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Krisenfrüherkennung und Vorausschau in der Friedens- und Sicherheitspolitik: Früher, entschiedener, ­substanzieller agieren!

Seit mehr als 35 Jahren bin ich friedens- und sicherheitspolitisch aktiv. In all dieser Zeit war (zivile) Krisenprävention für mich ein zentrales Leitmotiv und Krisenfrüherkennung (KFE) ein wichtiges Element dabei. Ein wesentlicher Anstoß war seit den frühen Achtzigerjahren ein Zukunftsszenario von gigantischem Schadenspotenzial, dessen Eintritt keineswegs auszuschließen war, ja wahrscheinlicher zu werden schien: das Versagen der atomaren Abschreckung in Europa, eine verheerende atomare „Heimatverteidigung“ in Deutschland. Mehrfach schrammte die europäische Zivilisation knapp an diesem Szenario vorbei. Wir alle hatten ein Riesenglück!

Überraschende Großkrisen

Zahlreich waren seitdem die großen friedens- und sicherheitspolitischen Überraschungen und unerwarteten Großkrisen: das regelrechte historische Wunder des Mauerfalls, der gewaltfreien Revolutionen im Osten und des Zusammenbruchs der Sowjetunion, die Rückkehr des Krieges nach Europa auf dem Balkan, der Völkermord in Ruanda, der Terrorangriff von Al Kaida in New York und Washington, der entgrenzte Antiterrorkrieg und der internationale/deutsche Afghanistaneinsatz, deutsche Auslandseinsätze meist in solchen Regionen, die vorher als besonders unwahrscheinlich galten, der schnell sich verdüsternde Arabische Frühling und die extremen Folgekonflikte vom Syrienkrieg bis zum Terror des Islamischen Staates (IS), die „Entdeckung“ von Subsahara-Afrika durch die europäische und deutsche Sicherheitspolitik, die Fluchtkrise rund ums Mittelmeer, der Kältesturz im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland seit der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine und die damit einhergehende Rückkehr der Bündnisverteidigung, der Brexit, der Wahlsieg von Trump in den USA und der weltweite Vormarsch von Nationalpopulismen, die Revolu­tion der sozialen und öffentlichen Kommunikation.

Dass es 2001 gelang, in Mazedonien den nächsten drohenden Balkankrieg zu verhüten – durch Last-Minute-Früherkennung, konzertier­te internationale Prävention und politischen Einigungsdruck auf die Konfliktparteien –, scheint eher die positive Ausnahme von der negativen Regel gewesen zu sein.

Neuer Schub für ­Krisenprävention 

Angesichts der Häufung von Großkrisen und wachsender Ungewissheit war es naheliegend, dass die politische Krisenprävention und die Vorausschau in Deutschland seit 2014 einen (neuen) Schub bekamen. 

Das Gesamtkonzept und der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ der Bundesregierung von 2000 bzw. 2004 hatten die konzeptionellen Grundlagen für das neue Politikfeld Krisenprävention geschaffen. Im Rahmen der Infrastruktur der zivilen Krisenprävention entstanden nach dem Desaster der Balkankriege neue Instrumente und Ansätze wie das Zentrum Internationale Friedenseinsätze, der Zivile Friedensdienst, die Deutsche Stiftung Friedensforschung, das Programm „zivik“. Außerdem wuchs generell die Konfliktsensibilität in der Entwicklungszusammenarbeit.

Allerdings wurde im Aktionsplan Krisenfrüherkennung zwar eine Warnungs-Präventions-Lücke erkannt, aber nicht weiter thematisiert. Strategische Vorausschau kam damals gar nicht zur Sprache. Angesichts der wachsenden Herausforderungen der Auslandseinsätze stand Krisenprävention in den Folgejahren im Schatten der dominierenden Konfliktnachsorge. Erst mit dem Diskurs zur gewachsenen internationalen Verantwortung Deutschlands ab Anfang 2014, dem wuchernden Konfliktumfeld und dem „Review 2014“-Prozess des Auswärtigen Amtes richtete sich der politische Fokus wieder stärker auf Krisenprävention – und nun erstmals auf strategische Vorausschau. Krisenprävention und Krisenmanagement wurden zu einer von drei Prioritäten der deutschen Außenpolitik. Erstmals nach konsultativen Prozessen beschloss das Bundeskabinett im Juli 2016 das Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr und im Juni 2017 die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte lösen, Frieden fördern“. Beide Regierungsdokumente thematisieren Krisenfrüherkennung und Vorausschau erstmals an prominenter Stelle und so konkret wie nie zuvor. 

Das Weißbuch betont als vierte strategische Priorität Deutschlands das „frühzeitige Erkennen, Vorbeugen und Eindämmen von Krisen und Konflikten“.1 Dazu bedürfe es eines vorausschauenden, umfassenden und nachhaltigen Ansatzes. Krisenfrüherkennung müsse „nationale und internationale, staatliche und nicht staatliche Expertise zu einem aussagekräftigen Gesamtbild zusammenführen“. Um die ressortübergreifende Strategiefähigkeit zu fördern, gelte es, die „Kompetenzen in den Bereichen strategische Vorausschau, Steuerung und Evaluierung auszubauen und miteinander zu verknüpfen“.2

Die Leitlinien bekräftigen für das deutsche Engagement in Krisen und Konflikten „den Primat der Politik und den Vorrang der Präven­tion“. Krisenfrüherkennung bilde eine wesentliche Grundlage für frühes und entschiedenes Handeln zur Krisenprävention. Sie erlaube es, vermeidbare Überraschungen zu reduzieren und die Politik besser auf mögliche Eskalationen vorzubereiten. Das erfordere Fähigkeiten zur gezielten Beobachtung von Ländern und Regionen. Die Bundesregierung werde „ihre Analyseinstrumente dahingehend schärfen, dass sie politische, wirtschaftliche und strukturelle Entwicklungen im Blick behalten kann, welche die Entstehung oder Verschärfung von Krisen begünstigen. Dabei gilt es, realistisch zu bleiben: Krisen lassen sich auch mit Hilfe sehr guter Frühwarnmechanismen nicht immer im Detail vorhersagen.“3

Die Bundesregierung verpflichtete sich in den Leitlinien,

  • „ihre Instrumente zur Krisenfrüherkennung [zu] verfeinern und enger miteinander zu verzahnen;
  • Methoden der strategischen Vorausschau anzuwenden und eine enge internationale Zusammenarbeit bei der Krisenfrüherkennung und Fragilitätsanalyse zu suchen; 
  • gemeinsame Lageeinschätzungen zu potenziellen Krisen zu fördern.“4

Grundsätzliches zu ­Vorausschau und Krisen­früherkennung

Strategische Vorausschau entwickelt sich zu­nehmend zu einem Instrument der systematischen Vorbereitung politischer Entscheidungen.5 Die gelegentlich aufscheinenden Erwartungen, durch strategische Vorausschau künftige Entwicklungen, Krisen und Gewaltkonflikte verlässlich prognostizieren, darüber eine Art von Präventionsstellschrauben finden und so Konflikte verlässlich verhüten zu können, sind allerdings überzogen. Soziale und politische Prozesse unterscheiden sich grundlegend von den Ursache-Wirkung-Beziehungen der physischen Welt: Sie sind nicht exakt prognostizierbar und nur begrenzt beeinflussbar.

Zugleich aber sind Krisen- und Konflikteskalationen keine Naturkatastrophen, sondern menschengemacht. Und bei manchen Krisen- und Konflikttypen sind Eskalationen mit größerer Plausibilität abschätzbar, z. B. bei humanitären Krisen und Massengewalt bis zum Völkermord. Bekannt sind viele Fälle, wo es frühzeitige und glaubwürdige Warnungen sowie realistische Handlungsoptionen, aber keine angemessene politische und auch keine militärische Prävention gab. Ruanda 1994, Kosovo 1998, Nordafghanistan 2006 und ISAF-Abzug 2014 sind solche Fälle, die ich selbst politisch miterlebt habe.

Die Beispiele zeigen, dass der systematische Blick nach vorn deutlich besser werden kann und muss: bei der kurzfristigen KFE wie bei der strategischen Vorausschau, bei der Schärfung des Fokus, um künftig besser mit der allgemeinen Beschleunigung und grundsätzlichen Ungewissheit umgehen zu können, bei den politischen Entscheidungsprozessen zu kurzfristigen krisenpräventiven Maßnahmen und zur strategischen Planung. 

Stand der Vorausschau und Krisenfrüherkennung in den Ressorts der Bundesregierung 

Lange waren die flächendeckend um den Globus verteilten Botschaften, ihre jeweiligen Länderreferate im Auswärtigen Amt und der Bundesnachrichtendienst (BND) die wichtigsten Sensoren der bundesdeutschen Krisenfrüherkennung. Die Früherkennungskompetenz der Außenvertretungen hing allerdings erheblich von ihrer jeweiligen Personalausstattung und der Krisensensibilität ihrer Leitung ab. 

In einzelnen Ressorts entstanden erst in jüngerer Zeit Instrumente der Früherkennung: im Entwicklungsministerium (BMZ) als „Krisenfrühwarnung“ ab 2005, im Verteidigungsministerium (BMVg) ab 2012, im Auswärtigen Amt (AA) ab 2015.

Entwicklungsressort: Ein Großteil der Kooperationsländer deutscher Entwicklungszusammenarbeit gilt als fragil. Konflikte, Fragilität und Gewalt hemmen Entwicklung. Infolge der BMZ-Strategie für Friedensentwicklung von 2005 analysiert das German Institute for Global and Area Studies (GIGA) im Rahmen der EZ-Krisenfrühwarnung jährlich für das Entwicklungsministerium das Krisen- und Konfliktpotenzial von über 90 Ländern auf der Basis von 36 Indikatoren (strukturelle Konfliktfaktoren, konfliktverstärkende Prozesse, Strategien der Konfliktbearbeitung und des Gewalteinsatzes, Definition der Konfliktphase). Ergänzende politökonomische Kurzanalysen (PÖK) von externen Gutachtern analysieren gesellschaftliche Akteure und Institutionen und dienen Regionalreferaten als Grundlage für die Erarbeitung von Länderstrategien und die Arbeit der Länderteams. Der friedensfördernden Ausrichtung von Entwicklungsvorhaben dienen schließlich Peace and Conflict Assessments (PCA).

Verteidigungsressort: Hier befassen sich die Referate SE I 3 und Pol II 1 in den BMVg-Abteilungen Strategie und Einsatz bzw. Politik sowie das Referat „Zukunftsanalyse“ im Planungsamt der Bundeswehr mit Früherkennung und Vorausschau verschiedener Reichweiten: SE I 3 mit einem Zeithorizont bis 18 Monate, Pol II 1 bis fünf/zehn Jahre, „Zukunftsanalyse“ bis 2040.

Seit 2012 laufen bei SE I 3 vor dem Hintergrund des ressortabgestimmten Aufgabenprofils der Bundeswehr zu Ländern unter Beobachtung zunächst Informationen aus Medien, militärischem Nachrichtenwesen und anderen Ressorts zusammen. Im Prozess der Lageverdichtung wird Relevantes von Unrelevantem geschieden. Zur Risikolage (Fokus auf militärische Gewalt, Gewaltkonflikte) kommen Aspekte deutscher Betroffenheit hinzu (z. B. Gefährdungspotenzial für deutsche Staatsbürger, Einrichtungen und Interessen, multilaterale Interessen, regionale Aspekte). Mit „Potenzialanalysen“ werden auch Risiken von Rollenwechseln (vom Partner zum Gegner) in den Blick genommen. Darüber hinaus finden ressortübergreifende und sektorübergreifende Fachgespräche zu Krisenregionen (z. B. Irak) unter Einbeziehung auch von NGOs statt. Die Erkenntnisse von SE I 3 gehen periodisch in die Lagefrüherkennung ein.

Das Referat Pol II 1 soll zur Strategiefähigkeit der Bundesregierung beitragen. In den Blick genommen werden mutmaßliche Krisengebiete der Zukunft. Der Ansatz geht inzwischen von quantitativen, IT-gestützten Verfahren zu qualitativen Analysen. Aufgebaut wurde ein Netzwerk „Strategie und Vorausschau“, an dem das neue METIS-Institut (Universität der Bundeswehr München), das Planungsamt und die Führungsakademie der Bundeswehr, die Universität der Bundeswehr Hamburg, mehrere Stiftungen (u. a. SWP, Bertelsmann, Konrad Adenauer), BDI, DGB u. a. bei regelmäßigen thematischen Netzwerktreffen mitwirken.6 Das METIS-Institut und das Hamburger Institut für maritime Sicherheit erstellen zudem Kurzstudien zu sicherheitspolitisch relevanten Themen. 

Das Referat „Zukunftsanalyse“ im Planungsamt besteht seit elf Jahren. Dass die Bundeswehr auf diesem Feld über die längste Tradition verfügt, ist schlichtweg dem enorm langen Planungszyklus von Streitkräften geschuldet. Hier geht es um Langzeitbetrachtungen, darum, Signale besser zu verstehen. Die strategische Vorausschau der Bundeswehr beginnt breit, ist aber insgesamt anwendungsorientiert. Mit der „Strategischen Vorausschau für die Bundeswehr“ legte der Abteilungsleiter Planung im BMVg, Generalleutnant Erhard Bühler, im Februar 2017 erstmals eine Langfristperspektive bis 2040 vor, die mögliche Entwicklungen und zukünftig benötigte Fähigkeiten beschreibt. 

Die Methoden der Zukunftsanalyse im Verteidigungsressort ähneln denen der KFE (z. B. Delphi-Methode, Szenariotechnik, Roadmapping, Zukunftswerkstätten). Das Referat ist interdisziplinär angelegt mit Experten aus sieben Kernbereichen mit jeweils angedockten Netzwerken. Der regelmäßige Austausch auf Tagungen und in verschiedenen Netzwerken mit Menschen aus verschiedenen Fachgebieten, Kulturen und Weltregionen ist elementar für den permanenten Perspektivenwechsel. 

Auswärtiges Amt: Hier befassen sich zwei Referate in der seit 2015 wachsenden Abteilung „S“ (Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und humanitäre Hilfe) explizit mit dem systematischen Blick in die Zukunft: S06 mit strategischer Vorausschau und S04 mit Krisenfrüherkennung. 

S04 baut seit 2016 ein KFE-Instrumenta­rium auf. Das computergestützte Analysesystem speist sich bisher aus 41 Datenbanken (z. B. Weltbank, Stockholm International Peace Research Institute [SIPRI], Wetterdienste, Medien) und soll bis Ende des Jahres aufgebaut sein. Indikatoren in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind z. B. Status und Schutz der Menschenrechte, politische und gesellschaftliche Partizipation, Armutsquote, Migrationsdruck, Preis- und Wirtschaftsentwicklung oder soziale Ungleichheit einschließlich ethnischer, religiöser und geschlechtsspezifischer Indikatoren.

Die Erkenntnisse gehen an die eigene Abteilung S und weitere Adressaten im AA. In der vierteljährlich tagenden AG Früherkennung (FE) sind alle außen- und sicherheitspolitischen Kernressorts vertreten.

S06 liefert bedarfsorientiert z. B. an Länderreferate, aber auch an Botschaften Konflikt- und Akteursanalysen, alternative Zukunftsszenarien und Handlungsoptionen. Die Zeithorizonte dabei betragen mehrere Jahre.

Ein sogenannter Focal Point für die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) wurde im Auswärtigen Amt 2012 eingerichtet und später der Abteilung S zugeordnet. Die deutsche Frühwarnung vor drohenden Massenverbrechen stützt sich auf die zur Verfügung stehenden Instrumente der KFE wie Berichte der Auslandsvertretungen, der UN und ihrer Sonderbeauftragten, auf die KFE-Berichte des BND und das neue Referat S04.

Das Krisenreaktionszentrum (KRZ) blickt und reagiert auf Krisen weltweit, um deutsche Staatsbürger bei Gefahr schützen zu können. Hier geht es nicht um politische Krisenfrüherkennung und -prävention, sondern um bestmögliche Vorsorge für den Krisenfall durch Reisewarnungen, Planung von Schutzmaßnahmen und Evakuierungsoperationen (personenbezogene Krisenprävention und -reaktion). Dem KRZ zugeordnet sind die verschiedenen Fähigkeiten der Ressorts, darunter auch THW, BKA-Verhandlungsgruppe. Das KRZ gilt als gutes Beispiel eines klaren Verständnisses vorhandener Kapazitäten und Fähigkeiten. Krisenunterstützungsteams unterstützen lageunabhängig die Vorsorgeplanung.

Bundesnachrichtendienst: Zentrales Hilfsinstrument der nachrichtendienstlichen Vorausschau sind länderbezogene KFE-Analysen, die der BND unter Zuarbeit anderer Ressorts in einem Turnus von zwölf bis 18 Monaten erstellt. Sie sollen die Konfliktstruktur eines Landes erfassen, auf Eskalationsmomente hinweisen, auch Resilienzfaktoren berücksichtigen und die politische Entscheidungsfindung unterstützen. Sie werden im „Krisenvorsorgeinformationssystem“ auch der Bundesregierung zur Verfügung gestellt. Als Basis kurzfristiger Früherkennung fungieren die zweimal im Monat erscheinenden, allerdings geheimen Intelligence & Warning-Meldungen des BND.

Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS): Seit 2014 dient die BAKS als Plattform für die Weiterbildung und die Vernetzung im Bereich der strategischen Vorausschau. Wo schätzungsweise 200 verschiedene Organisationseinheiten mit Zukunftsanalyse zu tun haben, soll die BAKS den notwendigen Whole of Government-Ansatz auf diesem Feld fördern. An den Methodenseminaren sind Referatsleiter aller Ressorts beteiligt. Beim jährlichen, in Kooperation mit wechselnden Ministerien veranstalteten Konferenz- und Werkstatttag des Netzwerks „Strategische Vorausschau in der Praxis“ kommen an der BAKS Dutzende Foresight-Experten aus fast allen Bundesministerien und nachgeordneten Behörden zusammen, um Erfahrungen und Forschungsergebnisse auszutauschen.

 

Insgesamt sind die Ressorts in Sachen Vorausschau noch recht unterschiedlich aufgestellt. Bei manchen gibt es dazu noch keine Organisationseinheit, andere sind im Aufbau begriffen. Oft stehen nur zwei, drei Mitarbeiter für die Aufgabe zur Verfügung. Das Zukunftsanalysereferat des Planungsamtes mit seinen zehn Mitarbeitern gilt als Unikat.

Aufseiten der Bundeswehr wird bei der strategischen Vorausschau ein grundsätzlicher Wandel der Denkweise beobachtet: Bisher waren Analysen und Reaktionen auf das mutmaßlich Wahrscheinliche gerichtet. Besser sei es, erst nach Möglichkeiten, dann nach dem Gefahrenpotenzial und dann erst nach der Wahrscheinlichkeit zu sehen.

Vorausschauexperten weisen darauf hin, dass es in Deutschland reichhaltige, aber kaum genutzte Vorausschaupotenziale gebe. So die seit 25 Jahren erfolgreiche Foresight-Ertüchtigung durch das Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) beim Bundestag. Oder im Bereich des Bildungs- und Forschungsministeriums, wo sehr viele reichhaltige Foresight-Studien zu diversen Politikfeldern vorhanden und im Netz zugänglich seien.

Auf der Ebene Krisenfrüherkennung findet im Rahmen der Arbeitsgruppe Früherkennung ein regelmäßiger Austausch zwischen AA, BMVg, BMZ, BMI und BKA auf den Ebenen Referatsleiter (vierteljährlich) und Abteilungsleiter (halbjährlich) statt. Die Leitlinien „Krisen verhüten, Frieden fördern“ kündigen für die Zukunft eine anlassbezogene oder mindestens alle sechs Monate tagende „Ressortrunde Krisenfrüherkennung – Horizon Scanning“ an, die gemeinsame Lageeinschätzungen zu potenziellen Krisen fördern soll.

Vernetzungen, Austauschformate und Weiterbildung über die Ressortgrenzen hinaus und unter Einbeziehung von Thinktanks, Stiftungen, Verbänden etc. haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Bisher noch unterschiedliche Verständnisse von Vorausschau und Früherkennung können dabei angeglichen oder zumindest kompatibel gemacht werden. Die BAKS bietet hierbei eine zentrale Plattform.

Institutionelle Orte einer ressortübergreifend integrierten KFE und einer strategischen Vorausschau sind jedoch offenbar nicht in Sicht. Die Vermutung drängt sich auf, dass diese Lücke das gewünschte frühere, entschiedenere, substanzielle politische Handeln vor allem im Bereich der operativen und kurzfristigen Krisenprävention eher erschwert.

Knackpunkt: Von der Analyse zu den Entscheidungsträgern 

Der Übergang von der Theorie zur politischen Praxis der Politikplaner und Entscheidungsträger in Exekutive und Legislative – die Kluft zwischen early warning und early action –, das sind die neuralgischen Punkte.

Als jemand, der schwerpunktmäßig seit 1994 im Bundestag und seit 2009 in seinem Umfeld mit internationaler Krisenbewältigung befasst ist, sind mir vielfältige Faktoren, Zwänge, Interessen und Mentalitäten begegnet, die politische Aufmerksamkeit und Weitsichtigkeit, Krisensensibilität, strategisches Denken und damit das beschworene frühere Handeln erschweren, manchmal auch blockieren.

Das allgemein bekannte „Kassandra-Syndrom“, wonach wahrheitsgemäße Warnungen von kompetenten, gemeinwohlorientierten Warnern regelmäßig von inkompetenten, auf kurzfristige Vorteile fixierten Entscheidungsträgern ignoriert werden, stellt allerdings eine unzulässige Verkürzung dar. Die Wirklichkeit ist um einiges komplizierter.

  • Das doppelte Ressourcenproblem: Vorausschau, strategisches Denken und Früherkennung gibt es nicht zum Nulltarif, sie brauchen ausreichend Personal, Zeit, Raum und Geld. In der Regel ist in den Ressorts der Tagesbetrieb mit seinen wachsenden Aufgaben so absorbierend, dass für den systematischen Blick in die Zukunft kaum bis gar keine Zeit bleibt. Die Dauererfahrung vom Dringenden als Feind des Wichtigen. 
  • Früheres Handeln – early action – braucht Handlungsoptionen und ist immer mit Ressourceneinsatz verbunden. Diese sind meist knapp und in Fällen ohne akuten Handlungsdruck schwerer verfügbar. 
  • Strategieschwäche: Über viele Jahre habe ich primär beim Kanzleramt oder beim Auswärtigen Amt eine regelrechte Abwehrhaltung gegenüber Strategieentwicklungen erlebt. Die einen begründeten die Notwendigkeit eines „Fahrens auf Sicht“ mit den galoppierenden Wechselfällen der internationalen Politik und dem Aufwand einer ressortübergreifenden Strategieentwicklung, die in keinem sinnvollen Verhältnis zum Orientierungsertrag einer Strategie stehe. Für andere Spitzenpolitiker schien Strategieentwicklung offenbar als unzulässige Einschränkung der Handlungsfreiheit von „Männern, die Geschichte machen“, zu gelten. Demgegenüber steht in der sicherheitspolitischen Community seit Jahren die Forderung nach Strategieentwicklung immer ganz vorn.
  • Erreichbarkeit von Entscheidungsträgern: Politische Akteure und Entscheidungsträger agieren in der Regel in einer Mühle von Themen, Anforderungen, Terminen, Interessenten. Angesichts dieser Konkurrenz um Aufmerksamkeit durchzudringen, ist per se schwierig – zumal bei Themen, wo kein akuter Handlungsdruck besteht, aber gegebenenfalls ein Rattenschwanz an Folgeaufgaben droht.
  • Um Entscheidungsträger zu erreichen, kommt es bei der KFE umso mehr auf die Quellenglaubwürdigkeit (beispielhaft die International Crisis Group), das Verhältnis zwischen Analysten und Entscheidungsträgern und eine Orientierung an den Bedürfnissen der Entscheidungsträger an. Warnungen müssen möglichst klar und spezifisch sein, Empfehlungen dürfen nicht als völlig unrealistisch angesehen und damit abgetan werden können.
  • Individuelle und kollektive Wahrnehmungsfilter in Form von Verdrängung, Nicht-wahrhaben-Wollen, Wunschdenken und Realitätsverleugnung. Beim deutschen Afghanistaneinsatz erlebte ich solche Wahrnehmungsfilter auf der politischen Ebene besonders intensiv und ernüchternd: jahrelange Abwehr von Warnungen, Schönrednerei, Realitätsverlust, erst Aufbau-, dann Abzugsillusionen, bis heute andauernde Verweigerung von Wirkungsanalysen. Hier kamen politische Interessenlagen (Vorrang von Bündnisloyalität und innenpolitischer Opportunität), mangelnde Fehlerkultur und Abwehrhaltungen gegenüber unangenehmen Wahrheiten, aber auch Überforderung durch ein hochkomplexes Konfliktgemenge zusammen. 
  • In militärablehnenden Kreisen sind Wahrnehmungsmuster verbreitet, für die Bedrohungspotenziale seitens des Westens im Vordergrund stehen und Bedrohungen durch andere Akteure, damit auch die Herausfor­derung Gefahrenabwehr, kaum eine Rolle spielen. 
  • Partei- und akteursübergreifend ist ein Wahrnehmungsmuster verbreitet, das nur Fehler der anderen, aber nicht die eigenen wahrnimmt. Sinnvolle Vorausschau und Früherkennung sind aber zwingend auf die selbstkritische Perspektive angewiesen. 
  • Entscheidungsträgern sollte es um die Menschen, die Sache und das Gemeinwohl gehen. Realiter geht es oftmals auch um Partei- und Gruppeninteressen, um persönliche Karriere- und Machtinteressen. Von einzelnen Ministern und ihrem Umfeld heißt es, ausschlaggebendes Kriterium für bestimmte Positionierungen und Aktionen sei, dass der Chef gut dastehe. Verhinderte Krisen und Konflikte sind unsichtbare Erfolge, die in der Regel wenig Aufmerksamkeit und Meriten bringen. Engagement in Früherkennung und Vorausschau bringt parteitaktisch eher keine Vorteile.
  • Wo hektische Tagespolitik dominiert, wie in Teilen des Bundestages, haben es Früherkennung, Vorausschau und strategisches Denken besonders schwer. Umso wichtiger sind Räume und Zeiten für Vorausschau und Früherkennung. Der Unterausschuss „Zivile Krisenprävention“ verwandte in der vorigen Legislaturperiode die letzte halbe Stunde seiner Sitzungen auf weniger beachtete Konfliktregionen, um dadurch in der Bundesregierung Aufmerksamkeit auf blinde Flecken der KFE zu lenken. So manches Länderreferat war ausgesprochen dankbar dafür. 

Nebelscheinwerfer anstellen 

Im dichter werdenden Nebel der Zukunft allein auf Sicht zu fahren wäre verantwortungslos. Ein intelligenter Autopilot steht nicht zur Verfügung. Was es an Orientierungshilfe gibt, sollte aber bestmöglich genutzt und weiterentwickelt werden. Deutschland hat hier einen erheblichen Nachholbedarf gegenüber anderen Staaten. 

  • Es braucht mehr gemeinsame Sprache, eine verbesserte Dialogfähigkeit und einen Vorausschauverbund der Ausbildungseinrichtungen des Bundes.
  • Die Organisationseinheiten für Vorausschau und KFE benötigen unbedingt eine Personal- und Finanzausstattung, die sie zu wirksamer Arbeit befähigt und es nicht bei Symbolpolitik belässt. Wo Denken auf Vorrat gefragt ist, hilft ein Zwei-Personen-Referat nicht viel weiter. 
  • Gestärkt werden sollten Verbindungsinstanzen zwischen den Ressorts. Sinnvoll wären gemeinsame Plattformen für bestimmte Prozesse. Empfohlen wird, unterschiedliche Perspektiven heranzuziehen, z. B. ressort­übergreifende Trendlandschaften aus Sicht verschiedener Ressorts nebeneinanderzu­legen.
  • Die Leitlinien der Bundesregierung zur Krisenverhütung und Friedensförderung erklären so deutlich wie nie zuvor: „Die Vermeidung von Krieg und Gewalt in den internationalen Beziehungen, die Verhinderung von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen […] gehören zur deutschen Staatsraison.“7 Dieses kategorische Bekenntnis zur Schutzverantwortung muss sich auch in ihrer Operationalisierung niederschlagen, angefangen bei einem wirksamen Frühwarnmechanismus. Zu bezweifeln ist, dass die bisherige Ausgestaltung des deutschen Focal Points für die Schutzverantwortung ausreicht.
  • Ich weiß um die Vielzahl periodisch erscheinender Regierungsberichte, die im Bundestag oft nur noch minimale Pflichtaufmerksamkeit finden. Trotzdem wäre ein jährlicher, vom Bundestag zu debattierender Vorausschaubericht nach finnischem Vorbild8 ein wichtiger Schritt – als Brücke aus der wichtigen Vorausschau-Community zur Politik und Öffentlichkeit. 
  • Einhergehen müsste eine solche Berichterstattung allerdings mit einem gewissen Kulturwandel: Unangenehme Ergebnisse müssen offen benannt werden können. Im Fall des Jahresberichts des Wehrbeauftragten ist das seit Jahren gelungen und akzeptiert. 
  • Vorausschau und Krisenfrüherkennung, zumal von Institutionen der staatlichen Gefahrenabwehr, richten ihren Fokus naturgemäß auf Risiko- und Bedrohungsfaktoren und Worst-Case-Szenarien. Das ist so notwendig wie tückisch. Gerade beim heutigen Blick in die Zukunft kann einem angst und bange werden. Die Studie „Das Paradox des Fortschritts“ des US National Intelligence Council9 mit ihren fünf globalen Megatrends illustriert das: Der Problem-Himalaja wächst und wächst, die Wege zu seiner Bezwingung sind kaum sichtbar. Da liegen Reaktionen von Zukunftsangst, Verdrängung und Flucht wahrlich nahe. 
  • Um nicht ungewollt Zukunftslosigkeit und Ohnmacht zu schüren, um nicht nur Krisen zu verhüten, sondern auch Frieden zu fördern und begründet Mut zu machen, brauchen Vorausschau und KFE den systematischen Blick auch auf Chancen, auf konstruktive Ansätze, Prozesse, Akteure. „Suchet den Frieden“ gilt auch hierfür.
  • Früherkennung und Vorausschau sollen die deutschen Beiträge zu internationaler Krisenverhütung und Friedensförderung wirksamer machen. Da reicht es nicht, dass dies den meisten Bürgerinnen und Bürgern gesinnungsmäßig entgegenkommt und sympathisch ist. Es muss sich politisch auch mehr lohnen. Entscheidend dafür ist, dass das traditionell weitgehend unsichtbare Politikfeld der Krisenprävention und Friedensförderung endlich professionell sichtbarer gemacht wird, dass gute Nachrichten aus diesem Feld nicht weiter laufend von den Bad News mit ihrem angeblich höheren Nachrichtenwert erschlagen werden.

1 Bundesregierung (2016): Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, S. 50.

2 Ebd., S. 57.

3 Bundesregierung (2017): Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern – Leitlinien der Bundesregierung. Berlin, S. 111.

4 Ebd., S. 150.

5 Zur Vertiefung des Themas seien hier zwei Artikel aus der Tagespresse genannt: Münkler, Herfried (2018): „Regieren wird sehr viel schwieriger werden“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Januar 2018; Seliger, Marco (2018): „Vorher wissen, wo es knallt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Februar 2018.

6 Als besonders innovativ erschien mir bei einer Präsentation das an diesem Netzwerk beteiligte Projekt „KFE durch Literatur“, das, angeregt durch den nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, an einem „Mapping von Emotionen“ arbeitet.

7 Bundesregierung (2017): Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern – Leitlinien der Bundesregierung. Berlin, S. 47.

8 Siehe vnk.fi/en/article/-/asset_publisher/hallituksen-tulevaisuusselonteon-1-osa-jaettu-ymmarrys-tyon-murroksesta [Stand: 5. Juni 2018].

9 Bausum, Christoph/Heinemann, Enrico/Schuler, Karin (2017): Die Welt im Jahr 2035 gesehen von der CIA und dem National Intelligence Service – Das Paradox des Fortschritts. [Übersetzung des Reports des National Intelligence Council (NIC): Global Trends: Paradox of Progress.] München.

Zusammenfassung

Winfried Nachtwei

Winfried Nachtwei, geb. 1946, arbeitete nach Wehrdienst und Studium von 1977 bis 1994 als Lehrer am Gymnasium Dülmen. Von 1994 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, ab 2002 sicherheits- und abrüstungspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Er ist Ko-Vorsitzender des Beirats Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt, Mitglied im Beirat Innere Führung/BMVg, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Mitglied in der AG „Gerechter Friede“ von Justitia et Pax und im Beirat der Katholischen Friedensstiftung sowie 2015 Leiter der Kommission „G36 im Einsatz“. www.nachtwei.de

winfried@nachtwei.de


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Foresight und moderne Zukunfts­forschung: Möglichkeiten und Praxis
Edgar Göll
Krisenprävention in einer Zeit des radikalen Wandels
Bernhard Koch
Transformative Szenarioplanung – Gemeinsam die Zukunft verändern
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Verfügbare Zukunft? Friedensethische Reflexionen unter der Perspektive des ­gerechten Friedens und der ­vorausschauenden Klugheit
Franz-Josef Overbeck
Zunehmende Komplexität und Unsicherheit als zukünftige Herausforderungen für die NATO und den Westen
Manfred Nielson
Krisenfrüherkennung und Vorausschau in der Friedens- und Sicherheitspolitik: Früher, entschiedener, ­substanzieller agieren!
Winfried Nachtwei
Die neue Unberechenbarkeit – warum Deutschland eine Sicherheitsstrategie braucht
James D. Bindenagel

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