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Geben wir dem Staatsbürger seine Uniform zurück! Ein persönlicher Essay

Innere Führung - ein nutzloses Konzept? 

„Innere Führung ist großartig!“ Schweigen, Kopfschütteln, verständnislose Blicke. Die typischen Reaktionen auf diese Aussage − jedenfalls in meinen bisherigen Verwendungen bei Infanterieeinheiten. Mögliche weitere Bemerkungen: „Das braucht doch keiner!“, oder: „Wovon reden Sie da eigentlich?“ Auf ministerieller und strategischer Ebene wird Innere Führung gern hochgejubelt, böse Zungen sagen auch: vorgeschoben. Auf den unteren Ebenen dagegen scheint sich niemand so richtig für unser Ethikkonzept zu interessieren. Und diese Diskrepanz besteht, obwohl es direkt im ersten Artikel der zugehörigen Vorschrift heißt: Innere Führung ist die „Grundlage für den militärischen Dienst in der Bundeswehr und (...) das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten“ (Nr. 101). Mein Eindruck ist dagegen: Die meisten Soldatinnen und Soldaten fühlen sich davon kaum angesprochen. Nicht dass Innere Führung aktiv abgelehnt wird, viele interessieren sich einfach nicht dafür. Aber woher kommt diese Diskrepanz? Meine Antwort: Wir vermitteln die Inhalte der Inneren Führung falsch! Unsere Darstellung in Seminaren und Unterrichten ist oft zu langweilig, zu abstrakt und im praktischen militärischen Alltag nicht greifbar. In diesem Essay stelle ich meine Sichtweise auf die Innere Führung dar – und wie wir sie möglicherweise von ihrem angestaubten langweiligen Image befreien können. 

Meine Grundüberzeugung: Innere Führung ist ein außerordentlich wertvoller und unabdingbarer Kompass für unsere Soldatinnen und Soldaten, sowohl im Krieg als auch in Friedenszeiten. Daher präsentiere ich in diesem Essay zwei wesentliche Gedanken: Erstens, wir müssen endlich anerkennen, dass moralischen Werte wie die Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie, genauso wie das Grundgesetz als Fundament unseres Handelns, in keinster Weise in Widerspruch stehen zu den Forderungen nach Tapferkeit, Loyalität und der Bereitschaft zum Kampf. Vielmehr müssen diese beiden Seiten als Teil einer gemeinsamen Gleichung verstanden werden, die in einer ausgewogenen Beziehung zueinander stehen. Eine Seite ist wertlos ohne die andere. Zweitens, die Unterrichte zur Inneren Führung müssen das gesamte Spektrum des Konzepts – moralische Werte und militärische Tugenden – miteinbeziehen. Ich will aufzeigen, wie der nach wie vor relevante Text der Vorschrift uns dabei helfen kann, Innere Führung für Soldatinnen und Soldaten, insbesondere für junge Offizierinnen und Offiziere, interessanter und ansprechender zu gestalten und zu vermitteln. 

Zwei (alte) Kernthemen: Eine Rückbesinnung 

Die Vorschrift zur Inneren Führung bedarf keiner grundlegenden Überarbeitung oder Aktualisierung. Sie beinhaltet alle notwendigen Leitlinien für Soldatinnen und Soldaten und militärische Vorgesetzte der Bundeswehr: vom Einstehen für Demokratie und Menschenrechte bis hin zu den militärischen Forderungen nach Loyalität, Tapferkeit und der Bereitschaft zum Kampf. Seit der Neuaufstellung der deutschen Streitkräfte im Jahr 1955/56 ist Innere Führung das grundlegende Ethik- und Führungskonzept und damit integraler Bestandteil der Bundeswehr. Ein erster Blick auf ihre Entstehungsgeschichte zeigt, dass eines der wesentlichen Ziele darin bestand, den Bruch mit der schuldhaften Wehrmacht zu markieren und die neue Bundeswehr moralisch zu legitimieren. Innere Führungsteht symbolisch für das Lernen aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und schlägt eine Brücke zwischen dem grundlegenden Erfordernis nach Streitkräften und der gleichzeitigen Furcht vor ihrer zerstörerischen Kraft in den falschen (politischen) Händen. Innere Führung führt deutlich vor Augen: Zur Verteidigung unserer Demokratie braucht es ein einsatzfähiges und starkes Militär auf Grundlage unseres Grundgesetzes – und dies gilt heute genauso wie in den 1950er-Jahren. 

Mit diesem Grundverständnis beginne ich meinem ersten großen Gedanken, die Diskussion über das Verhältnis zwischen moralischen Werten und „klassischen“ militärischen Forderungen nach Tapferkeit, Kampfbereitschaft und dem Einsatz des eigenen Lebens. Hierzu der zweite Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte des Konzepts der Inneren Führung und auf die Erfahrungen ihrer „Gründungsväter“: Die bekanntesten Pioniere der Inneren Führung waren die Generalleutnante Hans Speidel und Adolf Heusinger, Oberst Johann Adolf Graf von Kielmansegg, Oberstleutnant Ulrich de Maizière und Major Wolf Graf von Baudissin (Dienstgrade jeweils zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945). Sie alle verfügten über umfangreiche Gefechtserfahrung, waren fast alle verwundet worden und wurden teils für ihre militärische Leistung hochdekoriert. Sie alle hatten den Zweiten Weltkrieg an der Front erlebt und wussten, was Kampf für Soldaten und Offiziere wirklich bedeutet − und was notwendig war, um im Gefecht zu bestehen. Darüber hinaus waren sie für ihre Ablehnung gegenüber dem Nazi-Regime bekannt. Neben den persönlichen Kriegserfahrungen dachte Wolf Graf von Baudissin auch über zukünftige Kriegsszenarien nach, einschließlich eines möglichen Atomkriegs. Sobald Armeen auf dem technologisch hochgerüsteten Schlachtfeld der Zukunft aufeinandertreffen, war zu erwarten, dass die unmittelbare Führung extrem erschwert oder gar unmöglich wird. Jede einzelne Soldatin und jeder einzelne Soldat muss dann selbstständig handeln und Entscheidungen treffen, unter Rückgriff auf die eigene militärische Ausbildung und − in moralisch schwierigen Situationen − auch das eigene Gewissen. 

Mit Blick auf die Erfahrungen und Gedanken der „Gründungsväter“ drängen sich mir zwei zentrale Themen der Inneren Führung auf: erstens die absolute Notwendigkeit, jegliche Gräueltaten und Völkerrechtsverletzungen durch deutsche Soldaten in Zukunft zu verhindern – prägnant zusammengefasst mit „Nie wieder!“ Es geht darum, aktiv daran zu arbeiten, dass das Militär sich nie wieder als willfähriges Instrument in den Dienst eines verbrecherischen Regimes stellt. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr müssen von den Grundsätzen unserer Demokratie und den moralischen Werten des Grundgesetzes überzeugt sein. Sie müssen die Bedeutung von „gewissensgeleitetem Gehorsam“ (Nr. 401) verstehen, dass Befehle wichtig sind, diese jedoch Grenzen haben und man im Zweifel den Mut aufbringen muss, seinem eigenen moralischen Kompass zu folgen. 

Das zweite Kernthema ist die Schaffung widerstands- und durchsetzungsfähiger Streitkräfte, auf der Grundlage einer starken Kohäsion der Truppe auf taktischer Ebene sowie des gegenseitigen Vertrauens über alle Führungsebenen hinweg. Jeder der „Gründungsväter“ der Inneren Führungspielte eine wichtige Rolle bei der Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik; die meisten stiegen später in höchste Ränge auf. Diese Offiziere waren sicherlich keine Gegner des Militärischen. Vielmehr waren sie bestrebt, einsatzbereite und schlagkräftige Streitkräfte aufzustellen, die sich im Kalten Krieg, sollte er heiß werden, auch durchsetzen konnten. Aber angesichts ihrer Erfahrungen im Nationalsozialismus erkannten sie zugleich die Notwendigkeit eines klaren moralischen Leitbilds für die neue Bundeswehr. Durch ihre Fronterfahrungen im Zweiten Weltkrieg legten sie aber auch großen Wert auf den starken Zusammenhalt innerhalb von Einheiten und Verbänden. Sie wussten: Ohne diesen Zusammenhalt sind durchsetzungsfähige Streitkräfte nicht möglich. Der einfachen Logik folgend: Wer bewaffnete Streitkräfte aufstellt, will zugleich, dass sich diese im Gefecht auch durchsetzen – schlicht aus Verantwortung gegenüber jedem einzelnen Soldaten, gegenüber dem Land, für das er kämpft, und gegenüber den Werten, für die dieses Land steht. Wäre dies nicht der Fall, wären diese Streitkräfte zum Schutz der jungen Demokratie nutzlos. 

Diese Interpretation der Inneren Führung mag aus akademischer Sicht eine starke Vereinfachung sein, ist aber aus meiner Sicht ein sinnvoller Ausgangspunkt, um das Konzept für Soldatinnen und Soldaten im militärischen Alltag greifbarer zu machen. Ich muss nochmals klarstellen: Es geht mir nicht darum, Innere Führung auf ihren praktischen Wert im Einsatz oder im Kampf zu reduzieren, wie es einige anderen Autoren tun. Vielmehr sind die beiden genannten Kernthemen, die Festlegung moralischer Werte und damit die Verhinderung des Missbrauchs sowie das Aufstellen schlagkräftiger Streitkräfte, Elemente ein und desselben Konzepts. Das eine ist ohne das andere wertlos, sowohl im Frieden als auch im Krieg. Dies ist zugleich eine deutliche Kritik an der Ausbildung zur Inneren Führung, wie sie in der Bundeswehr in den letzten Jahren oft zu finden ist. Wir konzentrieren uns fast ausschließlich auf das erste Thema, die Verhinderung des Missbrauchs der Streitkräfte und die Betonung moralischer Werte. Gerne sagen wir, dass wir in unserem Handeln vorbildlich und „gute“ Soldaten sein müssen. Aber warum genau wir das tun sollen, warum Vorgesetzte immer vorbildlich sein müssen, warum wir kameradschaftlich sein müssen – dies wird meist nicht deutlich angesprochen. Wir sprechen viel vom Staatsbürger und kaum von seiner Uniform.

Der „Staatsbürger“ und seine „Uniform“

Das Bild des „Staatsbürgers in Uniform“ ist zentraler Dreh- und Angelpunkt in Debatten zur Inneren Führung. Es wird aber oft (miss-)verstanden als ein Soldat, der sich voll und ganz auf unsere demokratischen Werte einlässt, sich in die politische Debatte einbringt und durch den Moralkodex unserer Gesellschaft per se motiviert ist. Aber: Leiten Soldatinnen und Soldaten ihre „Bereitschaft (...) zur gewissenhaften Pflichterfüllung“ (Nr. 401) wirklich durch ihren Glauben an Menschenrechte, Demokratie und Moral ab? Ich habe hier deutliche Zweifel. Bitte nicht falsch verstehen – der Einsatz für demokratische Werte und Menschenrechte ist eines der wichtigsten, wenn nicht sogar das wichtigste Element der Inneren Führung. Dennoch, es handelt es sich hier aus meiner Sicht um den „staatsbürgerlichen“ Teil des Konzepts; der „Uniform“-Anteil findet deutlich weniger Aufmerksamkeit. Dieser „Uniform“-Anteil, auf das Wesentliche reduziert, ist das Kämpfen, Töten und letztendlich Sterben für unser Land und – noch wichtiger – für die Werte, für die dieses Land einsteht. Das klingt drastisch, ist aber letztendlich der Kern des Militärischen. Für Soldatinnen und Soldaten bedeutet dies konkret: Mut, Treue zum Grundgesetz und Loyalität gegenüber Kameraden und die Bereitschaft, Entbehrungen zu ertragen und im äußersten Fall das eigene Leben einzusetzen. Hier wird deutlich: Der Kampf gehört zur Bundeswehr und unser Grundgesetz und unsere moralischen Werte geben die Richtung vor.

Die Innere Führung will Angehörige der Bundeswehr sowohl als Bürgerinnen und Bürger als auch als Soldatinnen und Soldaten ansprechen. Wird aber nur eine dieser beiden Seiten angesprochen und die andere vernachlässigt, egal ob in Ausbildungen, Unterrichtungen oder im militärischen Dienst, verliert das ethische Gesamtkonzept an Wert. 

Wenn die Lehre zur Inneren Führung Aspekte von Kameradschaft, Tapferkeit und notwendiger Führungsqualitäten im Gefecht vernachlässigt und die Frage „Warum tapfer sein?“ unbeantwortet lässt, wird ein wichtiger Teil, vielleicht der für Soldaten wichtigere Teil, ignoriert. Werden stattdessen lediglich weichgezeichnete Ideale von Menschenrechten und Wohlverhalten betont, wird der Wert des Gesamtkonzepts marginal. Und dringen die Diskussionen über Menschenrechte und Moral nie bis zur unbequemen Realität vor – die letztendliche Bereitschaft, für diese Ideale zu töten –, wird eine weitere Gelegenheit verpasst, die Relevanz von Innerer Führung für den militärischen Auftrag klarzumachen. 

Ich denke, wegen dieses Ungleichgewichts höre ich in Gesprächen mit Kameraden zur Inneren FührungBemerkungen wie „veraltetes Modell“, „irrelevant“, „Zeitverschwendung“ oder die Frage: „Innere Führung? Was ist das eigentlich genau?“ Selbst hier, in diesem Journal, stellen Experten regelmäßig die Frage, ob das Konzept der Inneren Führung nicht überarbeitet werden sollte. Für die meisten Soldatinnen und Soldaten spielt Innere Führung dagegen im Alltag schlicht gar keine Rolle. Es fehlt auf taktischer Ebene oft das Verständnis, welchen nachhaltigen Einfluss die Innere Führung auf viele wesentliche Elemente der modernen deutschen Militärkultur hat. Beispiele sind die Einbindung aller Dienstgrade in Entscheidungsfindungsprozesse durch Beteiligungsgremien und Vertrauenspersonen, der Grundsatz „Führen mit Auftrag“, Anforderungen und Grenzen von Befehlen und die wiederkehrende Forderung nach der Vorbildfunktion von Vorgesetzten. Diese Beispiele werden übersehen, der Einfluss von Innerer Führung verkannt. Und warum? Viele Soldatinnen und Soldaten setzten sich nie tiefgreifend mit der Inneren Führung auseinander, schlicht weil in der Vermittlung des Konzepts oft nicht sein praktischer Wert herausgestellt wird. Wie aber gelingt es uns, die Akzeptanz von Innerer Führung in der Breite der Bundeswehr zu erhöhen, um dem selbst gestellten Anspruch gerecht zu werden, die „Grundlage für den militärischen Dienst in der Bundeswehr und (...) das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten“ (Nr. 101) zu sein? 

Meine Antwort, für manche vielleicht überraschend: indem wir Soldatinnen und Soldaten dazu motivieren, den kurzen, prägnanten Text einfach zu lesen. 

Ich bin überzeugt, dass man die volle Bandbreite an Hinweisen, versteckten Ratschlägen und Werten nur entdecken kann, wenn man auch den gesamten Text kennt. Und dafür liest man ihn am besten selbst. Die Kenntnis aller Aspekte, auch derer, die oftmals in der Vermittlung in der politischen Bildung oder in den Lebenskundlichen Unterrichten zu kurz kommen, bildet die Grundlage für eine sinnvolle und kritische Auseinandersetzung. Und damit meine ich ausdrücklich nicht, dass man der Vorschrift in allen Punkten zustimmen muss. 

Doch wie überzeugen wir nun Soldatinnen und Soldaten davon, die Dienstvorschrift tatsächlich zu lesen? Auch hier ist die Antwort recht einfach: Wir müssen Innere Führung wieder attraktiv gestalten! Es muss wieder interessant sein, sich damit zu beschäftigen. Genau darin liegt eine der zentralen Aufgabe der Ethikausbildung in der Bundeswehr − egal ob durchgeführt von Militärgeistlichen, externen Referenten oder Disziplinarvorgesetzten. Um es nochmals auf den Punkt zu bringen: Derzeit, so wie ich Ethik in den Streitkräften erlebe und wie es die meisten Soldaten erleben, ist die Vermittlung der Inneren Führung zu vage, zu abstrakt und zu langweilig. Bei genauem Hinsehen ist Innere Führung aber hochinteressant und spannend, und genauso müssen wir ihre Vermittlung gestalten. Ja, Innere Führung ist sicherlich kein einfaches Modell, und ja, sie kann auch abstrakt sein. Aber wir können das Konzept verständlich machen, indem wir es in den Bezug zu den Erwartungen und den militärischen Kernaufgaben von Soldatinnen und Soldaten setzen. Der Text der Inneren Führung selbst gibt uns hierfür das notwendige Handwerkszeug.

Die Wiederentdeckung der „Uniform“ 

Der zweite Teil dieses Essays geht der Frage nach, wie wir das dargestellte Gleichgewicht zwischen dem „Staatsbürger“- und dem „Uniform“-Anteil wiederherstellen. Dies ist der Schlüssel, um Innere Führung auf allen Ebenen und auf lange Sicht wieder interessant und relevant zu machen. In diesem Beitrag lege ich meinen Fokus auf junge Soldatinnen und Soldaten, speziell auf junge Männer und Frauen in der Offizierslaufbahn. Nach meiner Erfahrung haben die meisten Soldatinnen und Soldaten in der „Mitte“ ihrer militärischen Karriere kaum die Zeit, sich tiefgreifend mit ethischen Grundlagen zu beschäftigen – getrieben durch regelmäßige Dienstpostenwechsel, eingespannt in fordernden Führungsverwendungen und regelmäßigen Einsatzzyklen. Deshalb konzentriere ich mich auf unsere jungen Männer und Frauen und nehme hier der Einfachheit halber 23-jährige Infanterieoffiziere als Beispiel. Als Vorgesetzte und Ausbilder formen sie ihre Untergebenen und Kameraden unmittelbar und dienen als direkte Vorbilder in Bezug auf gelebte Werte und ethisches Handeln. 

Meine Methode: Ich nehme nur Textpassagen und Zitate aus der Inneren Führung selbst und zeige spannende, teils kontroverse und oft unausgesprochene Teile der Vorschrift auf. Ich will eine Debatte anstoßen, warum diese Textteile nur selten diskutiert werden – und auch ob sich hier Parallelen zu den Erwartungshaltungen junger Offiziere finden. 

Wenn ich mich in die Lage dieser jungen, motivierten 23-jährigen Infanterieoffiziere versetze, so gehe ich davon aus, dass die meisten Innere Führung wohl eher langweilig finden – zumindest so wie sie das Konzept kennengelernt haben. Wenn wir aber erreichen wollen, dass genau diese Gruppe sich mit Innerer Führung ernsthaft auseinandersetzt und sie als persönlich relevant empfindet, müssen wir die praktischen Dimensionen des Textes endlich genauso diskutieren wie die zugrunde liegenden moralischen Ideale. Ich bin überzeugt, dass junge Offizieranwärterinnen und -anwärter sehr wohl über ihre zukünftige Rolle und auch ihren militärischen Auftrag nachdenken. Die meisten treibt wohl der Wunsch an, „etwas Gutes zu tun“ und „etwas in der Welt zu bewegen“. Ich behaupte aber auch, dass es nicht unbedingt die abstrakte Idee der Verteidigung unserer Demokratie ist, warum sie sich freiwillig zum Dienst in der Bundeswehr gemeldet haben. Die meisten befassen sich sicherlich nicht im Detail mit den schwierigen ethischen Hintergründen unseres Berufes. Diese jungen Männer und Frauen wollen sich in Auslandseinsätzen beweisen, Menschen in Not helfen und gegen Terroristen kämpfen. Was also sind Tugenden und Werte, die junge Offiziere ansprechen, insbesondere diejenigen, die sich zu Kampfeinheiten melden? Was motiviert sie, was weckt ihr Interesse? 

Nach den Erfahrungen, die ich in meiner eigenen Laufbahn gemacht habe, ob selbst als Offizieranwärter oder später in Führungsverwendungen, gehe ich davon aus, dass sie sich eher von „klassischen“ militärischen Werten angezogen fühlen − oder zumindest von dem, was sie unter militärischen Werten verstehen. Dies sind oft Idealvorstellungen von Kameradschaft, Tapferkeit und Disziplin, oder praktisch dargelegt: sie erwarten eine harte und fordernde Ausbildung. Sie erwarten, für Auslandseinsätze und Gefechte vorbereitet zu werden. Und sie wollen sich als gute und vorbildliche militärische Führer beweisen, auch im Kampf, und wollen lernen, wie man selbst leistungsfähige Einheiten führt und aufbaut. All diese genannten Werte und Tugenden werden in Innerer Führung klar angesprochen und gefordert − manche unmittelbar, manche etwas versteckt am Ende eines Absatzes. Aber bei genauem Hinsehen sind sie alle zu finden. 

Im Hinblick auf die genannten Idealvorstellungen ist der „soldatischen Wertekanon“ (Nr. 507) sicherlich die offensichtlichste und eindeutigste Aussage zu den Anforderungen an eine Soldatin oder an einen Soldaten der Bundeswehr. Neben der Verpflichtung zum Grundgesetz sollen sie „tapfer, treu und gewissenhaft, kameradschaftlich und fürsorglich, diszipliniert, fachlich befähigt und lernwillig, wahrhaftig gegenüber sich und anderen, gerecht, tolerant und aufgeschlossen gegenüber anderen Kulturen und moralisch urteilsfähig“ sein. Kameradschaftlichkeit, Tapferkeit, Loyalität, Disziplin und fachliche Kompetenz werden hier sehr deutlich gefordert. Diesen „soldatischen Wertekanon“ in seiner vollen Breite darzustellen und zu vermitteln, ohne Teile auszulassen, sollte Teil eines jeden Grundsatzunterrichts zu Innerer Führung sein. Diese vielseitige Anforderungsliste ist auch ein Synonym für die Breite des eigenen Verantwortungsspektrums junger Offizierinnen und Offiziere. 

Innere Führung fordert von jedem Soldaten zudem, jederzeit für Krisen bereitzustehen. Nr. 402 der Vorschrift beschreibt „idealtypisch“ den Soldaten und die Soldatin der Bundeswehr, definiert als der „Staatsbürger in Uniform“. Von ihm wird erwartet, „sich für den Auftrag einsatzbereit zu halten“. Und Nr. 505 macht deutlich, dass dieser militärische Auftrag auch das Äußerste miteinschließt: „Denn der militärische Auftrag erfordert in letzter Konsequenz, im Kampf zu töten und dabei das eigene Leben und das Leben von Kameraden einzusetzen.“ Dieser grausame Teil der militärischen Realität – der Kampf als solcher – wird auch im ersten Kapitel der Vorschrift in den Anforderungen an die „Staatsbürger in Uniform“ ersichtlich: „Sie haben der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Ihr militärischer Dienst schließt den Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens mit ein und verlangt in letzter Konsequenz, im Kampf auch zu töten“ (Nr. 105). Der Begriff „Staatsbürger“ bezieht sich eindeutig auf den Einsatz für Grundgesetz und Menschenrechte. Die Betonung der Kampfbereitschaft ist dann die Erklärung für den „Uniform“-Begriff. Mit Sicherheit ist es nicht das Gefecht oder der Kampf, egal wie idealisiert auch dargestellt, der den Dienst in Streitkräften attraktiv macht − und so sollte es auch nicht sein. Aber es entspricht dem, was junge Soldatinnen und Soldaten eigentlich vom Militär erwarten. 

Offizieranwärter und junge Offiziere versprechen sich von ihrer militärischen Ausbildung neben Fachwissen und soldatischen Tugenden auch Hilfestellungen zur Entwicklung der eigenen Führungsqualitäten – und diese Hilfestellungen sollten einfach und nachvollziehbar sein. Die Vorschrift zur Inneren Führung bietet hierfür einen praktischen Anhang, der Hinweise und Anforderungen prägnant zusammenfasst. Auch der Text der Inneren Führung bietet einige spannende Aussagen über militärische Führer. Ich halte hierbei den Paragrafen Nr. 606 für einen der wichtigsten Absätze der gesamten Vorschrift: „Vorgesetzte fördern das Vertrauen in die eigene Person, indem sie Belastungen, Entbehrungen und Gefahren gemeinsam mit ihren Soldatinnen und Soldaten ertragen. Gerade in schwierigen und fordernden Situationen müssen sie Verantwortung und Führungskönnen beweisen. Vorgesetzte müssen selbstbeherrscht und berechenbar sein. Gelebte Innere Führung zeigt sich im täglichen Dienst vor allem in einem von Achtung und Respekt geprägten Umgang miteinander.“ Nr. 622 ergänzt: „Ehrlicher Umgang mit sich selbst erhöht die Autorität als Vorgesetzte bzw. als Vorgesetzter.“ Belastungen gemeinsam ertragen, respektvoller Umgang miteinander, Wahrhaftigkeit und Berechenbarkeit – auf den ersten Blick einfache Richtlinien, die einige der wichtigsten Führungsqualitäten beschreiben und gleichzeitig sehr schwer umzusetzen sind. Diese Forderungen sollten der Maßstab für alle Führungskräfte der Bundeswehr sein. Und nochmals, sie werden in Innerer Führung deutlich gefordert. 

Abseits persönlicher Eigenschaften haben militärische Führer auf allen Ebenen einen Kernauftrag: starke und leistungsfähige Einheiten formen, indem sie deren inneren Zusammenhalt fördern. In Nr. 617 heißt es: „Vorgesetzte stärken besonders durch gemeinsames Bewältigen von Belastungssituationen den Zusammenhalt der ihnen unterstellten Soldatinnen und Soldaten und fördern so die Kameradschaft und das Vertrauen in die gemeinsame Leistungsfähigkeit sowie das Selbstwertgefühl der Gemeinschaft.“ Offiziere und Soldaten „gestalten (...) das Leben in der militärischen Gemeinschaft bewusst mit und leben Kameradschaft“ (Nr. 508). Darüber hinaus ist der innere Zusammenhalt von Einheiten eine Grundvoraussetzung von dauerhafter Motivation und Dienstzufriedenheit. Zu den Zielen der Inneren Führung zählt: „Die Bereitschaft der Soldatinnen und Soldaten zur gewissenhaften Pflichterfüllung (...) und zur Zusammenarbeit zu stärken sowie die Disziplin und den Zusammenhalt der Truppe zu bewahren“ (Nr. 401). Die Kohäsion der Truppe ist ein sich wiederholendes Element der Inneren Führung. Ich bin überzeugt, dass dieser Zusammenhalt kein Selbstzweck ist. Vielmehr geht es darum, selbstbewusste und durchsetzungsfähige Streitkräfte aufzubauen. 

Nun, nach der Darstellung dieser Textstellen, wie wäre es beispielsweise, wenn wir diese genannten Zitate aneinanderreihen und junge Soldatinnen und Soldaten befragen würden, woher diese stammen? Ich denke nicht, dass die meisten sofort an die „verstaubte“ Innere Führung denken. Vielleicht ist dies ein erster Schritt, um sich mit Innerer Führung näher zu beschäftigen, den Text zu lesen, zu diskutieren und sich tatsächlich mit der Bedeutung des „Staatsbürgers in Uniform“ auseinanderzusetzen. Und auch wenn sich nicht jede Soldatin und jeder Soldat mit allen Details sofort identifiziert, werden sie doch feststellen, dass der Inhalt sehr wohl etwas mit ihrem militärischen Auftrag zu tun hat. Die Diskussion dieser Paragrafen zeigt, dass Innere Führung alles andere als langweilig und „verstaubt“ ist. 

Warum also, frage ich mich, werden diese teils „klassischen“, teils unbequemen militärischen Aspekte der Inneren Führung in unserer regulären Ethik- und Führungsausbildung kaum offen diskutiert? Steht die Vorstellung einer starken, schlagkräftigen und kampfbereiten Truppe, auf der Basis von festen Bindungen und Vertrauen zwischen den Soldatinnen und Soldaten und ihren Vorgesetzten, im Widerspruch zum „Staatsbürger in Uniform“? Sicherlich nicht. Sie stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander – so sollte es zumindest theoretisch sein. Doch mein Eindruck ist, dass wir, was die ethische Bildung und Ausbildung betrifft, nach wie vor durch unsere deutsche Militärgeschichte eingeengt sind. Der Text der Vorschrift selbst versucht hier Abhilfe zu schaffen und betont, dass das heutige demokratische „Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Streitkräften, (…) sich grundsätzlich von der historischen Situation der Reichswehr und der Wehrmacht unterscheidet“ (Nr. 204). Dennoch haben die deutsche Gesellschaft und die Bundeswehr selbst ein nach wie vor angespanntes Verhältnis zum Kernauftrag jeder militärischen Organisation – nämlich das Kämpfen und Bestehen im Gefecht. Schießen, Kämpfen und im äußersten Falle Töten ist Teil der militärischen Realität. Das Gefecht ist der Mittelpunkt unserer militärischen Ausbildung − auch wenn wir es vielleicht gern anders hätten. Wir zögern jedoch oft, diesen „dunklen“ Aspekt unseres Berufes bei ethischen Fragestellungen direkt anzusprechen. Auch die regelmäßigen Seminare zum Thema „Tod und Verwundung“ vermeiden meist die Auseinandersetzung mit dem Kernauftrag „Kampf“. Der „Staatsbürger in Uniform“ schlägt die Brücke zwischen den Streitkräften als reinem politischen Instrument und den im Grundgesetz verankerten Grundwerten unserer Demokratie. Der „Staatsbürger in Uniform“ vernachlässigt nicht den Kernauftrag „Kampf“ – er ordnet ihn moralisch ein. 

In diesem Essay geht es jedoch nicht in erster Linie darum, das Konzept des „Staatsbürgers in Uniform“ zu erklären. Mein Ziel ist es, die Innere Führung – und ihre Vermittlung – attraktiver und interessanter zu gestalten. Wir sollten uns nicht davor scheuen, in Unterrichten beim „militärischen“ bzw. „Uniform“-Teil anzufangen. Ein Großteil der Hinweise zum „guten Führen“ in Innerer Führung bezieht sich auf die Truppenkohäsion – und diese hat eindeutig einen sehr praktischen Bezug, wenn ich an unsere jüngste deutsche Militärgeschichte denke. Wer Afghanistan-Veteranen der Bundeswehr fragt, wofür sie gekämpft haben, erhält regelmäßig die Antwort: „Für den Mann neben mir.“ Das Einbeziehen dieser praktischen Erfahrung zeigt, dass Innere Führung sehr wohl von den Realitäten im Gefecht weiß. 

Einige Leser werden mir sicherlich widersprechen und mir vorwerfen, ich würde bestimmte Passagen aus dem Zusammenhang reißen, um meine Thesen zu bestätigen. Es wäre aber unfair, diese Passagen einfach zu ignorieren, die eine ansonsten eher seltene Perspektive aufzeigen, provozieren können, aber eben auch Interesse wecken, selbst den jeweiligen Paragrafen nachzulesen – oder am besten gleich das ganze Kapitel. Wenn wir diese Textstellen in die Unterrichte zur Inneren Führung – egal wer diese durchführt – aufnehmen und dann einige wenige junge Soldatinnen und Soldaten die Vorschrift anschließend lesen, haben wir einen großen Schritt nach vorn getan. Wenn mehr und mehr Offizierinnen und Offiziere den Text vollständig kennen und darüber reflektieren, schaffen wir die Grundlage für weitere inhaltsreiche Diskussionen. Innere Führung fordert diese Debatten aktiv ein: „Der Kernbestand der Inneren Führung ist unveränderbar. Darüber hinaus unterliegt sie (...) einer andauernden Notwendigkeit zur Weiterentwicklung. Diese wird durch einen lebendigen Dialog der Soldatinnen und Soldaten untereinander und mit Personen und Institutionen außerhalb der Bundeswehr gefördert“ (Nr. 108). Der Text selbst räumt ein, dass „auch die Bundeswehr selbst im Widerstreit der Meinungen und im Spannungsfeld unterschiedlicher Generationen, Kulturen und Herkunft“ steht (Nr. 313). Ich begrüße diese Debatten und bin gern bereit, meine Vorschläge zu diskutieren. 

Zum Abschluss muss ich jedoch noch eine letzte Kritik am Konzept der Inneren Führung anbringen. Es wird dort selbstbewusst behauptet: „Die Grundsätze der Inneren Führung bilden die Grundlage für den militärischen Dienst in der Bundeswehr und bestimmen das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten“ (Nr. 101). Viele Akademiker und Offiziere wiederholen diese Aussage gerne: „Innere Führung ist wichtig, sie ist das Rückgrat unserer militärischen Kultur.“ Doch dass die Vorschrift ihre eigene Wichtigkeit betont, heißt noch lange nicht, dass sie auch wichtig ist. Wir alle sind dafür verantwortlich, die Bedeutung der Inneren Führung in der Praxis zu beweisen – Offizierinnen und Offiziere, militärische und politische Führungskräfte, Anwärterinnen und Anwärter, Ausbilderinnen und Ausbilder und Generale und Admirale, genauso wie Vertreterinnen und Vertreter der Militärseelsorge und Wissenschaft. Indem wir die militärische und die staatsbürgerliche Dimension miteinander verbinden, machen wir Innere Führung wieder zu unserem gemeinsamen, lebendigen und zentralen Leitbild. Geben wir dem Staatsbürger seine Uniform zurück.

(Vom Autor bearbeitete Übersetzung der englischen Originalfassung.)

Quelle:
Bundesministerum der Verteidigung/FüSK III 3 (Hg.) (2015): Innere Führung: Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr – A-2600/1. https:// www.bmvg.de/resource/blob/14258/a0e22992b- c053f873e402c8aaf2efa88/b-01-02-02-download-data.pdf (Stand: 12.12.2021). 

Oberstleutnant Matthias Schwarzbauer ist deutscher Gebirgsjägeroffizier mit Einsatzerfahrung in Afghanistan. Er erwarb einen Masterabschluss in Wirtschafts- und Organisationswissenschaften (Universität der Bundeswehr München) und absolviert derzeit den Masterstudiengang Defense Analysis an der U.S. Naval Postgraduate School.

matthias.schwarzbauer@mail.de


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