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Mehr Aufgaben, mehr Ressourcen, mehr Inklusion – Anforderungen an die Humanitäre Hilfe in Zeiten steigender Klimarisiken

Der Klimawandel bedroht Frieden und Sicherheit

Bilder von ausgedörrten Flussbetten, erodierten Ackerflächen oder sturzflutartigen Überschwemmungen führen eindringlich vor Augen, dass und wie sich Umweltbedingungen in vielen Regionen der Welt durch den Klimawandel verändern. Dürren und Ressourcenverknappung haben den Verlust von ehemals sicheren Trinkwasserquellen sowie Weideflächen zur Folge und gefährden die ohnehin schon prekäre Ernährungssicherheit vieler Menschen. Ernteausfälle und Hunger, die Zerstörung ihrer Wohnhäuser oder sich zuspitzende Konflikte um Wasser und fruchtbaren Boden – diese Gefahren spüren besonders die Menschen, die ohnehin schon zu den wirtschaftlich Ärmsten gehören. Zwar wird der Klimawandel auch in den Industrieländern Nordamerikas und Europas zunehmend wahrnehmbar, doch sind vor allem die Bewohnerinnen und Bewohner der tropischen und subtropischen Gebiete in Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert. Zynisch mutet dabei an, dass die Menschen, die unter den konkreten Folgen am meisten leiden, im weltweiten Vergleich am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben. Ursache und Folge sowie Verursachende und Leidtragende liegen geografisch wie finanziell oftmals weit auseinander. Papst Franziskus zeigt auf: „Wenn Menschen vertrieben und zur Migration gezwungen werden, weil ihre ursprüngliche Umgebung unbewohnbar wird, mag das wie etwas Unvermeidliches aussehen. Doch ist es zum Großteil das Ergebnis fataler Entscheidungen und zerstörerischer Lebensweisen, die die Menschheit mit der Schöpfung in Konflikt bringen.“1 Seit Ende der 1980er-Jahre wird vermehrt über die Veränderungen des Klimas berichtet und vor gravierenden Auswirkungen gewarnt. Aber erst heute wächst die Einsicht, dass der Klimawandel zur weltweit größten Bedrohung wird und auch viele mittelbare Folgen hat: Die Schnelligkeit und der Grad der Erderwärmung spielt besonders beim Auftreten und der Verschärfung von humanitären Bedarfen eine immer größere Rolle.2 

Der Klimawandel erfordert stärkere Not- und Katastrophenhilfe

Der Globale Klima-Risiko-Index3 zeigt, wie stark Länder von Wetterextremen wie Überschwemmungen, Stürmen oder Hitzewellen betroffen sind. Puerto Rico, Myanmar und Haiti führten den Index mit den größten wetterbedingten Verlusten in der Zeitspanne von 2000 bis 2019 an. Nach katastrophalen Stürmen und Überflutungen standen Mosambik, Simbabwe und die Bahamas an der Spitze der Liste. 2019 waren 97,6 Millionen Menschen akut von Katastrophen infolge von Extremwetterereignissen betroffen.4 Dies geht zurück auf eine Verdopplung der jährlich registrierten Katastrophen von etwa 200 vor 20 Jahren auf heute mehr als 400 weltweit. Für die Humanitäre Hilfe bedeutet das zwangsläufig eine Zunahme an Aufgaben. In Dürregebieten wird es voraussichtlich immer seltener ausreichen, dass Wasserspeicher, Rückhaltebecken und Zisternen gebaut werden, da die Trockenperioden immer länger werden. Allein um die betroffenen Menschen etwa in Nordkenia, Äthiopien und Somalia während der Dürren mit Wasser zu versorgen, werden zukünftig große Leitungssysteme benötigt, oder Tanklaster müssen stattdessen in die Dürreregionen fahren. Seit 1990 hat Somalia mehr als 30 klimabedingte Krisen erlebt, darunter 12 Dürren und 19 Überschwemmungen – das bedeutet eine Verdreifachung der klimabedingten Krisen gegenüber dem Zeitraum von 1970 bis 1990.5

In Südasien wurde in den vergangenen zehn Jahren eine starke Veränderung des Monsuns gemessen: Regenfälle fielen intensiver aus, die Monsunzeiten waren verkürzt und insgesamt weniger berechenbar. Künftig wird mit einer weiteren „Zunahme der Gesamtmenge an Monsunniederschlag“ gerechnet.6 2018 gingen der „Jahrhundertflut“ im indischen Bundesstaat Kerala weitere schwere Überschwemmungen in Indien, Bangladesch, Pakistan und anderen Staaten der Region voraus. Bereits 2010 war eine „Jahrhundertflut“ in Pakistan dafür verantwortlich, dass Millionen Menschen ihre Häuser verloren. Doch die Flutgefahr geht nicht nur von unberechenbaren Monsunregen aus. Erst kürzlich veröffentlichten 200 Wissenschaftler vom Internationalen Zentrum für Integrierte Entwicklung in Bergregionen (ICIMOD)7 umfangreiche Analysen über die Auswirkungen des Klimawandels in Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, China, Indien, Myanmar, Nepal und Pakistan: Wenn die Erhitzung unseres Planeten weiter fortschreitet, werden bis zum Ende des Jahrhunderts mindestens ein Drittel der Gletscher im Hindukusch-Himalaja abschmelzen. Hier lagern die drittgrößten Eisvorräte der Erde. Diese Eismassen speisen die wichtigsten Flüsse Asiens und sichern die Wasserversorgung von rund 1,9 Milliarden Menschen. Schmelzen die Gletscher, so ist damit die Wasserversorgung der Bevölkerung gefährdet. Mit der Schmelze fließen ungeheure Wassermassen talabwärts und sorgen in Kombination mit Starkregen für Flutgefahren. Dabei ist zu beachten, dass viele Ereignisse auf internationaler Ebene unbeachtet bleiben und der jeweilige Staat oder die betroffene Bevölkerung die Schäden meist allein bewältigen müssen. Bis zu 80 Prozent der humanitären Finanzmittel werden allein zur Reduzierung von Leid aufgrund bestehender Kriege und Konflikte aufgebracht.

Die globale Aufrüstung als doppeltes Sicherheitsrisiko

Laut dem Konfliktbarometer des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung8 ist die weltweite Zahl der Kriege 2020 von 15 auf 21 angestiegen. Die globalen Militärausgaben steigen indes das sechste Jahr in Folge. Der Ausbau und die Erneuerung der Streitkräfte und Waffensysteme haben im vergangenen Jahr den Rekordwert von 1981 Milliarden US-Dollar (etwa 1644 Milliarden Euro) verschlungen – ein Anstieg von 2,6 Prozent im Vergleich zu 2019. Mit einem jährlichen Budget von 718,7 Milliarden US-Dollar geben die USA nach wie vor so viel Geld aus wie kein anderer Staat. Eine fatale Prioritätensetzung, wie der Globale Militarisierungsindex des Instituts BICC analysiert: Ein Abgleich mit dem Global Health Security Index zeigt, dass weniger militarisierte Staaten insgesamt bessere Ergebnisse hinsichtlich der Gesundheitssicherheit aufweisen, da „der hohe Ressourcenaufwand fürs Militär […] zu Lasten der Gesundheit geht“9. Die aktuellen Konsequenzen der Covid-19-Pandemie sollten für zukünftige und ähnlich gelagerte Situationen, wie die Klimakrise, eine Warnung sein.

Deutschland investierte 2019 den gering erscheinenden Betrag von 51,2 Milliarden US-Dollar ins eigene Militär. Damit gab die Bundesrepublik allerdings zehn Prozent mehr aus als im Vorjahr, was den größten Zuwachs aller EU-Staaten bedeutet.10 Darüber hinaus hat der deutsche Rüstungsexport maßgeblich zur „Militarisierung der Außenpolitik arabischer Staaten“11 beigetragen. Der Anteil ist in den vergangenen 20 Jahren von 3,1 auf 32 Prozent des gesamten deutschen Rüstungsexports gestiegen. Der Anstieg im Bereich der globalen Aufrüstung stellt ein doppeltes Sicherheitsrisiko dar: „Es geht nicht nur um das Vernichtungspotential, das durch ein Mehr an Waffen wächst und das sich entfaltet, wann immer das Kalkül der gegenseitigen Abschreckung nicht aufgeht. Es geht auch darum, welche Ressourcen durch die globale Aufrüstung gebunden werden und für andere Menschheitsaufgaben entsprechend nicht zur Verfügung stehen.“12 Beispielsweise geht die angekündigte Erhöhung der britischen Rüstungsausgaben zulasten von Entwicklungshilfegeldern.13

Klimarisiken erzeugen und verstärken Fragilität

Der Bedarf an Humanitärer Hilfe in Kriegen und Konflikten wird noch verschärft, wenn parallel Katastrophen infolge von Naturgefahren und gewaltvollen Konflikten samt Vertreibungen stattfinden oder sich gegenseitig bedingen. Schon heute entfällt der größte Anteil der humanitären Finanzmittel auf sogenannte komplexe Krisen.14 Weiterführende Studien15 weisen darauf hin, dass zukünftige Konflikte auf der Welt kaum ohne den klimatischen Faktor gedacht werden können. „Durch voranschreitende nicht-traditionelle Sicherheitsrisiken, wie den Klimawandel, verändert sich die Risikolandschaft zusätzlich dynamisch“, wie es in einer Stellungnahme des Beirats für Zivile Konfliktprävention und Friedensförderung heißt.16 Häufigere und verlustreichere Extremwetterereignisse tragen zur Konfliktgenese bei und potenzieren bestehende Konflikte. Insbesondere klimainduzierte Existenzprobleme schaffen Potenzial für Gewalteskalationen. Laut einer Studie des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) werden sowohl das Aufkommen von Extremismus als auch Konflikte und Gewalt durch den Klimawandel verschärft. Mali erlebt beispielsweise seit den Sechzigerjahren einen konstanten Anstieg der Temperaturen. Bis Ende der 2050er-Jahre werden die Werte laut globalen Klimamodellen zwischen 1,2 und 3,6 Grad steigen. Die Folgen dieser klimatischen Veränderungen betreffen vor allem die armen Bevölkerungsgruppen, deren Lebensgrundlage Landwirtschaft und Viehzucht ist. Und wo die nutzbaren Flächen abnehmen, Wasserquellen versiegen und keine alternativen Einkommensquellen geschaffen werden, sind Konflikte in einer schnell wachsenden Bevölkerung vorprogrammiert. Im Kampf um Ressourcen haben es Extremismus und Gewalt leichter. Die Terrororganisation Al Kaida rekrutiere in der Sahelzone beispielsweise gezielt junge Menschen, die in eine finanzielle Schieflage geraten sind. „Ohne die Integration des Klimawandels sind die Friedenskonsolidierungen kaum möglich“, folgert Sicherheitsexperte und Co-Autor des Berichts Florian Krampe.17 Das Ecological Threat Register 2020 schätzt, dass 31 Staaten nicht widerstandsfähig genug sind, um die ökologischen und politischen Veränderungen der kommenden Jahrzehnte aufzufangen. Der Zusammenhang zwischen politischen Konflikten und ökologischen Bedrohungen wirkt wie ein Teufelskreis, dessen Dynamiken Länder wie Mosambik, Madagaskar, Kenia, Pakistan oder den Iran zukünftig vermehrt belasten können. Darüber hinaus sind Staaten wie Syrien, Afghanistan, Irak, Jemen und die Zentralafrikanische Republik neben den anhaltenden Kampfhandlungen zusätzlich von ökologischen Gefahren bedroht.18 Sechs der zehn größten UN-Friedenseinsätze haben 2020 in Ländern stattgefunden, die dem Klimawandel am stärksten ausgesetzt sind.19

Jüngste Gefechte zwischen Kirgistan und Tadschikistan bezeugen die hohe Bedeutung der Ressource Wasser. Auslöser war ein Streit um den Zugang zu Wasserressourcen am Fluss Isfara.20 Aufgrund der Auseinandersetzung sind aktuell zwei Projekte der Caritas im Gebiet kaum zugänglich. Auch auf der Halbinsel Krim verschärfen sich die Spannungen um die Wasserversorgung. Der Bau des Grand Ethiopian Renaissance Dam kann für Ägypten, wo der Nil endet, ein Kriegsgrund sein. Flussabwärts im Sudan kommt bereits weniger Nilwasser an als gewohnt. Ebenso sind der Irak und Syrien in der Wasserversorgung abhängig, denn sowohl der Euphrat als auch der Tigris kommen aus der Türkei21, wo 2018 der Ilisu-Damm in Betrieb genommen wurde. Schon jetzt gibt es wegen des niedrigeren Wasserstands und des Eindringens von Salzwasser aus dem Persischen Golf in der irakischen Provinz Basra fast kein landwirtschaftlich nutzbares Land mehr. Hoher bzw. extremer Wasserstress, den laut Ecological Threat Register mehr als ein Drittel der Länder bis 2040 erleben werden, ist auch in Lateinamerika spürbar. Die Gletscher in der bolivianischen Region Cordillera Real haben seit 1980 eine Fläche von 37 Prozent eingebüßt. Dabei sind Millionen Bolivianer vom Schmelzwasser der Gletscher abhängig. Auch für Peru und Kolumbien sind die Gletschermassen eine lebenswichtige Wasserquelle, die nicht nur Trinkwasser, sondern auch Wasser für die Landwirtschaft und Kraftwerke liefert. Eine solche Ressource zu verlieren, wird drastische Folgen nach sich ziehen.

Vertrieben im eigenen Land

Zu den Menschen, die aus politischen und sozialen Gründen vertrieben werden und des Schutzes bedürfen, kommen künftig also auch noch jene, die von den Folgen des Klimawandels vertrieben werden. Die Weltbank prognostiziert, dass bis 2050 mehr als 140 Millionen Menschen aufgrund des Klimawandels innerhalb der Grenzen ihres Landes langfristig vertrieben werden und migrieren müssen.22 Durch unfreiwillige Abwanderung vom ländlichen in den urbanen Raum erfahren Menschen einen Verlust des „cultural heritage“. Erhöhte Mietpreise und unsichere Arbeitsanstellungen im Niedriglohnsektor in überlasteten Großstädten sind die Folge. Dabei sollten die bestehenden „akuten und zwingenden [Schutz]Gründe im Sinne der Genfer Konvention nicht leichtfertig ausgeweitet werden“23, wie es VENRO (der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen) bereits 2009 formulierte. Es braucht zusätzliche Schutzmechanismen für Menschen, die durch den Klimawandel vertrieben sind, wie zum Beispiel humanitäre Visa oder erleichterte Zugänge durch Arbeitsmigration. Als internationales Instrument zeitgerechter Klimapolitik schlägt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung einen Klimapass für menschenwürdige Migration vor.24 Solche Maßnahmen sind eine Frage globaler Gerechtigkeit und wurden 2019 an den Deutschen Bundestag herangetragen.25 Diese Überlegungen beziehen allerdings nicht die Menschen ein, die zurückbleiben (müssen), viele von ihnen Frauen und ältere Menschen. Auch der Verlust des „cultural heritage“ lässt sich monetär nicht aufwiegen.

Als Länder mit besonders hohem Risiko werden zumeist afrikanische Staaten herangezogen. Das ist nicht verwunderlich, denn laut Konfliktbarometer ist die Subsahara die Region mit den meisten Kriegen. Durch eine Kombination von klimabedingten Krisen und bewaffneten Auseinandersetzungen hat sich die Zahl der binnenvertriebenen Menschen in dieser Region innerhalb der letzten drei Jahre verdoppelt. 2018 wurden sechs der zehn weltweit schwersten Überflutungen dort verzeichnet. Fünf der acht weltweit härtesten Ernährungskrisen, schon jetzt durch eine Kombination aus Klimawandel und Konflikten bedingt, fanden in Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo, Nigeria, Sudan und Südsudan statt. Ohne sofortige Hilfsmaßnahmen wird sich die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage in Somalia durch eine absehbare Dürre noch verschlimmern und eine Hauptursache für Vertreibung und einen Anstieg sogenannter „protection risks“ sein. Bis zum Jahresende werden voraussichtlich mindestens 3,4 Millionen Menschen von der Dürre getroffen. Falls die sogenannten „Gu-Regenfälle“ einsetzen, dann in kurzer, heftiger Form mit sturzflutartigen Überschwemmungen, da der vertrocknete Boden das Wasser nicht aufnehmen kann. Der Zugang zu sauberem Wasser ist durch die Knappheit beeinträchtigt, und die Kosten dafür sind in einigen Gebieten um 60 Prozent gestiegen. Dies zwingt Menschen auf der Suche nach sauberem Wasser zu noch weiteren Wegstrecken oder zu dem Versuch, der Knappheit durch sogenannte negative Bewältigungsstrategien zu entkommen, also Ausgaben in anderen Lebensbereichen einzusparen, wie zum Beispiel im Bereich der Ernährung, Gesundheit oder Schulbildung. Oder es muss mehr Einkommen generiert werden, indem beispielsweise bestehende Wälder abgeholzt und zu verkaufbarer Holzkohle verarbeitet, Tiere vorschnell und zu fallenden Preisen verkauft bzw. notgeschlachtet oder Familienmitglieder verheiratet werden. Da das Weideland erschöpft ist, gehen die Viehzüchter dazu über, ihre Tiere mit Getreide zu füttern, was wiederum zu einem Anstieg der Getreidepreise um 30 Prozent geführt hat. Die Hilfsmaßnahmen wurden bereits in den am stärksten betroffenen Gebieten verstärkt. Allerdings stellen die Finanzierungsengpässe neben dem sicheren Zugang in die Gebiete weiterhin eine große Herausforderung dar. Bisher ist die im Humanitarian Response Plan veranschlagte Hilfe für das Jahr 2021 lediglich zu 15 Prozent gedeckt. Das Fluten von Märkten durch externe Nahrungsmittelhilfe ist dabei keine Option. Denn damit kann eine Unterbietung der Preise der lokalen Produktion zu einem realen Risiko werden. Stattdessen können Nahrungsmittelmärkte vor Ort in den Ländern unterstützt werden, indem zum Beispiel regionale Produkte bezogen werden.26

Lokales Friedenspotenzial und Inklusion

Eine Studie des Internationalen Instituts für Umwelt und Entwicklung (IIED)27 zeigt, dass die Annahme, Gewaltkonflikte seien auf Streitausbrüche zwischen sesshaften Bauern und umherziehenden Viehhirten (Pastoralisten) zurückzuführen, viel zu oberflächlich ist und zu Fehlinterpretationen verleiten kann. In nur zwei Prozent aller betrachteten Gewaltkonflikte gibt es Schnittstellen. In den vergangenen zehn Jahren sind die sogenannten „Farmer-Herder“-Konflikte nicht übermäßig gestiegen. In der Zeit von 1997 bis 2017 sind in 16 Ländern bei einer Gesamtbevölkerung von 580 Millionen Menschen in dieser Region 173.000 Zivilisten bei Konflikten getötet worden. Davon seien 10.000 Tote auf Konflikte zurückzuführen, in die Pastoralisten verwickelt waren. „Farmer-Herder“-Konflikte sind in vielen Ländern präsent und werden sich durch verknappte Ressourcen bisweilen auch verschärfen. Auf der anderen Seite sind diese Spannungen selten eskaliert, was zeigt, dass diese zwei diversen Gruppen schon seit etlichen Jahrzehnten Friedensarbeit und Konfliktprävention leisten, bevor es Konzepte wie „conflict-sensitive adaptation“ oder „Environmental Peacebuilding“ in der internationalen Zusammenarbeit überhaupt gab. Die Einsicht, dass es nicht ohne Einbindung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse geht, ist den Überlegungen, wie dem Klimawandel als Sicherheitsrisiko begegnet werden kann, vorauszustellen. Die Berücksichtigung des lokalen Potenzials entscheidet über Effektivität und Nachhaltigkeit von Friedens- und Sicherheitsprozessen: Wenn die Zivilgesellschaft an den Verhandlungen mitwirkt, sinkt das Risiko eines Scheiterns von Friedensabkommen um 64 Prozent.28

Die Beteiligung von Frauen ist noch immer ein unausgeschöpftes Potenzial. Ihre Teilnahme an Verhandlungen vergrößert die Chance, dass ein Friedensabkommen überhaupt getroffen wird.29 Ebenso erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abkommen mindestens zwei Jahre hält, um 20 Prozent; und  dass es auch nach fünfzehn Jahren noch in Kraft ist, um 35 Prozent.30 Entscheidend ist hierfür jedoch nicht allein die Teilnahme, sondern die Möglichkeiten und Bereitschaft zu effektiver und substanzieller Einflussnahme und Interessenvertretung.31 Der Friedensvertrag in Kolumbien ist nach über 50 Jahren der bewaffneten Auseinandersetzung ein anschauliches Beispiel dafür. Die Umsetzung der Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit – das internationale Regelwerk der Vereinten Nationen für die vollständige, gleichberechtigte und wirkungsvolle Teilhabe aller Geschlechter an Frieden und Sicherheit – ist zu Recht eine Priorität der Bundesregierung. Die Antwort auf internationale Krisen soll geschlechtergerecht sein, und die Bedürfnisse und Interessen von Frauen und Mädchen müssen bei Maßnahmen der Humanitären Hilfe, Krisenbewältigung und des Wiederaufbaus besser berücksichtigt werden.

Die dringendsten Aufgaben in Zeiten des Klimawandels

Humanitäre Hilfe darf sich nicht darin erschöpfen, Leid zu mindern und Symptome abzuschwächen. Die Möglichkeiten einer technischen und infrastrukturellen Vorsorge im Zuge der „Anpassung an den Klimawandel“ sind vielfältig und abhängig von der Art der jeweiligen Gefahrenlage. Der Bau von Dämmen und Schutzbauten in Gebieten, die durch Überschwemmungen bedroht sind, gehört genauso dazu wie die Anlage von Zisternen, Wasserrückhaltebecken und Wasserleitsystemen in Dürreregionen. Mittel- und langfristig können auch veränderte Anbaumethoden, dürreresistentes Saatgut oder Schutzpflanzungen gegen Erosion durch Wind, Wasser und Sonne zur Vorsorge beitragen. Dort, wo Anpassungsmaßnahmen nicht mehr ausreichen, ist es notwendig, Menschen dabei zu unterstützen, vorbereitet in sichere Regionen umzusiedeln. Wirklich wirksam und nachhaltig wird die Arbeit aber erst dann, wenn sie Menschen in die Lage versetzt, selbst Vorsorge zu treffen und sich sowohl vor Katastrophen als auch vor anderen Bedrohungen schützen zu können. Katastrophenvorsorge – oder auch die Anpassung an den Klimawandel – benötigt also weit mehr als technische und infrastrukturelle Ansätze. Sie muss die sozialen und kulturellen Gegebenheiten berücksichtigen, die von Katastrophen gefährdeten Menschen in die Konzepte miteinbeziehen, die lokal und regional gesammelten Erfahrungen aufgreifen und so Katastrophenvorsorge zum festen Bestandteil der Gesellschaft machen. Mehr als bislang werden zu den zentralen Charakteristika von Hilfsorganisationen sozialräumliche Eingebundenheit und gesellschaftliche Zugehörigkeit gehören müssen. Warum es nötig ist, die soziale Komponente in der Katastrophenvorsorge insgesamt zu stärken, wird bisweilen erst auf den zweiten Blick deutlich. Dann nämlich, wenn beispielsweise Ingenieure einen Schutzdamm gebaut haben, aber nicht klar ist, wer diesen instand hält. Und dann etwa, wenn während einer Überflutung zwar Rettungsboote bereitstehen, aber niemand weiß, wo eigentlich die älteren Menschen oder Menschen mit Behinderungen wohnen, die spezifische Hilfe benötigen. Es braucht also professionelle Sozialarbeit auf sozialräumlicher und gemeindebasierter Ebene, um Katastrophenvorsorge in den Gemeinden, Schulen, Arbeitsstellen oder Nachbarschaften dauerhaft zu implementieren.

Bei aller Fokussierung auf die lokalen Begebenheiten und die spezifischen regionalen Möglichkeiten darf nicht aus dem Blick geraten, dass der Klimawandel ein globales Phänomen ist – und damit auch einer global koordinierten Herangehensweise bedarf. Die Bezugsgrößen sind die Nachhaltigkeitsziele der UN und das Pariser Abkommen. Bei der Frage, wer die erforderlichen Kosten zu tragen hat, stoßen wir unweigerlich auf die Fragen nach (Klima-)Gerechtigkeit: Wie können Verluste und Schäden ausgeglichen werden, die durch den Klimawandel verursacht werden? Wer trägt die Kosten für Vorsorge und Anpassung? Nach wie vor sind dazu keine befriedigenden Antworten gefunden worden.

Im Gegenteil:  Während der Klimawandel voranschreitet und schon jetzt Millionen Menschen auf der ganzen Welt hungern, keinen Zugang zu sauberem Wasser haben und zur Migration gezwungen sind, werden täglich fast 300 Millionen US-Dollar für Atomwaffen ausgegeben.32 Auch diese Prioritätensetzung macht den Klimawandel zur größten Bedrohung für Frieden und Sicherheit.

1 Vatikan (2021): „Pastoral Guidelines on Climate Displaced People“, 30.3.2021, https://press.vatican.va/content/salastampa/en/bollettino/pubblico/2021/03/30/210330b.html (Stand aller Internetlinks: 20.5.2021); wörtlich sprach Papst Franziskus von einem „Ökozid“; siehe: „‚Umweltsünden‘: Papst prüft Aufnahme in Katechismus“, https://www.katholisch.de/artikel/23608-umweltsuenden-papst-prueft-aufnahme-in-katechismus

2 IPCC (2018): 1,5 °C Globale Erwärmung. Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger. www.de-ipcc.de/media/content/SR1.5-SPM_de_barrierefrei.pdf

3 Germanwatch (2021): Globaler Klima-Risiko-Index 2021, germanwatch.org/de/19777; untersucht werden die menschlichen Auswirkungen (Todesopfer) sowie die direkten ökonomischen Verluste.

4 IFRC (2020): World Disasters Report: Come Heat or High Water. Tackling the humanitarian impacts of the climate crisis together. Genf. media.ifrc.org/ifrc/wp-content/uploads/2020/11/20201116_WorldDisasters_Full.pdf

5 UN-OCHA (2021): „SOMALIA Drought Conditions Update“, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Drought%20Update_snapshot_Somalia_1.pdf

6 IPCC (2014): Klimaänderung 2013: Naturwissenschaftliche Grundlagen. Häufig gestellte Fragen und Antworten – Teil des Beitrags der Arbeitsgruppe I zum Fünften Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC). Bonn, 2017. https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2019/03/IPCC_AR5_WGI_FAQ_deutsch.pdf

7 Wester, Philippus et al. (eds.) (2019): The Hindu Kush Himalaya Assessment Mountains, Climate Change, Sustainability and People. Cham. https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-319-92288-1.pdf

8 HIIK (2021): Conflict Barometer 2020, hiik.de/wp-content/uploads/2021/03/ConflictBarometer_2020_1.pdf

9 BICC (2020): Globaler Militarisierungsindex 2020, www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/BICC_GMI_2020_DE.pdf

10 Selbst ein um Neutralität bemühtes Land wie Schweden hat sich einem massiven Aufrüstungsprogramm verschrieben und wird das Budget bis 2025 um 40 Prozent erhöhen.

11 Hüllinghorst, Yannik und Roll, Stephan (2021): „Deutsche Rüstungsexporte und die Militarisierung der Außenpolitik arabischer Staaten“, www.swp-berlin.org/10.18449/2020A103/

12 Schulze, Tobias (2021): „Aufrüstung als Sicherheitsrisiko“, taz.de/!5762705/

13 „The defence secretary has said £16.5bn is ‘enoughʼ to modernise the armed forces but refused to say how much of the new defence funding would be taken from the overseas aid budget.“ Pidd, Helen (2020): „UK defence: £16.5bn enough to modernise armed forces, says minister“, https://www.theguardian.com/politics/2020/nov/19/uk-defence-165bn-enough-to-modernise-armed-forces-says-minister

14 Siehe z. B. ALNAP (2018): „SOHS 2018. Data story: The state of the system in 9 charts“, sohs.alnap.org/blogs/data-story-the-state-of-the-system-in-9-charts

15 Siehe z. B.: Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung oder EU Institute for Security Studies in Paris.

16 Der Beirat der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung (s. a.): „Stellungnahme zum Bericht über die Umsetzung der ‚Leitlinien Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern‘“, https://peacelab.blog/uploads/Stellungnahme_Umsetzungsbericht_Leitlinien_Beirat_Zivile_Krisenpr%C3%A4vention_2021_03_31.pdf

17 Römer, Jörg (2021): „Wie der Klimawandel Terror und Gewalt fördert“, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/sipri-bericht-zu-mali-wie-der-klimawandel-terror-und-gewalt-foerdert-a-e1adee2b-b257-42b2-aee3-d0c848fd1f6b

18 Institute of Economics & Peace (2020): Ecological Threat Register. Sydney. https://www.visionofhumanity.org/wp-content/uploads/2020/10/ETR_2020_web-1.pdf  

19 Global Observatory (2021): „Emerging Lessons from Implementing Climate-Related Peace and Security Mandates“, theglobalobservatory.org/2021/04/emerging-lessons-implementing-climate-related-peace-security-mandates/

20 Nach der VN-Erklärung über die Umwelt des Menschen von 1972 (http://un-documents.net/unchedec.htm) wird jedem Land die Souveränität zur Ausbeutung der eigenen natürlichen Ressourcen zugesprochen, solange diese nicht der Umwelt anderer Staaten oder Gebieten über die nationale Rechtsprechung hinaus schadet.

21 Alkhafaji, Hayder (2018): „Iraq’s Water Crisis: Challenges and Solutions“, www.bayancenter.org/en/wp-content/uploads/2018/01/980987665.pdf

22 Weltbank (2021): „Climate Change Could Force Over 140 Million to Migrate Within Countries by 2050“, www.worldbank.org/en/news/press-release/2018/03/19/climate-change-could-force-over-140-million-to-migrate-within-countries-by-2050-world-bank-report

23 VENRO (2009): Migration zulassen – Flüchtlinge schützen. Bonn. venro.org/fileadmin/user_upload/Dateien/Daten/Publikationen/Positionspapiere/2009_Positionspapier_Migration.pdf

24 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung (2018): „In Nansens Fußstapfen. Ein Klimapass für menschenwürdige Migration“. In: Politikpapier Nr. 9, issuu.com/wbgu/docs/wbgu_politikpapier_9/24

25 Deutscher Bundestag: Drucksache 19/15781. Berlin. 10.12.2019, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/157/1915781.pdf

26 Z. B. „Afrique Verte - Sécurité et Souveraineté Alimentaires au Sahel“, www.afriqueverte.org

27 Toulmin, Camilla und Krätli, Saverio (2020): „Farmer-herder conflict: open your eyes, change the narrative, find solutions“, https://www.iied.org/farmer-herder-conflict-open-your-eyes-change-narrative-find-solutions

28 Nilsson, Desirée (2012): „Anchoring the Peace: Civil Society Actors in Peace Accords and Durable Peace“. In: International Interactions 38, no. 2, p. 258.

29 Krause, Jana et al. (2018): „Women’s Participation in Peace Negotiations and the Durability of Peace“. In: International Interactions, 44:6, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/03050629.2018.1492386

30 Stone, Laurel: „Quantitative Analysis of Women’s Participation in Peace Processes“, zit. in UN Women (2015): „Preventing Conflict, Transforming Justice, Securing the Peace: A Global Study on the Implementation of United Nations Security Council Resolution 1325“, wps.unwomen.org/pdf/en/GlobalStudy_EN_Web.pdf

31 Paffenholz, Thania et al. (2016): Making Women Count – Not Just Counting Women: Assessing Women’s Inclusion and Infuence on the Quality and Sustainability of Peace Negotiations and Implementation. Genf. www.peacewomen.org/sites/default/files/Making%20Women%20Count%20Not%20Just%20Counting%20Women.pdf

32 ICAN: „Kosten und Ausgaben“, www.icanw.de/fakten/herstellung-und-einsatz/kosten-und-ausgaben/

Zusammenfassung

Dr. Oliver Müller

Dr. Oliver Müller ist promovierter Theologe und Politikwissenschaftler. Nach Studien in Freiburg im Breisgau und Lima/Peru begann er seine berufliche Laufbahn in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising. Seit Herbst 2006 ist er Leiter (International Director) von Caritas international, dem Not- und Katastrophenhilfswerk des Deutschen Caritasverbandes mit Sitz in Freiburg. Dr. Oliver Müller befasst sich schwerpunktmäßig mit der Humanitären Hilfe, globaler sozialer Entwicklung und mit dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Osteuropa wie auch im Süden.

Oliver.Mueller@caritas.de


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