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Zuverlässig, rechtschaffen und engagiert im Dienste Luxemburgs und seiner Verbündeten

Die luxemburgische Armee hat sich in einem vom Verteidigungsministerium angestoßenen und fachlich moderierten Prozess auf ein eigenes Werte-Raster verständigt. So hat sie ihr eigenes Ethos mitentwickelt, reflektiert, schriftlich fixiert und in einem Verhaltenskodex1 konkretisiert. Dies ist ein Bericht über die Voraussetzungen und Herausforderungen eines solchen partizipativen Ansatzes sowie wesentliche Erkenntnisse („Lessons learned“). Er wurde in Abstimmung mit dem Luxemburger Verteidigungsministerium verfasst.

Einleitung

Werte stehen nicht im Himmel. Sie entstehen und wachsen in Gruppen von Menschen, die zusammen handeln (müssen). In den unterschiedlichsten Situationen gelebt, werden sie in der konkreten Zusammenarbeit implizit und explizit erfahrbar. Kommunikation und Vermittlung geschieht meistens zwischen den Zeilen und im Kontext der Handlungen. Die erwarteten und tatsächlich erlebten Werte finden ihren Ausdruck in den positiven und negativen Erzählungen über das gemeinsame Tun. In diesen Narrationen wird der Mix der Werte affektiv verarbeitet und existenziell gedeutet: Wofür lohnt sich mein Einsatz? Mit wem zusammen und warum setze ich mein Leben ein?

Bei dem Projekt valeurs phares (Hauptwerte/flagship values), das die Luxemburger Armee 2019 und 2020 auf den Impuls des zuständigen Ministers François Bausch (Grüne Partei) hin und mit der fachlichen Unterstützung durch die Moral Factory (Erny Gillen) durchgeführt hat, ging es darum, die gelebten und die zu lebenden Werte aus den Erzählungen und Erfahrungen der Armeeangehörigen aller Dienstgrade in Worte zu fassen, die für die Beteiligten und Auftraggeber einen Sinn ergeben.

Die im Verlauf des kooperativ gestalteten Prozesses erarbeiteten Ergebnisse sind: eine Werte-Charta, ein Werte-Raster (siehe Abbildung 1), ein Kommentar sowie ein militärischer Kodex als normativer Spiegel, die über die Webseite der Armee abgerufen werden können.

Im Folgenden werden der Prozess und die Ergebnisse in aller Kürze skizziert und rückblickend evaluiert.

Die Beteiligten

Der Prozess ist aus politischer Überzeugung angestoßen worden und keinem internen Skandal geschuldet, der auf Druck der Öffentlichkeit eine politische und militärische Reaktion erfordert hätte. Dieser grundsätzliche Anlass zielte vielmehr auf das gemeinsame Verständnis einer kleinen und immer noch jungen Armee sui generis2 mit sehr unterschiedlichen nationalen und internationalen Verpflichtungen. Entsprechend konnte die Leitung der Armee den Prozess offen und ohne großen Zeit- und Ergebnisdruck gestalten.

Neben einer Steuergruppe, in welcher die Verantwortlichen aus Ministerium und Armee zusammen mit dem Projektverantwortlichen die Weichen flexibel stellen konnten, waren es die Command Senior Enlisted Leaders und die Kommunikationsstelle, die für die interne Organisation der Interviews, Sitzungen und Veranstaltungen verantwortlich zeichneten.

Um zu gewährleisten, dass die Werte-Charta und das Werte-Raster über die Grenzen des Luxemburger Prozesses hinaus kommunikabel und darstellbar sind, wurden Bildungseinrichtungen und Institute der Partnerarmeen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Norwegen und der Schweiz zuerst eingeladen, qualitative Feedbacks im Sinne einer Peer-Review zu formulieren und später bei einer gemeinsamen Veranstaltung (vor Ort und online) erfahrungsbasierte Anregungen zur Umsetzung auszutauschen.

Der Prozess und die Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit im Oktober und Dezember 2020 über die Presse vorgestellt.

Die großen Etappen und Ergebnisse

Werte gehören zum Erbgut einer Armee. Sie werden explizit und implizit, affektiv und rituell über die Uniform, den Drill, die Kameradschaft und die fein gestaffelte Hierarchie von Generation zu Generation übertragen. Sie drücken die Identität der Armeeangehörigen und der Armee selbst aus. Sie werden gelebt, sichtbar ausgehängt, eingeprägt und wiederholt, um Bindung zwischen den unterschiedlichen Menschen mit und ohne Uniform zu erzeugen. So schaffen sie einen gemeinsamen Horizont und geben dem militärischen Training und Einsatz über die vielen kleinen genormten Abläufe und Regeln hinaus einen Sinn. Der Soziologe Hans Joas fasst die ständige Genese von Werten knapp so zusammen: „Werte entstehen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz.“3

Die Angehörigen der Armee einbeziehen

Vor diesem Hintergrund und Ansatz wurden 56 Personen von rund tausend militärischen und zivilen Armeeangehörigen in Einzelgesprächen und zum Teil in kleinen Gruppen auf ihre Erfahrungen mit den Werten in der Luxemburger Armee befragt. Bei diesen qualitativen Interviews wurden die Altersgruppen, das Geschlecht und die Hierarchiestufen proportional berücksichtigt. Um die meistgenannten Werte wie Disziplin, Rechtschaffenheit, Kameradschaft und Engagement wurden Wortgruppen gebildet und den Beteiligten in vier gemischten Fokusgruppen zurückgespiegelt, um herauszufinden, welche der festgehaltenen Begriffe am meisten Zustimmung und Verständnis in der multikulturellen, multireligiösen und vielsprachigen Realität der Armee finden.

Hauptwerte ausdifferenzieren

Dabei wurde deutlich, dass den Hauptwerten Engagement, Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit je nach Perspektive und Standpunkt eine unterschiedliche Gewichtung zugesprochen wurde. Um diesem Faktum Rechnung zu tragen, wurde ein dynamisches Raster (siehe Abbildung 1) um die drei Hauptwerte entwickelt, das in drei Ebenen und vier Säulen gelesen und interpretiert werden kann. Die Deklinationen der Hauptwerte wurden vielfach besprochen und so lange in französischer Sprache ausgetauscht und nuanciert, bis sie für die Steuergruppe kohärent waren.

Werte perspektivisch in Beziehung setzen

Im Ergebnis schafft das Raster Sinn stiftende Perspektiven für die einzelne Person, die Gruppen, zu denen sie gehört, sowie für die konkrete Aufgabe, die sie im Rahmen des größeren Auftrags erfüllt. Im Gesamtzusammenhang gelesen, lässt der Respekt, als Ausdruck der persönlichen Zuverlässigkeit, auf den Ebenen der Rechtschaffenheit und des Engagements die fundamentale Gleichheit und die Würde aller Menschen durchscheinen. Dabei stellt die Würde den Zielwert, die Gleichheit den ethischen und der geforderte Respekt den normativen Wert dar. Auf die Wir-Perspektive angewendet, scheinen das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit im Basiswert der Disziplin durch. Der mittels dieser sechs Unterkategorien ausgedrückte Geist der Kameradschaft ist in den größeren Zusammenhang der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit eingebettet.

Respekt gegenüber Personen

Wer die Perspektive des Befehlenden gegenüber Personen und Gruppen einnimmt, wendet das Raster in den beiden ersten Kolonnen von oben nach unten an. Die eingeforderten Werte von Respekt und Disziplin basieren auf der Gleichheit und der Gerechtigkeit innerhalb der jeweiligen Gruppen und dienen dem gemeinsamen Engagement für unsere Zivilisation und Kultur, wie sie vor allem aus den Kontrasterfahrungen des Zweiten Weltkrieges hervorgegangen sind.

Professionalität bei der Arbeit

Die beiden nächsten Säulen betreffen die konkreten Aufgaben und den größeren Auftrag. Hier wird die Zuverlässigkeit als Präzision in der Aufgabe und als Bestimmtheit in der Mission verstanden. Auf der Ebene der Rechtschaffenheit werden das rechte Maß und die Proportionalität als ethische Vermittlungsinstrumente angeboten, um die für das aus Engagement festzulegenden Ziele der Exzellenz und der kollektiven Güter (global commons) im konkreten Fall zu erreichen. Während die Politik die Prioritäten unter den zu verteidigenden kollektiven Gütern, wie Frieden, Volksgesundheit oder etwa Grenzschutz, festlegen muss, um das Militär für eine spezifische Mission zu aktivieren, ist es Aufgabe der Armeeführung, das zu erzielende Maß an Exzellenz im Rahmen des Machbaren festzulegen. Die in den beiden letzten Säulen deklinierten Werte machen die Professionalität einer Armee im Rechtsstaat aus.

Werte-Charta

Nachdem das Werte-Raster von der politischen und militärischen Ebene validiert worden war, wurde die Werte-Charta entworfen. Diese fügt die Hauptwerte und deren Ausdifferenzierungen in das historische, internationale und institutionelle Gefüge des Luxemburger Staats als aktiver Teil der internationalen Wertegemeinschaft ein. In dieser nationalen Erzählung übernimmt die Armee ihr Mandat mit einem kollektiven „Wir“ und verpflichtet sich, ihren Dienst am Land und darüber hinaus zusammen mit ihren Alliierten zuverlässig, rechtschaffen und engagiert zu leisten.

Die verschiedenen Entwürfe für das Raster und für die Charta wurden mit den Bildungseinrichtungen oder Instituten der Partnerarmeen besprochen, nuanciert und angereichert, bevor die zuständigen Luxemburger Behörden die Texte schließlich definitiv festhielten. Um die inhaltlich stark aufgeladenen Sätze der Charta und das abstrakte Werte-Raster über den Prozess hinaus lebendig zu halten, wurde ein Kommentar verfasst, dessen Elemente etwa in der Aus- und Weiterbildung sowie bei der Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt werden können.

Werte schützen

Im Oktober 2020 fand schließlich ein Seminar im Militärzentrum Grand-Duc Jean statt, um mit den am Entstehungsprozess beteiligten internationalen Partnern einerseits und mit dem neu eingesetzten Generalstabschef Steve Thull und seinem Leitungsteam andererseits den letzten Schritt dieses Prozesses einzuleiten, nämlich die konkrete Umsetzung dieser Arbeit an und mit den Werten für die alltägliche Praxis.

Im Anschluss an das praxisorientierte Seminar, in dem unterschiedliche grundsätzliche, didaktische und militärische Instrumente vorgestellt und in kleinen Gruppen vertieft und diskutiert werden konnten, setzte der Generalstabschef eine offene Arbeitsgruppe ein, die einen normativen Militärkodex erarbeiten und ihm vor Ende 2020 zur Inkraftsetzung vorlegen sollte.

Dieser Text wurde bewusst in luxemburgischer Sprache verfasst, weil dies die Umgangssprache unter den Militärangehörigen ist. Während die Werte-Charta mit Kommentar und Raster für alle Angehörigen der Armee gilt, richtet sich der militärische Kodex direkt an alle Uniformierten. Dem so entstandenen Kodex kommt heute bei der Ausbildung der Rekruten und Soldaten sowie bei der Zusammenarbeit zwischen allen Armeeangehörigen eine Schlüsselrolle zu.

Unter dem Leitmotiv „réussir ensemble“ (gemeinsam zum Erfolg) hat die Luxemburger Armee ihren Wertehorizont neu gefasst und diesen normativ in ihrem internen Regelwerk verankert. Dank der politischen Unterstützung, dem ehrgeizigen Willen der militärischen Führung, der aktiven Beteiligung von Armeeangehörigen des zivilen und militärischen Bereichs quer durch alle Dienstgrade sowie der fachlichen Unterstützung durch Partnerarmeen konnten in relativ kurzer Zeit Resultate erarbeitet und festgehalten werden, die bei aktuellen und zukünftigen Einsätzen Halt und Orientierung bieten.

Werte kommunizieren

Wer sich an seinen eigenen Werten messen (lassen) will, muss diese intern und extern offenlegen. Nachdem alle Mitglieder der Armee die Gelegenheit hatten, den Prozess und die Werte-Charta im Vorfeld des internationalen Seminars in der Kaserne vorgestellt zu bekommen, wurde die Öffentlichkeit anlässlich einer Pressekonferenz vom Verteidigungsminister François Bausch und den Autoren informiert. Ende des Jahres 2020 konnte der Generalstabschef die Presse informieren, dass auch der letzte konzeptionelle Umsetzungsschritt mit der Festschreibung des militärischen Kodex abgeschlossen war.

Erkenntnisse aus dem Prozess

Auch wenn es im September 2021 noch recht früh ist, um den nachhaltigen Erfolg des Projektes valeurs phares der Luxemburger Armee rückblickend zu bewerten, können hier doch schon einige Schlüsselfaktoren zum erfolgreichen Durchführen dieser Werte-Anamnese, der Kodifizierung eines dynamischen Gefüges von Werten sowie deren Übersetzung in ein durch Normen geregeltes Zusammenarbeiten und -leben in der Luxemburger Armee benannt werden.

Führungsengagement (leadership commitment)

Das von Anfang an vorurteilsfreie, interessierte und finanzielle Engagement des zuständigen Ministeriums war entscheidend für das Zustandekommen und die Durchführung des Projektes valeurs phares. Genauso wichtig war die Bereitschaft der Armeeführung, die Anfrage des Ministers positiv aufzugreifen und sich für eine externe fachliche Analyse ihrer implizit gelebten Werte zu öffnen.

Fachkompetenz und Einfühlungsvermögen

Für den Erfolg des Projektes waren ebenfalls die fachliche und unabhängige Begleitung des Projektes erforderlich. Ohne transparente und nachvollziehbare Vorgehensweise und ohne eine über die Landesgrenzen hinaus vernetzte Persönlichkeit aus dem Fachgebiet angewandter Ethik wäre der Prozess gerade zu Beginn kaum in Gang gekommen. Geduldige Empathie und integre Zielorientierung gehören zu den unumgänglichen Qualitäten eines Externen, dem sich Armeeangehörige anvertrauen können.

Institutionelles Vertrauen

Für das Gelingen eines solchen Projektes ist institutionelles Vertrauen unumgänglich. Dieses wurde über die Steuergruppe und die interne Begleitgruppe gewährleistet. So konnten die gelebten und zu lebenden Werte quer durch die Armee ergebnisoffen erhoben, kritisch zurückgespiegelt und schließlich fixiert werden. Die vom Ministerium und der Armeeführung gewährte nötige Freiheit für einen solch sensiblen Prozess wurde vom ethischen Begleiter offengehalten.

Werte in Beziehung setzen

Das Werte-Raster, die Werte-Charta und der Kommentar ergänzen sich gegenseitig und schaffen einen Rahmen für den militärischen Kodex. Im Zusammenspiel der vier partizipativ erarbeiteten Dokumente bleibt das Potenzial für weiterführende und korrigierende Auslegungen und Anwendungen lebendig. Die von der politischen Führung am Anfang zugestandene Freiheit, das eigene militärische Ethos mitzuentwickeln, bleibt so auch über das abgeschlossene Projekt hinaus als Antrieb und Herausforderung für ethisches Handeln erhalten.

Umsetzungswille und -instrumente

Bei der präzisen Ausformulierung der Charta, die im Rahmen eines moderierten partizipativen Prozesses innerhalb der Luxemburger Armee und kritischer Rückmeldungen von den ausländischen militärischen Partnern gewachsen war, entschied am Ende dieses Prozessabschnitts die Militärführung den Wortlaut und den Duktus des Textes im Rahmen der Steuergruppe. Dies wurde explizit vom Ministerium mitgetragen und motivierte den damals neu bestellten Generalstabschef, sich die Charta der Luxemburger Armee zu eigen zu machen. Die Präsenz und die Aussagen des Ministers sowie seiner Mitarbeiter:innen beim internationalen Seminar bestätigten, dass das Projekt gemeinsam gewollt war und das Resultat politisch Anerkennung fand.

Dass dem Grundtext der Charta rasch ein von der Militärführung eingeforderter Verhaltenskodex für den Alltag folgte, muss als weiteres Schlüsselelement für den Erfolg für die militärische Umsetzung des Projektes über den Projektzeitraum hinaus gewertet werden. Ohne eine nachvollziehbare Unterstützung durch konkrete Verhaltensregeln würden die Werte und die Charta dem Militär nicht in Fleisch und Blut übergehen. Der Kodex wird so zum entscheidenden Spiegel, in dem jeder überprüfen kann, ob sein Handeln den kollektiven Werten entspricht!

https://www.armee.lu/actualites/2020/engagement-droiture-et-fiabilite-presentation-de-la-premiere-charte-des-valeurs-de-l-armee-luxembourgeoise: Werte-Charta, Kommentar und militärischer Verhaltenskodex (Stand: 16.11.2021).

2 Seit 2003 können EU-Bürger als freiwillige Soldaten von der Luxemburger Armee rekrutiert werden. Sie stellen im Oktober 2021 16,2 Prozent dieses Korps dar und kommen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Polen, Portugal und Spanien. Luxemburg zählte zum 1. Januar 2021 634.730 Einwohner mit einem Ausländeranteil von 47,2 Prozent. Die portugiesische Bevölkerungsgruppe (14,9 Prozent) macht auch hier unter den 170 Nationalitäten den grössten Teil aus. Das Land und die Armee sind von einer großen Multikulturalität geprägt. Mehr Informationen zur Demografie: https://luxembourg.public.lu/de/gesellschaft-und-kultur/bevolkerung/demografie.html (Stand: 16.12.2021).

3 Joas, Hans (2017): Die Entstehung der Werte. 7. Auflage. Frankfurt am Main, S. 10.