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"Staatsbürger in Uniform" oder "Deutsche Krieger" – die Innere Führung auf dem Prüfstand?

Innere Führung als Konsolidierungsbeitrag zum Krisenmodus

General a. D. Hans-Lothar Domröse, zuletzt Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum und 2008 / 2009 Chef des Stabes der ISAF in Kabul, hat in einem Interview das Ende des Afghanistaneinsatzes mit dem Eingeständnis charakterisiert „… wir stehen vor einem Scherbenhaufen.“ Domröse betonte, was an Zeit, Geld, Material, Waffen, Personal, Beratung und Ausbildung investiert worden war, benannte aber auch Gründe, die zum Scheitern führten: einerseits das Versagen und die Flucht der afghanischen Staats- und Militärführung, andererseits der daraus resultierende Zusammenbruch jeglicher Kampfmoral, Verteidigungsbereitschaft und Widerstandskraft der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte. Domröse konstatierte selbstkritisch: „Es fehlte das ‚Wofür-man-kämpft‘, und das haben wir offensichtlich nicht ausgebildet.“1 Trotz ambitionierter Ausbildung, Beratung und Begleitung ist es nicht gelungen, Mentalitätsmuster der ethnozentrierten, staatsfernen Stammeskultur aufzubrechen. Afghanistan ist somit auch ein Lehrstück für die Bedeutung von Legitimation, Sinnvermittlung und Führungskultur als wichtige Faktoren für systemische und individuelle Resilienzbildung. Soldaten brauchen offenbar Vorbilder und ein „Wofür“, für das es sich zu kämpfen lohnt. Die Innere Führung als Führungskultur der Bundeswehr kann auf diese Frage gute Antworten geben. Die besondere Rolle und Relevanz der Inneren Führung erweist sich bereits darin, dass sie oft fast reflexartig als Referenzrahmen und Rechtfertigungsrational für alle möglichen Krisen dienen muss. Das kann man einerseits als Verkennung ihres Geltungsbereichs und als Überschätzung ihrer Wirkungsreichweite beklagen. Andererseits zeigt diese Inanspruchnahme, dass in Zeiten von Dynamik und Unsicherheit die Innere Führung als Kompetenzadresse gesucht wird: Sie dient als nützliches Erklärstück, als konzeptionelles Korrektiv oder als strapazierfähiges Denkmodell, das auch auf komplexe Fragestellungen diskussionsfähige Antworten anbietet.

Die Innere Führung wurde von Beginn an als eine dynamische Konzeption mit einem relativ statischen Wertefundament gedacht und angelegt. Diese Kombination stellt keinen Widerspruch dar, sondern sorgt vielmehr wie Baustahl im Beton für eine Armierung, die eine belastbare Verbindung von Stabilität und Flexibilität gewährleistet. Die Werteordnung des Grundgesetzes mit den daraus abgeleiteten ethischen Grundlagen bildet den unveränderlichen Kernbestand der Inneren Führung. Neben diesen Konstanten benötigt die Innere Führung aber auch notwendige Variablen, um auf Veränderungen reagieren zu können. Die Konstanten bilden einen festen Ruhepol, während die Variablen als flexible Wechselgrößen wirken, vergleichbar dem ästhetischen Kompositionsprinzip des Kontraposts, wo Standbein und Spielbein für Spannung und Ausgleich sorgen. Denn gerade geistige Standfestigkeit beruht nicht auf dogmatischer Starrheit, sondern entsteht aus reflektierter Beweglichkeit. Diese Agilität beugt zudem Erschöpfungstendenzen vor und trägt damit zu der bereits genannten Resilienzbildung bei. Das bedeutet aber auch, dass die Konzeption ständig einer Bedarfsanalyse und kritischen Bewertung bezüglich der Notwendigkeit zur Weiterentwicklung, Aktualisierung und Anpassung an neue Gegebenheiten und Erfordernisse bedarf. Dies gilt gerade dann, wenn disruptive Veränderungen und hybride Bedrohungsszenarien zu Verunsicherungen führen, die wiederum Einfallstore für Indoktrination, Manipulation und kontrafaktische Meinungsmache darstellen. Wir stehen heute vor Herausforderungen, deren Kontingenzsignaturen mit bisherigen Kontinuitätsgewissheiten nur noch unzureichend erklärbar und beherrschbar sind. Das Beispiel Afghanistan weist wie ein Menetekel auf künftige Szenarien. Welche Antworten können und wollen die Politik, die Gesellschaft, die militärische Führung und auch die Innere Führung ihren Soldaten und Soldatinnen, vor allem aber denjenigen unter ihnen geben, die in Afghanistan und anderswo im Einsatz waren, dort gedient, gelitten und gekämpft haben, die Verletzungen und Verwundungen an Seele, Geist und Körper davongetragen und auch Kameraden verloren haben? Verändern solche eindrücklichen Erlebnisse und Erfahrungen das eigene soldatische Selbstverständnis? Kann das vertraute Leitbild vom Staatsbürger in Uniform seinen Gültigkeitsanspruch weiterhin behaupten, oder bedarf es einer Nachjustierung oder gar Neubewertung und Veränderung?

Vom "Staatsbürger in Uniform" zurück zum "Deutschen Krieger"?

Der Inhaber des in Deutschland singulären Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt in Potsdam, Professor Dr. Sönke Neitzel, hat 2020 eine zu Recht viel beachtete und in zahlreichen Rezensionen intensiv, mitunter auch kontrovers besprochene deutsche Militärgeschichte verfasst, der er den programmatischen Titel Deutsche Krieger2 gab. Neitzel richtet den Fokus seiner historischen Darstellung auf das Heer, da es hinsichtlich seiner Rollenrelevanz und Traditionskontinuität die Frage nach dem soldatischen Selbstverständnis insgesamt am deutlichsten widerspiegelt:

„So ist es nicht verwunderlich, dass die in der Bundesrepublik geführten großen Debatten um Tradition und Identität der Streitkräfte fast immer vom Heer ausgingen. Letztlich ging es stets um die Frage, wie es die Bundeswehr mit dem Kämpfen, Töten und Sterben hielt – eine Frage, die die Landstreitkräfte im Besonderen betraf. Der Buchtitel ‚Deutsche Krieger‘ beschreibt diese archaische Seite des Soldatenberufs.“3

Mit dem Stichwort „archaisch“ spielt Neitzel erkennbar auf den „archaischen Kämpfer“ an, den der damalige Heeresinspekteur Hans-Otto Budde 2004 als künftigen Soldatentypus für die Bundeswehr gefordert hatte. Dieses robuste Anforderungsprofil wird bis heute stark kritisiert, zumal das Attribut „archaisch“ eher Assoziationen weckt, die mit Kinobildern von menschlichen Kampfmaschinen aus der heroischen Mythologie verknüpft sind. Allerdings formulierte Budde seine Bedarfsforderung differenzierter, indem er neben dem urwüchsigen Kämpfer auch dem modernen, technikaffinen Spezialisten das Wort redete: „Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.“4 Mit dem lieb gewonnenen Bild vom braven „Staatsbürger in Uniform“ aus den früheren Wehrpflichtzeiten in einer vorrangig auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichteten Ausbildungsarmee hatten diese Zuschreibungen nicht mehr viel zu tun. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr hatten bereits neue Erfahrungshorizonte und Fragestellungen eröffnet, die adäquate Antworten erwarteten. Neitzels Buch verortet diese Fragestellungen in einen weiten historischen Vergleichsrahmen. Seine zentrale These ist, dass die „Deutschen Krieger“ sozusagen in einem intergenerationellen Traditionsverbund stehen, der – trotz aller Abgrenzungsbemühungen durch Traditionserlasse mit entsprechenden Ausschlussklauseln – den Kombattanten der „Reichseinigungskriege“ (1864 bis 1871) mit dem Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs sowie den Reichswehrangehörigen und den Wehrmachtsoldaten bis zum heutigen Bundeswehrsoldaten (mit Einsatzerfahrung) auf eine gemeinsame Kontinuitätslinie reiht. Bei der Darstellung soldatischer Identitäten im historischen Kontext sind Neitzels Beobachtungen und kritischen Bewertungen zur Inneren Führung von besonderer Bedeutung. Zunächst konstatiert Neitzel auch für den Bundeswehrsoldaten einen Sui-generis-Anspruch, den er über den ethisch-soziologischen Sonderstatus einer Kämpferexistenz begründet, die nach seiner Bewertung in der soldatischen Selbstwahrnehmung mehr oder weniger bewusst auch auf Wehrmachtsvorbilder setzt und in der Befangenheit des eigenen militärischen Mikrokosmos den rahmenbildenden Makrokosmos von Staat und Gesellschaft mit ihren Relativierungsmechanismen zumindest partiell ausblendet: 

„Verständlicher wird diese Haltung, wenn man das Militär als eine Welt mit eigenen Werten und Normen versteht, die zwar von Gesellschaft und Politik mitgeprägt wird, aber doch einen besonderen sozialen Kosmos bildet. Die reale oder potenzielle Erfahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben unterscheidet die Streitkräfte fundamental von anderen gesellschaftlichen Gruppen. (…) Wer das Kämpfen in den Mittelpunkt seiner beruflichen Identität stellt, sucht sich besondere Vorbilder.“5

Die Konzeption der Inneren Führung betont stets den Primat der Politik als „Vorrang des demokratisch legitimierten politischen Willens“6 vor dem Militär. Diese Vorrangstellung ist weniger ein politisches Privileg als vielmehr eine besondere Verantwortung gegenüber der Bundeswehr als Exekutivorgan der Bundesrepublik Deutschland, das parlamentarisch mandatierte und damit besonders legitimierte Aufträge im Rahmen einer gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge ausführt. Artikel 87 des Grundgesetzes begründet den verfassungsrechtlichen Auftrag der Bundeswehr. In diesem Verständnis wird die Bundeswehr auch als Parlamentsarmee bezeichnet. Die Legitimation dieser Auftragserfüllung wird als ein Ziel der Inneren Führung mit der Absicht definiert, „die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Dienens zu beantworten, d. h. ethische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Begründungen für soldatisches Handeln zu vermitteln und dabei den Sinn des militärischen Auftrages, insbesondere bei Auslandseinsätzen wie in Afghanistan einsichtig und verständlich zu machen“7. Diesen ständigen Begründungs-, Sinngebungs- und Vermittlungsauftrag erachtet Neitzel durch Politik und Militärführung gerade für die Auslandseinsätze als nur unzureichend erfüllt:

„Die Praxis der Inneren Führung, auf die man sich so viel einbildete, erlitt massive Schäden, weil ein Dienen aus Einsicht kaum möglich war, wenn Regierung, Bundestag und Militärführung nicht willens waren, realistische Aufgaben und Ziele zu formulieren, sich stattdessen in Worthülsen flüchteten und die Soldaten mit einem gefühlten Legitimitätsdefizit in den Einsatz schickten. Verteidigte man am Hindukusch wirklich die Werte und Normen des Grundgesetzes, während man zugleich eine korrupte Regierung unterstützte, mit Kriminellen zusammenarbeitete und deren Drogengeschäfte absicherte? Kabinett und Parlament haben diese Fragen nicht beantwortet.“8

Das von Neitzel angesprochene „gefühlte Legitimitätsdefizit“ wird gerade von einsatzerfahrenen Soldaten immer wieder bestätigt. So fragen offenbar selbst Bundestagsabgeordnete, die das Einsatzgebiet besuchen, die Truppe vor Ort, wozu sie eigentlich da sei und was ihr Auftrag sei. Wer würde wohl einen zuvor bestellten Handwerker fragen, warum er im Badezimmer mit der Rohrzange unter dem Waschbecken liegt? Insider wissen, dass manche Abgeordnete inhaltlich nicht annähernd erfasst haben, worüber sie manchmal zu sehr später Stunde bei den Einsatzmandaten mit abgestimmt haben. Wenn aber selbst politische Entscheidungsträger das jeweilige Einsatzrational nicht erklären können oder wollen, müssen wieder die militärischen Führer den ihnen anvertrauten Soldatinnen und Soldaten Rede und Antwort stehen. Für das Vertrauen in die Politik, das Parlament und die Militärführung ist das kaum förderlich. Neitzel moniert zudem ein Vermittlungs- und Umsetzungsproblem der Inneren Führung, das bereits in der Zeit der Wehrpflichtarmee bestand. Seine Argumentationslinie zeigt jedoch Bruchstellen und wird in der pauschalen Zuspitzung der komplexen Gemengelage nicht ganz gerecht:

„Die Truppenrealität war mit dem nach außen kommunizierten Bild keineswegs identisch. Zwar beschrieben die Konzepte des Staatsbürgers in Uniform und der Inneren Führung einen wünschenswerten Idealzustand des politisch mündigen Soldaten und standen mitnichten im Gegensatz zu kampfbereiten Streitkräften. Sie waren aber zu verkopft gedacht und beschäftigten im Alltag vor allem die Stabsoffiziere. Die Masse der Soldaten konnte mit ihnen wenig anfangen. Die Berge wohlmeinender Konzeptpapiere über die Bundeswehr als demokratische Institution konnten nichts daran ändern, dass immer weniger junge Männer gewillt waren, mit der Waffe in der Hand die Demokratie zu verteidigen.“9

Dass Konzeption und Realität ebenso wie Theorie und Praxis zu Divergenzen neigen, ist eine Binsenweisheit, die für alle Lebensbereiche gilt. Und die Abgehobenheit und vermeintliche Unverständlichkeit der Konzeption der Inneren Führung wird bis heute beklagt. Dieser Vorwurf kommt übrigens meist von denjenigen, die sich mit der Inneren Führung offenkundig noch gar nicht ernsthaft befasst haben. Als konstruktive Frage bleibt, wie viel Komplexitätsreduktion ohne noch hinnehmbaren Substanzverlust möglich ist. Das Vermittlungs- und Akzeptanzproblem bleibt somit bestehen, zumal sich die Aufmerksamkeitsfenster heutiger Rezipienten immer mehr zu Wahrnehmungsschießscharten verengen. Neitzels Bewertung, dass die zunehmende Papierflut offizieller Verlautbarungen nichts an der abnehmenden Wehrwilligkeit hätte ändern können, geht an der Sache vorbei, da angehende Rekruten ohnehin erst in ihrer Grundausbildung erstmals mit dem Thema Innere Führung konfrontiert wurden. Die Verweigerungshaltung gegenüber der Wehrpflicht ist ohnehin nicht monokausal erklärbar, sondern hatte Hintergründe, Motive und Aspekte, die in mehreren Forschungssammelbänden aufgearbeitet sind.10

Legitimität und Loyalität: Die Frage nach dem „Wofür“

Sucht man in Neitzels Militärgeschichte nach weiteren historischen Herleitungen und Bezügen zur Inneren Führung, wird man vor allem dort fündig, wo er das sogenannte „innere Gefüge“ der Streitkräfte beleuchtet und den Fokus immer wieder auf die von ihm so bezeichneten „tribal cultures“ der Truppengattungen richtet – mit deren Kohäsions- und Transmissionsfunktionen in horizontaler und vertikaler Ausrichtung.11 Im Rational für neue deutsche Streitkräfte zu Beginn des Kalten Krieges „lief es in der Praxis notgedrungen auf einen Kompromiss zwischen militärischer Binnenlogik und innenpolitischen Vorbehalten hinaus“12. Neitzel nennt hier die Innere Führung zwar nicht expressis verbis, umschreibt sie jedoch als Kompromissmodell zur Vermittlung zweier Sphären, nämlich Gesellschaft und Militär, die sich mit der deutschen Katastrophe nach 1945 tiefgreifend entfremdet hatten und durch eine angleichende Konzeption wieder zusammengeführt werden sollten. Dieser Versuch wurde mit der „Himmeroder Denkschrift“ von Oktober 1950 durchaus erfolgreich unternommen. Als Kernaufgabe der Inneren Führung, die sich im Leitbild vom Staatsbürger in Uniform verkörpert und wie sie insbesondere von Wolf Graf von Baudissin verstanden wurde, beschreibt Neitzel die Erziehung zur Verfassungstreue als eine Art Surrogat für den desavouierten Patriotismus alter Prägung:

„Da das Nationalgefühl der Deutschen durch Teilung, Niederlage und Verbrechen verwundet blieb, bot sich der Verfassungsstaat für Baudissin als eine Art Ersatzvaterland an. Er nahm damit den Verfassungspatriotismus vorweg, der als Begriff erst 1970 vom Politikwissenschaftler Dolf Sternberger geprägt und fünfzehn Jahre später vom Philosophen Jürgen Habermas als unbedingte Alternative zu einem Nationalgefühl etabliert wurde.“13

Bereits der Mitarbeiter und spätere Antipode Baudissins Heinz Karst hat die Attraktivität dieses Loyalitätsmodells zu Recht angezweifelt. Wenn Verfassungspatriotismus verabsolutiert wird, wird er als blutleeres, intellektuelles Konstrukt wahrgenommen, das allenfalls die Hirnkammer erreicht, doch die Herzkammer als den vielleicht entscheidenderen Ort von Wehrmotivation und Kampfmoral verfehlt. Karst hat eine durchaus reflektierte Vaterlandsliebe und ein gesundes Kameradschaftsgefühl als substanziellere Motive erachtet und eng mit einem unverkrampften Traditionsbegriff verbunden, der drohendem Sinnverlust und zunehmender Symbolschwäche entgegenwirken kann.14 Die Frage nach dem „Wofür“ wird, wenn es wirklich darauf ankommt, nicht vorrangig mit Grundgesetz und Verfassungspatriotismus beantwortet, sondern vielmehr mit der gelebten Kameradschaft als „kleine Kampfgemeinschaft“ und als Schicksalsgemeinschaft in existenzieller Bewährung. Die Hinwendung zum Mitmenschen und die Verantwortung für den Kameraden wirken tausendmal authentischer als das hehrste Postulat einer abstrakten Humanitätsidee. Diese Feststellung stellt auch keine Absage an das Wertefundament dar, sondern erklärt vielmehr dessen eigentlichen Sinn. Gerade in Kampfverbänden sowie bei Soldatinnen und Soldaten mit Einsatzerfahrung und ausgeprägter Praxisorientierung können daher selbst noch so wohlgemeinte Herleitungen auf höherem Abstraktionsniveau und selbstreferenzielle Reflexionen oft nur das Gegenteil dessen erreichen, was beabsichtigt war: Man spricht nicht zu den Menschen selbst, sondern lediglich von ihnen, über sie oder an ihnen vorbei. Vor dieser Vermittlungsherausforderung und diesem Authentizitätsproblem stehen heute Politik, Medien, Kirchen, Verbände, Wissenschaften, Schulen und auch die Bundeswehr in vergleichbarem Maße.   

Die Weiterentwicklung der Inneren Führung

Neitzels Militärgeschichte belegt in seinen Aussagen und Bewertungen zur Inneren Führung erneut, dass diese Konzeption nicht abgedankt hat, sondern weiterhin Dynamik entfaltet. Die vielfältige Kritik an der Konzeption selbst sowie an ihrer Verschriftlichung und Vermittlung bleibt erwartungsgemäß bestehen. Die Disparatheit, Widersprüchlichkeit und Unterkomplexität mancher Kritikerstimmen, oftmals bei sehr geringer Kenntnis der Textgrundlagen, erschweren jedoch einen konstruktiven Diskurs über Begriffe, Grundlagen, Ziele und Ausprägungen der Konzeption. Eingeforderte Verbesserungsvorschläge erschöpfen sich oft in Allgemeinplätzen und Partikularpositionen. Ein konzeptionell ebenbürtiges Gegenmodell gibt es nicht und wird es auch künftig nicht geben, solange die Innere Führung in ihrer gedanklichen Stringenz und Gestaltungsdynamik aussage- und damit konkurrenzfähig bleibt. Bei der Weiterentwicklung der Inneren Führung ergibt sich für Konzeption, Verschriftlichung, Vermittlung und Umsetzung eine Reihe von Überlegungen und Empfehlungen:

Erstens: Wir sollten uns wieder auf den Kerngedanken und die wesentliche Zielsetzung der Inneren Führung zurückbesinnen: Einbindung der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft sowie Einsatzbereitschaft auf einer gemeinsamen Wertebasis, um die Sinnfrage nach dem „Wofür“ überzeugend beantworten zu können. Weiterentwicklung kann auch darin bestehen, dass man ziellose Nebenwege meidet, erkannte Irrwege aufgibt, auf den Hauptweg zurückkehrt und das eigentliche Ziel wieder fest ins Auge fasst: Innere Führung hat in erster Linie der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zu dienen. Diesem Ziel ist alles Übrige unterzuordnen. Sie ist daher auch keine Komfortzone für saturierte Verteidigungsbeamte oder Kuschelecke für Nischenexistenzen. Sie ist definitiv auch kein Instrument zur Durchsetzung überzogener Minoritätsforderungen und kein Vehikel, um Partikularinteressen zu befördern. Sobald Innere Führung Klientelpolitik auf Zuruf betreibt, verliert sie an Substanz, Kontur und Authentizität; sie wird beliebig und austauschbar. Fragwürdige Fremdanforderungen an die Innere Führung beeinträchtigen ihre konzeptionelle und applikatorische Trennschärfe und führen zudem auch regelmäßig zu einer weiteren Überfrachtung von Ausbildung und Lehre.

Zweitens: Wir dürfen uns von Gegnern der Inneren Führung nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern sollten die Vorzüge und Verdienste unserer Führungskultur selbstbewusst verdeutlichen. Mit konstruktiven Kritikern müssen wir stärker als bisher einen produktiven Dialog führen, berechtigte Kritikpunkte aufnehmen und nach gemeinsamen Verbesserungen und Lösungen suchen. Das setzt freilich voraus, dass die eigene Kenntnis der Konzeption und die persönliche Bereitschaft zur Mitgestaltung der Inneren Führung als vorgelebte Führungskultur in überzeugendem Maße vorhanden sind. Sobald Theorie und Praxis auseinanderklaffen, leidet die Glaubwürdigkeit. Innere Führung beginnt auch nicht erst in der Truppe, sondern gilt bereits für die ministerielle Führungsebene. Eine Führungspraxis, die eine horizontale Umsetzung konzeptioneller Ziele und Vorgaben fordert, ohne für eine vertikale Durchdringung von oben nach unten zu sorgen, schafft keine gemeinsame Führungskultur, sondern Vertrauensverlust.

Drittens: Die Dauerforderung nach „mundgerechter“ Aufbereitung und Vermittlung der Inneren Führung ist grundsätzlich berechtigt, lenkt aber von der Bereitschaft ab, einen Eigenbeitrag zum Verständnis der Inneren Führung zu leisten. Das beginnt mit der bloßen Lektüre der Vorschrift und mündet im Bildungsanspruch eines Berufsbildes, das sich für sein Führungspersonal als „geistiger Führungsberuf“ versteht. Die Innere Führung war von Anfang an eine politische Bildungskonzeption, die auf einem ethischen und rechtlichen Fundament beruht. Wir sollten daher der Persönlichkeitsbildung mit ihren wesentlichen Facetten endlich den verdienten Stellenwert im Ausbildungssystem der Bundeswehr verschaffen.15 Der Lebenskundliche Unterricht der Militärseelsorge stellt in diesem Kontext kein Konkurrenzkonzept dar, sondern ist vielmehr ein unverzichtbarer Komplementärbeitrag zur berufsethischen Qualifizierung.

Viertens: Die „Lessons learned“ des Afghanistaneinsatzes liefern beispielhafte Beiträge, um die Bewährung der Inneren Führung im Einsatz zu verdeutlichen. Hierzu bedarf es jedoch einer umfassenden und ehrlichen Aufarbeitung, Analyse und Bewertung durch Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Militär. Das beginnt mit dem Einsatzrational als Legitimationsgrundlage. Das vielzitierte Struck-Verdikt, wonach die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werde, gehört auf den Prüfstand. General a. D. Domröse hat dazu gesagt: „Damals richtig – heute zählt das nicht mehr.“16 Afghanistan ist auch keine Blaupause für künftige Szenarien, zumal mittlerweile eine deutliche Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung erfolgt ist. Die Bundeswehr hat in Afghanistan ihren Auftrag mit den ihr zugestandenen Mitteln bestmöglich erfüllt. Für künftige Einsätze sollten klare Kriterien gelten, insbesondere eine präzise nationale Interessenfeststellung, eine konkrete Exitstrategie und die Mitverantwortung im „Vernetzten Ansatz“, notfalls eingefordert durch die ressortübergreifende Richtlinienkompetenz.

Fünftens: Schließlich müssen auch aktuelle Entwicklungen berücksichtigt werden, die bereits teilweise kontrovers diskutiert werden. Als exemplarische Reizthemen seien nur genannt: bundeswehrgemeinsame Führungskultur und Europäisierung, Digitalisierung und Drohnentechnik, Künstliche Intelligenz und Human Enhancement als Anfragen an das Menschenbild der Inneren Führung. Doch dies stellt bereits wieder ein eigenes Thema dar.

1 Interview im „heute journal up:date“ des Zweiten Deutschen Fernsehens am 16. August 2021 (ab ca. Minute 6:50), https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal-update/heute-journal-update-vom-16-08-2021-100.html (Stand: 2.12.2021).

2 Neitzel, Sönke (2020): Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. Berlin.

3 Ebenda, S. 20 f.

4 Vgl. Winkel, Wolfgang (2004): Bundeswehr braucht archaische Kämpfer. In: Welt am Sonntag, 29.2.2004.

5 Neitzel (2020), S. 12.

6 Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) A-2600/1 „Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr“. Hrsg. von Bundesministerium der Verteidigung – Führungsstab der Streitkräfte I 4 (jetzt: FüSK III 3), Bonn 2008, Ziffer 310).

7 ZDv A-2600/1 „Innere Führung“, Ziffer 401 (erster Spiegelstrich).

8 Neitzel (2020), S. 551.

9 Neitzel (2020), S. 590.

10 Hierzu seien drei wesentliche Publikationen genannt, die von Sönke Neitzel jedoch nicht verwertet wurden:
Opitz, Eckardt und Rödiger, Frank S. (Hg.) (1994): Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte – Probleme – Perspektiven. Bremen.
Foerster, Roland G. (Hg.) (1994): Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung. (Beiträge zur Militärgeschichte. Band 43. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr.) München.
Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2004): Die Wehrpflicht und ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur aktuellen Debatte. (Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Band 2.) Wiesbaden.

11 Neitzel (2020), S. 17 und 19 f.

12 Neitzel (2020), S. 15.

13 Neitzel (2020), S. 266

14 Karst, Heinz (1964): Das Bild des Soldaten. Versuch eines Umrisses. Boppard am Rhein, S. 225 ff. Sowie: ders. (1994): Im Dienst am Vaterland. Beiträge aus vier Jahrzehnten. Zu Ehren des Autors hrsg. von Klaus Hornung. Herford, Hamburg und Stuttgart.

15 Vgl. Janke, Reinhold (2020): Ethische Bildung in der Bundeswehr – ein neuer Baustein zur Persönlichkeitsbildung? In: Jahrbuch Innere Führung 2020. Hrsg. von Uwe Hartmann, Reinhold Janke und Claus von Rosen. Berlin, S. 304–321.

16 S. Endnote 1.

Zusammenfassung

Reinhold Janke

Reinhold Janke, Oberst i. G., 63 Jahre, studierte Germanistik, Altphilologie und Geschichte. Nach Führungsverwendungen als Kompaniechef und Regimentskommandeur, Verwendungen als Personalstabsoffizier, ministerieller Referent und Abteilungsleiter in Kommandostäben sowie auf Ämterebene ist er derzeit Bereichsleiter Konzeption und Weiterentwicklung der Inneren Führung am Zentrum Innere Führung in Koblenz. Seine Interessenschwerpunkte sind Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte, Militärgeschichte und Führungskultur.

reinhold1janke@bundeswehr.org


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Tribal cultures und Innere Führung – ein Widerspruch?
Sönke Neitzel
"Staatsbürger in Uniform" oder "Deutsche Krieger" – die Innere Führung auf dem Prüfstand?
Reinhold Janke
Die Innere Führung als Antwortversuch auf die Frage der (militärischen) Gewalt: Theologisch-ethische Anmerkungen zur gegenwärtigen Debatte
Markus Patenge
Militärische Tugenden für die heutige Zeit
Peter Olsthoorn
"God, how I hate the 20th century" – Zur Ritterlichkeit als Mythos und als ethische Tugend
Bernhard Koch
Mannbarkeitsriten – Gewaltrituale, sexuelle Übergriffe und Rechtsextremismus in der Bundeswehr
Rolf Pohl

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