufzuzeigen. Vorhersagen sind wohl prinzipiell unmöglich. 

Trägheiten und Herausforderungen

Der Bedarf an wissenschaftlich fundierter Zukunftsforschung und reflektierter, evidenzbasierter Zukunftsgestaltung ist heute größer als je zuvor. Hier kann an einen Doyen der deutschen Zukunftsforschung angeknüpft werden: Ossip K. Flechtheim.8 Flechtheim hat Zukunftsforschung in einer historischen Phase, in der Grenzen der westlichen Entwicklungsmuster begannen, offensichtlicher und bewusster zu werden, eine große, vielleicht zu große Aufgabe zugesprochen: „Ähnlich wie die Medizin mit den Gebrechen und der Heilung des Menschen als Individuum zu tun hat, so muss auch die Futurologie die Gefahren und Bedrohungen des Kollektivs Menschheit heute und morgen diagnostizieren, prognostizieren und ‚therapieren‘.“9

Die heutigen Menschen und Institutionen haben sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts an eine Lebensweise gewöhnt (American Way of Life), die sich mittlerweile als höchst problematisch herausstellt, da sie systematisch, wiewohl unintendiert, die Voraussetzungen menschlichen Lebens und menschlicher Zivilisation unterminiert und zu zerstören im Begriff ist, wie unzählige Studien und Berichte zeigen. Diese durch westliche Medien und Werbung verbreitete Normalität nicht nachhaltiger Fehlentwicklungen wird auch in den meisten anderen Regionen der Welt als Ziel angesehen. Dabei ist eine Verallgemeinerung und Verbreitung des westlichen Lebensstils allein aus Gründen begrenzter Ressourcen nicht möglich. Daher wurde auch das Leitbild „Nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen geschaffen, und kürzlich wurden dessen Nachhaltigkeitsziele aufgestellt (Vereinte Nationen: Sustainable Development Goals der „Agenda 2030“).

Fatal ist nun – und dies stellt eine große Herausforderung für Zukunftsforschung dar –, die in unserer Kultur permanent erzeugten „Komfortzonen“  nicht zu hinterfragen und auch „unbequeme Wahrheiten“ (in Anlehnung an den Titel des bekannten Dokumentarfilms über die globale Erwärmung von Al Gore) nicht zu thematisieren. Denn durch die Erzeugung immer „neuer“ Produkte und Medieninhalte entsteht ein „rasender Stillstand“ (Paul Virilio), in dem Warnungen untergehen. Dass bedrohliche Entwicklungen und die damit einhergehende diffuse Angst und Unsicherheitsgefühle mit den Negativeffekten der eigenen konsumistischen und ausbeuterischen Lebensweise zu tun haben könnten, wird ausgeblendet und verdrängt. Für das Denken, das Nach- und Vorausdenken, ist die äußerst wirkmächtige Schwerkraft der Gewohnheit ein Normal- und ein Dauerzustand, der schwer aufzubrechen ist. Hier sollte Zukunftsforschung mehr als bisher als „Beobachter zweiter Ordnung“ (Niklas Luhmann) agieren, gesellschaftliche Reflexion und Selbstreflexion stärken und produktiv „irritieren“, um zu helfen, gefährliche Denkgewohnheiten und destruktive Verhaltensweisen zu überwinden.

Ein wichtiges und bekanntes Beispiel für die „Warnfunktion” vorausschauender wissenschaftlicher Erkenntnis war der Bericht Limits to Growth des Club of Rome von 1972. Mithilfe neuer Computermodelle wurde mittels verschiedener Varianten eingeschätzt, dass die Beibehaltung der üblichen Wachstumstrends (insbesondere Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerungsentwicklung) zu einem Kollaps von Gesellschaften führen könnte, vor allem weil Rohstoffe nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen. Diese Einschätzungen führten zu zahlreichen Veränderungen und Innovationen in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen. Die schlimmsten durch den Bericht abgeschätzten Folgen sind so bislang noch nicht eingetreten bzw. wurden in ihrer Dynamik reduziert. Teilweise fand ein Umdenken und alternatives Handeln statt.

Methodik am Beispiel Weak Signals

Moderne Zukunftsforschung kann sich beispielsweise im Bereich Sicherheitsforschung auf zahlreiche Erfahrungen und sozialwissenschaftliche Ansätze beziehen. Risikoforschung, Frühwarnsysteme, Technikfolgenabschätzung sind hierfür beispielhaft zu nennen. Zu dem Kanon häufig benutzter Methoden aus der Zukunftsforschung gehören auch Cross-Impact-Analysen, Delphi-Befragungen, Szenariotechniken oder Trendanalysen. Hinzu kommt seit einiger Zeit auch der in den 1970er-Jahren im Managementkontext von Igor Ansoff entwickelte Ansatz der Weak Signals.10 Damit sollten Unternehmen frühzeitig Veränderungen antizipieren und darauf reagieren können. In einer fünfstufigen Skala kategorisierte er den Übergang von schwachen zu starken Signalen und die angemessenen Reaktionen darauf. Auch in der Sicherheitsforschung stieß das Konzept auf Interesse, da durch eine rechtzeitige Detektion und Bewertung neuer bzw. zukünftig aufkommender Gefahren Sicherheitsrisiken minimiert oder vermieden werden könnten. 

Von zentraler Bedeutung ist hierbei, ob denn bestimmte Ereignisse und Signale tatsächlich schwache Signale sind, insofern sie sich zu relevanten Trends und einflussreichen Faktoren weiterentwickeln werden. Erfahrungsgemäß entwickeln sich schwache Signale entlang idealtypischer Stufen, die jeweils spezifische Phänomene und Merkmale aufweisen:11

  1. Weak Signal: No one knows
  2. Strong Signal: Can be spotted in research groups, think tanks etc.
  3. Trend: Appears in general contexts/can be recognized by several persons
  4. Megatrend: Significant and recognizable entity comprising phenomenon
  5. Driving force: Affecting whole societies

Entsprechend kann mittels Expertendialogen und verschiedener Verfahrensschritte und Tools (beispielsweise Horizon Scanning, Monitoring, Technological und Social Forecasting) versucht werden abzuschätzen, ob bestimmte Signale das Potenzial und eine hohe Wahrscheinlichkeit aufweisen, sich im Sinne dieser fünf Stufen zu entwickeln. 

Eine weitere konzeptionelle und methodische Herausforderung besteht darin, strukturelle Hürden bei der Gewinnung von Erkenntnissen durch Einzelpersonen und Gruppen zu überwinden. Ansoff beschreibt interne Strukturen als mögliche Filter, durch die eine Information gelangen muss, um wahrgenommen zu werden und auf diese Weise in die Entscheidungsfindung Eingang zu finden: der Surveillance-Filter, der Mentality-Filter und der Power-­Filter. Der Surveillance-Filter beschreibt die Eigenschaften der Akteure und der Institutionen bei der Suche nach (neuen) Informa­tionen. Strukturelle und methodische Krite­rien bestimmen in diesem Filter, ob überhaupt schwache Signale wahrgenommen werden (können). Hierbei spielt Kreativität eine besondere Rolle, da sie für den Prozess der Signalfilterung entscheidend ist. Der Mentality-Filter wird durch mentale Kriterien charakterisiert. Zur Erkennung neuer Informationen ist Voraussetzung, dass der Blick nach möglichen Wandlungsprozessen nicht versperrt ist und offen für neue relevante Fakten bleibt. Als letztes Charakteristikum weist der Power-Filter darauf hin, dass die Bewertung und Nutzung der In­formationen, die zuvor als mögliche Weak Signals identifiziert wurden, keineswegs zwangsläufig ist.

Erst auf der Ebene einer Entscheidung wird aus den Informationen eine Reaktion, die selbstverständlich auch die Form von Nichthandeln haben kann. Diese drei Filter, die Ansoff als strukturelle Herausforderung bei der Erkennung und Bewertung schwacher Signale beschrieben hat, bilden folglich neben dem Erkennen an sich die zweite Schwierigkeit im Prozess der Verwertung möglicher schwacher Signale. Das heißt, dass eine gewohnte und bequeme Denkstruktur aufgebrochen werden muss, um Neues sehen zu können. Er legt damit besonders nahe, auch dahin zu schauen, wo normalerweise vielleicht nicht hingeschaut wird, obwohl das Innovative und Neue häufig aus den Randgebieten und oppositionellen Milieus einer Gesellschaft bzw. der Weltgesellschaft kommt. Dies ist eine prinzipielle und generelle Herausforderung, die in der Zukunftsforschung und in der Foresight-Arbeit immer auftaucht und zu bewältigen ist. 

Nutzen von Zukunfts­forschung und Foresight – und Voraussetzungen

Sinnvoll und nützlich ist die Anwendung und Hinzuziehung von Foresight und Zukunftsforschung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Meist wird über Zukünfte in einfachen Formen nachgedacht, in eingefahrenen Bahnen, also unzureichend systematisch und unterkomplex, und ohne die Erfahrungen und die Expertise der modernen Zukunftsforschung zu berücksichtigen und zu nutzen. 

Auf einer theoretisch-konzeptionellen Ebene sind es Erweiterungen in drei Dimensionen, die Zukunftsforschung zu bieten hat. Inhaltlich können zusätzliche Perspektiven und Aspekte ergänzt werden („was“). In gesellschaftlicher Hinsicht können zusätzliche Gruppen und Organisationen als relevant erkannt werden („wer“). In der zeitlichen Dimension können durch Foresight und Zukunftsforschung neue Akzente gesetzt und zusätzliche, weitergehende Zeiträume berücksichtigt werden („wann“).

Etwas konkreter betrachtet können Zukunftsforschung und Foresight mehrere Beiträge für verbesserte Entscheidungen und Strategien leisten. Hierzu gehört vor allem die Unterstützung bei der Herstellung von Transparenz und Orientierungswissen für Entscheidungen, z. B. auch durch Visualisierung von Trends und den diversen Entwicklungsmöglichkeiten. Traditio­nelle Denkmuster können ausgeweitet und sinnvoll ergänzt werden. Damit kann eine wichtige Erweiterung der Handlungsoptionen erfolgen und können neue Lösungen gefunden werden. Foresight und Zukunftsforschung stärken ganzheitliches Denken und kompetenten Umgang mit Komplexität (allein schon aufgrund der multidisziplinären Ansätze). Schließlich wird es durch Zukunftsforschung erleichtert, implizite – und womöglich obsolete – Annahmen bewusst zu machen und zu explizieren. Diesen Aspekt betont auch die UNESCO-Foresight-Unit mit ihrem neuen Konzept der Anticipatory Assumptions (Riel Miller). 

Wer Menschen behandelt, wie sie sind, macht sie schlechter. 
Wer die Menschen behandelt, wie sie sein könnten, macht sie besser. 
(Johann Wolfgang Goethe)

Zukunftsforschung bzw. Foresight zu betreiben ist gleichwohl voraussetzungsvoll. So sollte eine Haltung der Offenheit gegeben sein, eine Erhöhung der individuellen sowie organisatorischen Aufmerksamkeit gegenüber neuen Informationen und Einschätzungen. Das Vorgehen bei der Suche nach künftigen Entwicklungen und Ereignissen sollte dem Prinzip des Querdenkens folgen: Hier ist Erfolg nur zu erwarten, wenn allzu enge Wahrnehmungsmuster oder gar Tabus vermieden werden. Wege und Mechanismen des Out of the box-Denkens sind von zentraler Bedeutung für das Aufspüren von Neuem und Unerwartetem. Sie sollten daher in angemessener Weise in den Arbeitsprozess von Zukunftsforschung wie auch von Sicherheitsforschung einbezogen werden.

Gerade im wichtigen Feld der Verteidigung und Sicherheit sollte in dieser Hinsicht sowohl für Personen als auch für Institutionen die eigene Flexibilität gesteigert werden. Das bezieht sich sowohl auf die bereits genannte Aufmerksamkeit und Offenheit als auch auf Elemente wie Arbeitsteilung und Kommunikationsprozesse. Selektive, verzerrte Wahrnehmung, rigide und bornierte Stereotypen, Feindbilder und Dehumanisierung der Gegner können immense negative Folgen zeitigen, können zu selbsterfüllenden Prophezeiungen und Eskalation, zu Gewalt- und Rüstungsspiralen verleiten. Demgegenüber ist ein ganzheitliches Verständnis für aktuelle Lagen, Kontingenzen und Potenziale erforderlich, d. h. auch für tief­liegende Konfliktursachen, gegnerische Narrative, Befindlichkeiten und Ängste, allgemein gesprochen: Die Perspektive der Anderen ist zu erforschen und nachzuvollziehen. Gleiches gilt schließlich auch nicht nur für die intendierten, sondern auch die unintendierten Effekte eigenen Handelns. Komfortzonen von Korpsgeist oder männerbündischen Gruppenkulturen versperren die Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand zu blicken, Fremdes und Befremdliches einzubeziehen, Provokationen zu nutzen für eigene inhaltliche, methodische und strategische Weiterentwicklungen. Daher sollten Probleme, Unsicherheiten, Widersprüche, Proteste, Konflikte und Spannungen im Foresight-Prozess ernst genommen und berücksichtigt werden, damit sich die jeweiligen Entscheider und Akteure frühzeitig wappnen können. Eine Möglichkeit hierfür ist die Nutzung von Wild Cards, also unerwarteten, aber sehr effektvollen Ereignissen (Game Changer), die wohlgeordnete Zukunftsvorstellungen durcheinanderbringen, damit aber zugleich mögliche Schwachpunkte offenbaren können. 

Kurzum: Zukunftsforschung und Foresight können zur Erweiterung von Vorstellungsvermögen beitragen, Chancen und Risiken besser einschätzbar machen, Alternativen offenlegen und damit Möglichkeitsräume und Handlungsfähigkeit erweitern. Sie stärken die Selbstreflexivität der Beteiligten und erhöhen somit die Erfolgswahrscheinlichkeit für Strategien und Taktiken zur Erhaltung bzw. Schaffung gewaltfreier und friedlicher Verhältnisse.

1 Harari, Yuval Noah (2018): „Zucker ist heute gefährlicher als Schießpulver“. Interview im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz 2018. In: Süddeutsche Zeitung, 15.2.2018, S. 14 (im Folgenden in Kurzform zitiert als „Harari 2018“; analog bei den anderen Zitaten).

2 Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München, S. 51.

3 Vgl. Taleb, Nassim (2013): Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. 3. Aufl. München; Vogt, Markus/Schneider, Martin (Hrsg.) (2016): „Theologische und ethische Dimension der Resilienz“, Münchener Theologische Zeitschrift [MThZ], Jg. 67, 3/2016; Karidi, Maria/Schneider, Martin/Gutwald, Rebecca (Hrsg.) (2017): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. Wiesbaden.

4 Zu den beiden Berichten vgl. Weizsäcker, Ernst Ulrich/Wijkman, Andreas (2018): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Bericht an den Club of Rome. Gütersloh; Bardi, Ugo (2017): Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können. Bericht an den Club of Rome. München. 

5 WBGU (2008): Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin.

6 Vgl. Imbusch, Peter/Zoll, Ralf (Hrsg.) (2006): Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden, S. 67–81. Zur Analyse von Klimakonflikten vgl. Vogt, Markus (2012): „Klimaschutz im Gestrüpp der Interessen. Philosophische und theologische Perspektiven“. in: Ekardt, Felix (Hrsg.): Klimagerechtigkeit. Ethische, rechtliche, ökonomische und transdisziplinäre Zugänge. Marburg, S. 54–78.

7  UNDP [United Nations Development Programme] (2007): Human Development Report 2007/2008. Fighting climate change: Human solidarity in a divided world. New York. 

8 Vgl. dazu Vogt, Markus (2017): „Politische Emotionen als moraltheoretische Herausforderung“. In: Münchener Theologische Zeitschrift [MThZ] Jg. 68, 4/2017, S. 306–323.

9 Huntington, Samuel (1997): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München.

10  Vgl. Lewis, Bernhard (2013): Die Wut der arabischen Welt. Warum der jahrhundertelange Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen weiter eskaliert. Frankfurt; Sen, Amartya (2007): Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München.

11  Zum Resilienzbegriff vgl. Endnote 3 sowie die Website des bayerischen Forschungsverbundes „ForChange“: www.forchange.de [Stand: 5 Juni 2018]; dort u. a. eine Studie zu Resilienz und Risiko von M. Vogt.

12  Die deutschen Bischöfe [DBK] (2000): Gerechter Friede. Hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Die deutschen Bischöfe 66). Bonn.

13  Vgl. Mosse-Lectures 2016: www.hsozkult.de/event/id/termine-30701 (Stand: 5. Juni 2018).

14  Kersting, Wolfgang (2005): Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral. Weilerswist,
S. 317; zur Risikomündigkeit siehe den ganzen Abschnitt S. 317–320.

15  Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 2. Aufl. Frankfurt, S. 63 f.; vgl. auch S. 385 (zum anthropologischen Irrtum der Utopie) und S. 390–392 (zum Verhältnis von Furcht, Hoffnung und Verantwortung).

16  Zum Problem der systemischen Risiken vgl. Renn, Ortwin (2014): Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Frankfurt.

Zusammenfassung

Dr. Edgar Göll

Dr. Edgar Göll ist Sozialwissenschaftler und seit 1995 im Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) Berlin tätig und dort Forschungsleiter des Clusters „Zukunftsforschung und Partizipation“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind nachhaltige Entwicklung, Transformationsprozesse und Governance. Göll ist Mitglied im Board des Netzwerks Zukunftsforschung e. V. und u. a. Dozent im Masterstudiengang „Zukunftsforschung“ am Institut Futur der Freien Universität Berlin.

e.goell@izt.de


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Foresight und moderne Zukunfts­forschung: Möglichkeiten und Praxis
Edgar Göll
Krisenprävention in einer Zeit des radikalen Wandels
Bernhard Koch
Transformative Szenarioplanung – Gemeinsam die Zukunft verändern
Adam Kahane
Verfügbare Zukunft? Friedensethische Reflexionen unter der Perspektive des ­gerechten Friedens und der ­vorausschauenden Klugheit
Franz-Josef Overbeck
Zunehmende Komplexität und Unsicherheit als zukünftige Herausforderungen für die NATO und den Westen
Manfred Nielson
Krisenfrüherkennung und Vorausschau in der Friedens- und Sicherheitspolitik: Früher, entschiedener, ­substanzieller agieren!
Winfried Nachtwei
Die neue Unberechenbarkeit – warum Deutschland eine Sicherheitsstrategie braucht
James D. Bindenagel

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