Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Über die Weigerung, vor dem Leiden zu kapitulieren
Mittlerweile wird von einer Jahrhundert-Pandemie gesprochen. Aber wer weiß schon, wie pandemisch dieses relativ junge Jahrhundert noch werden wird. Weltweit haben sich mehr als 60 Millionen Menschen mit Covid-19 infiziert, 1,4 Millionen sind an den Folgen der Viruserkrankung gestorben. Zwischen dem Verfassen dieses Textes und seiner Veröffentlichung werden die Zahlen verblasst und höheren Werten gewichen sein. Wir leben in einer dunklen Zeit. Dass das Coronavirus Leid in nahezu alle Winkel der Erde trägt, ist eine nicht zu leugnende Tatsache. Weltweit werden Menschen als Gezeichnete aus dieser Krise hervorgehen, körperlich, psychisch, bedroht in ihrer wirtschaftlichen Existenz. Erschöpfung und Widerwillen machen sich breit: Bislang protestieren wenige Menschen gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten, die das Ziel haben, tragischen Triage-Situationen auf den Intensivstationen zuvorzukommen. Aber die Entwicklung ist auch hier hochdynamisch. Viele Gesellschaften könnten schon bald vor Zerreißproben stehen, wenn demokratiefeindliche Gruppierungen, die Verschwörungstheorien verbreiten, weiteren Zulauf erhalten. Mancherorts ist bereits die Rede von einem „pandemischen Populismus“1.
Wie gut die Krise letztlich bewältigt werden kann, wird unbestreitbar davon abhängen, wie gut es gelingt, auf die jeweilige Infektionslage zu reagieren und vor allem die Kräfte im medizinischen und pflegerischen Bereich zu bündeln: Hier leistet auch die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag. Tausende Soldatinnen und Soldaten sind mittlerweile im Einsatz, etwa um die überlasteten Gesundheitsämter bei der Rückverfolgung der Infektionsketten zu unterstützen. Diese Fokussierung auf das, was im Hier und Jetzt der akuten Notlage entschieden werden muss, ist notwendig. Sie steht jedoch auch in der Gefahr, in eine destruktive Kurzsichtigkeit umzuschlagen, nämlich dann, wenn innerhalb der Bevölkerung die Akzeptanz der zum Teil schmerzhaften Einschnitte, welche viele Anti-Corona-Maßnahmen zweifellos darstellen, schwindet. Eine solche Akzeptanz, noch dazu eine, die für viele Menschen weitreichende Konsequenzen hat, verlangt nach nichts so sehr wie nach guten Gründen. Deshalb scheint es geboten, noch viel stärker als bislang einen breiten zivilgesellschaftlichen Diskurs als wirksames Mittel gegen die Ausbreitung des Virus zu forcieren: einen Diskurs, in dem Kontroversen konstruktiv ausgetragen werden, ohne Polarisierungen zu provozieren und Andersmeinende zu diffamieren. Auszeichnen würde diesen Diskurs auch, dass in ihm aufgrund der hochdynamischen Entwicklung das Eingeständnis von Fehlern nicht ein Zeichen von Schwäche wäre, sondern eines von Stärke.
Angesichts der aktuellen Pandemie, aber auch angestoßen durch den Klimawandel und durch politische Umwälzungen, verschärfen sich bislang vernachlässigte Gerechtigkeitsfragen. Inwiefern im Hinblick auf diese globalen und epochalen Herausforderungen die christliche Theologie nicht als Anbieterin einfacher Antworten infrage kommen könnte, sondern auch als Reflexionsgefährtin, dies auszuweisen halte ich für die derzeit wichtigste Aufgabe von Theologinnen und Theologen. Doch warum sollte die Theologie, so werden nicht wenige verwundert oder gar irritiert fragen, also eine Wissenschaft, die seit langer Zeit im Zeichen eines zunehmenden gesellschaftlichen Relevanzverlustes steht, ausgerechnet jetzt etwas zu sagen haben?
Die wohl kürzeste Antwort hierauf lautet: Weil Theologie als Rede von Gott die Weigerung impliziert, sich mit dem abzufinden, was ist. Gegenwärtig sehen sich Menschen hierzulande in einer lange nicht mehr da gewesenen, für die jüngeren Generationen in dieser Schärfe sogar gänzlich neuen Form mit der Frage konfrontiert, wie sich die Welt verändern müsste, damit alle jetzt, aber auch in Zukunft gut in ihr leben können. Dabei mag diese Frage harmloser klingen, als sie gemeint ist. Denn die Theologie steht in der Gefahr, sich von dieser Frage entweder nicht berühren zu lassen oder den Anschein zu erwecken, sie hätte die passenden Antworten immer schon parat. Doch hat sich eine Theologie, der man das harte Ringen mit den Fragen der Zeit nicht anmerkt, selbst diskreditiert. Dabei ist keineswegs ausgemacht, ob sie ihre Kernanliegen überhaupt so zur Sprache bringen kann, dass sie sich als plausibel und hilfreich im Hinblick auf die bedrängenden Fragen der Gegenwart erweisen. Eines ist jedoch gewiss: Besteht die Theologie diese Bewährungsprobe nicht, so wird die Krise sie unterspülen und einer weiteren Erosion ihrer Wahrnehmung als gesellschaftlich relevante Kraft wie auch ihres Einflusses auf zeitgenössische Diskurse Vorschub leisten. Erosion wird, dies ist etwa an Meeresdünen gut zu beobachten, von kleinen Pflanzen gestoppt, wenn sie Wurzeln schlagen, den Boden festigen und Windschatten erzeugen. Eine solche kleine Textpflanze theologischer Art will dieser Essay sein.
Als im März dieses Jahres in Italien, mitten in der ersten Coronawelle, selbst die Kapazität der Krematorien nicht mehr ausreichte, weil so viele Menschen in so kurzer Zeit starben, erstarrte Europa in Trauer und Angst. Das Bild von einem Militärkonvoi in der Lombardei, der Hunderte Särge, die Toten eines Tages, nach Ferrara transportierte, hat sich dem ikonografischen Gedächtnis Europas tief eingeprägt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben beklagte damals, dass die Italiener aus Angst vor Ansteckung bereit wären, alles zu opfern: ihr normales Leben, ihre sozialen Beziehungen und Freundschaften, ihre Gefühle und politischen und religiösen Überzeugungen. Einziges Ziel seiner Landsleute, so Agamben, sei es zu überleben. Seine weiteren Ausführungen interessieren hier nur insofern, als sich in ihnen ein Satz fand, der an dieser Stelle das Nachdenken über Solidarität in der Krise in Gang setzen soll: „Das nackte Leben und die Angst, es zu verlieren“, schrieb Agamben, „ist nicht etwas, was die Menschen verbindet, sondern was sie trennt und blind macht.“2 Anders formuliert: Spätestens wenn es um das eigene „nackte Leben“ geht, wird nicht mehr solidarisch gedacht und gehandelt.
Wer angesichts der Coronakrise über den vielfach bemühten Begriff der Solidarität nachzudenken beginnt, wird nicht umhinkommen, sich zunächst zu fragen, ob Agamben tatsächlich recht haben könnte. Ob es also stimmt, dass die Angst vor Ansteckung die Solidarität der Menschen mit- und untereinander untergräbt, ob es zutrifft, dass sie blind für die Belange der anderen werden, wenn sie um ihr eigenes Leben fürchten. Die erste Frage lautet deshalb, ob sich diese Behauptung Agambens als zutreffend erweist. Hier wird auf Erkenntnisse der Katastrophensoziologie und der Psychologie zu rekurrieren sein.
Umfragen belegen, dass sich die durch die Pandemie ausgelösten Ängste je nach Infektionslage verändern. 3 In einer deutschlandweiten repräsentativen Befragung von Oktober 2020, einer Zeit, in der die Infektionszahlen sehr stark anstiegen, gaben 11 Prozent der Befragten an, ihre Angst vor Ansteckung mit Covid-19 sei „sehr groß“, 26 Prozent bezeichneten sie als „groß“ (38 Prozent „weniger groß“ und 24 Prozent „klein“).4 Es gibt Menschen, bei denen die Angst sehr groß ist und möglicherweise sogar extreme Züge annimmt. Sie werden dem Diktat ihrer Angst nur schwer entkommen und in schmerzlicher Selbstabkapselung verharren. Am anderen Ende der Angst-Skala gibt es diejenigen, die ihre Angst ignorieren oder verdrängen, die sich vielleicht sogar für unverwundbar halten und keine Angst empfinden oder aber die sich dies nicht eingestehen möchten und stattdessen ihre scheinbare Angstlosigkeit möglichst sichtbar unter Beweis stellen wollen. Man denke etwa an jene Menschen, die sich weigern, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, oder an diejenigen, die Kontaktverbote, die andere schützen und die Ausbreitung des Virus verhindern sollen, gezielt unterlaufen. Es scheint naheliegend, dass sowohl die überbordende als auch die verleugnete oder nicht existente Angst eher egoistisches als altruistisches Verhalten befördert. Allerdings verweisen Psychologen hier auf sehr viel komplexere Zusammenhänge, etwa zwischen empfundenen Ängsten, Egoismus, Altruismus, Reziprozität und Empathie.
Ängste – so viel lässt sich festhalten – müssen nicht per se egoistisches Verhalten evozieren. Sie können auch dazu führen, dass Menschen sich stärker untereinander solidarisieren. Doch machen Angstforscher hier auch darauf aufmerksam, dass noch nicht hinreichend erforscht sei, was darüber entscheidet, wann Ängste eher einen solidaritätsfördernden Effekt haben und wann das Gegenteil der Fall ist.5 Die Coronakrise jedenfalls hat in beeindruckender Weise zivilgesellschaftliches Engagement entfacht und der Solidarität in unterschiedlichsten Kontexten Gestalt verliehen: Selten zuvor war eine so ausgeprägte und kreative, eine so vibrierende Hilfsbereitschaft spürbar wie in den ersten Monaten der Krise. Die Bereitschaft, vorübergehend auf bestimmte Freiheitsrechte zu verzichten oder konkrete Hilfe zu leisten, um sogenannte Risikogruppen zu schützen, war und ist nach wie vor hoch. Hier scheint die Furcht vor Ansteckung, die ja immer auch eine lebensförderliche Komponente hat, da sie vor Leichtsinn bewahrt, eine die Solidarität nicht nur nicht beeinträchtigende, sondern sogar fördernde Funktion übernommen zu haben.
Allerdings weist die Katastrophensoziologie gleichzeitig darauf hin, dass insbesondere in einer Pandemie, in der die Bedrohung – im Unterscheid etwa zu Naturkatastrophen – von anderen Menschen ausgeht, die Gefahr besteht, dass die Solidarität in Feindseligkeit umschlägt. Menschen seien extrem anfällig dafür, letztlich doch nur das eigene Überleben sichern zu wollen.
Im jüdisch-christlichen Kontext wird der Konnex zwischen Altruismus und Egoismus im Gebot der Selbst- und Nächstenliebe ganz grundlegend thematisiert: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ heißt es bereits im Buch Levitikus, das Jesus später zitieren wird. Wurde die Nächstenliebe lange Zeit in erster Linie dahingehend gedeutet, es gehe darum, sich für den anderen bedingungslos aufzuopfern, so steht die Theologie im Kontext heutiger Diskurse über Care-Ethiken vor der Aufgabe, die Dialektik von Selbst-, Nächsten- und Feindesliebe im Angesicht der Moderne neu auszubuchstabieren; eine Aufgabe, die hier lediglich angezeigt, aber nicht weiter verfolgt werden kann. Vielmehr ist mit Blick auf die vorangegangenen Überlegungen die Frage nach der Bedeutung der Angst im Hinblick auf das Verhältnis von Altruismus und Egoismus aufzugreifen.
„Fürchtet euch nicht!“, dieser Appell ist einer der zentralen biblischen Imperative. Das ganze Leben Jesu spannt sich hier auf: In der Weihnachtsgeschichte spricht ein Engel auf dem Feld diesen Satz zu den Hirten (Lk 2,10), am Grab Jesu zu den Frauen (Mt 28,5). In zahlreichen in der Bibel bezeugten Begegnungen wird dieser Imperativ immer wieder ins Gedächtnis gerufen. Im Vertrauen auf Gott und seinen den Menschen erlösenden Zuspruch soll die Angst überwunden werden. Papst Franziskus formuliert in Evangelii Gaudium: „Das christliche Ideal wird immer dazu auffordern, den Verdacht, das ständige Misstrauen, die Angst, überschwemmt zu werden, die defensiven Verhaltensweisen, die die heutige Welt uns auferlegt, zu überwinden.“6 Aus einer tiefen Beziehung des Gottvertrauens heraus erscheint dies möglich. Das heißt, der Glaube kann den Glaubenden aus der Angst um sich selbst befreien. Und dies haben Menschen aller Epochen eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Doch gäbe es tatsächlich eine allen Christen innewohnende Freiheit von Angst um sich selbst, dann würden viele derer, die dies unter Beweis gestellt haben, nicht als Heilige verehrt. Nicht umsonst spricht Franziskus darum von einem Ideal. Die Angst bleibt eine offene Wunde, ein Einfallstor für Entsolidarisierung – auch für Christen. „Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß“, sagte Franziskus Ende März 2020 auf dem menschenleeren Petersplatz mit Blick auf die Situation der Welt im Angesicht von Corona. Er erinnerte an die ängstlichen Jünger im Boot, die vom Sturm überrascht werden und dazu aufgerufen sind, sich gegenseitig beizustehen. Ins Sichtfeld rückt also die Verletzlichkeit, eine anthropologische Grunddimension, mit der Menschen in der Pandemie tagtäglich konfrontiert werden. Das Christentum stellt gewissermaßen eine einzige große Einübung in die Wahrnehmung der Verletzlichkeit dar. In Jesus bündeln sich „die Leiderfahrungen der biblischen Tradition: körperliche Misshandlung bis hin zur brutalen Vernichtung, psychische Angst und soziale Isolation, Zweifel an der eigenen Kraft, in diesem Leiden die Identität zu halten (Mk 14-15), und panische Angst, dass dieses schmerzvolle Zerbrechen seines Lebens die schreckliche Begegnung mit einem zornigen Gott sei“7.
Der nun alles entscheidende Hinweis darauf, was sich in diesem Leiden – und dazu gehört zuallererst auch das Leiden an der Angst – zeigt, dieser Hinweis verdankt sich nun ausgerechnet einem, der sich der Jüngerschar gerade nicht (mehr) vorbehaltlos zugehörig fühlte, der zweifelte und deshalb in der christlichen Rezeptionsgeschichte vielfach als „Ungläubiger“ abgekanzelt wurde. Thomas verlangt danach, so wird im Johannesevangelium erzählt, die Wundmale des Auferstandenen zu sehen (Joh 20,24-29). Erst nachdem er die Wunden gesehen hat, bekennt sich dieser zweifelnde Apostel in aller Klarheit zum Auferstandenen: „Mein Herr und mein Gott.“ Man könnte sagen: Thomas ist eine „Figur, anhand derer der johanneische Erzähler den Lesern – und in zweiter oder dritter Linie auch uns – den Weg vom Unglauben zum österlichen Glauben zu vermitteln versucht“8.
Doch was passiert auf diesem Weg vom Unglauben zum Glauben? Erst jener, so hat es der tschechische Theologe Tomáš Halík in seiner Deutung der Thomas-Geschichte formuliert, der die Wunden Jesu und darin die Wunden der Welt sehe und berühre und nicht vor dem „Feuer des Leids kapituliere“, wird erkennen, dass Gott lebendig ist.9 Aus der Wahrnehmung von Angst und Leid, aus einem tiefen Berührt-Sein trotz aller notwendigen körperlichen Distanz, erwuchs in den vergangenen Monaten – nicht überall, aber doch an vielen Stellen – eine überbordende Solidarität. Diese Weigerung, vor dem Feuer des Leids zu kapitulieren, war und ist der Hoffnungsschimmer in dieser Zeit. So könnte in einer erfahrbaren und glaubwürdigen Weise, mitten in der Coronakrise, auch vom Lebendigsein Gottes die Rede sein.
1 So der Titel einer Studie zu Facebook-Einträgen im Zusammenhang mit Covid-19, unter: arxiv.org/abs/2004.02566 (Stand: 13.11.2020).
2 Agamben, Giorgio (2020): „Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben: Gastkommentar“. In: Neue Zürcher Zeitung, 18.3.2020.
6 Franziskus: Evangelii Gaudium. Apostolisches Schreiben an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194). Bonn 2013, Nr. 88.
7 Zenger, Erich (1980): „Leiden, IV. Biblische Perspektiven“. In: Brantschen, Johannes B. u. a. (Hg.): Leiden. Gesundheit – Krankheit – Heilung. Sterben – Sterbebeistand. Trauer und Trost. Freiburg (Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft 10), S. 27–36, S. 27.
8 Frey, Jörg (2011): Der »zweifelnde« Thomas (Joh 20,24-29) im Spiegel seiner Rezeptionsgeschichte“. in: Hermeneutische Blätter, S. 5-32, S. 24.
9 Vgl. Halík, Tomáš (2013): Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung. Freiburg, S. 22.
Dr. Katharina Klöcker ist Theologin und Journalistin, seit 2015 Juniorprofessorin für Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium der katholischen Theologie in Tübingen, Paris und Münster war sie zunächst Volontärin, dann Redakteurin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn. Von 2004 bis 2012 war sie Mitarbeiterin am Seminar für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster. 2009 erschien ihre Dissertation „Zur Moral der Terrorbekämpfung. Eine theologisch-ethische Kritik“. Von 2012 bis 2015 baute sie das Netzwerkbüro Theologie & Beruf an der Universität Münster auf.