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Terroristen brauchen Publikum – wie der Terrorismus von den digitalen Medien profitiert

Mitte der 1990er Jahre unternahm eine Reihe von Kurieren die gefährliche Reise von Afghanistan über die Berge entlang der östlichen Grenze des Landes nach Islamabad, der Hauptstadt des benachbarten Pakistans. Dabei nutzten die Kuriere den Nahverkehr und waren so kaum von den vielen anderen Reisenden zu unterscheiden, die auf den Straßen der armen und manchmal rauen südasiatischen Staaten unterwegs waren. Ihre Mission aber war einzigartig: Videobänder der Terrororganisation Al-Kaida an die Büros der Nachrichtenorganisationen auszuliefern.

Osama bin Laden hatte Al-Kaida 1990 gegründet, um die zersplitterten und zerstrittenen Fraktionen der globalen sunnitisch-muslimischen Dschihad-Bewegung zu vereinen. Unter Führung der extremistischen Mudschaheddin sollten auf diesem Weg die Regierungen im Nahen Osten gestürzt und die Umma, die globale muslimische Gemeinschaft, von der Dominanz des Westens befreit werden. Bin Ladens Strategie bildete sich allmählich heraus; sie bestand in der Mobilisierung seiner Anhänger, der Polarisierung von Gemeinschaften, indem diese zur Wahl zwischen seiner Version des Islams und dem säkularen Westen gezwungen wurden, und der Terrorisierung seiner Feinde. Hierbei spielte die Kommunika­tion eine entscheidende Rolle. In einem Brief an Mullah Omar schrieb bin Laden, der von ihm geführte Kampf werde zu 90 Prozent „in den Medien“ geführt. Um seine Kommunikationsziele zu erreichen, war die „Propa­ganda der Tat“ die Waffe seiner Wahl: der Einsatz extremer, spektakulärer Gewalt gegen hochsymbolische Ziele.

Natürlich waren bin Laden und Al-Kaida nicht die Ersten, die so vorgingen. In den letzten 60 Jahren hat es drei große Wellen terroristischer Gewalt gegeben. Eine erste trat in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Dies fiel mit dem Einzug des Fernsehers in US-amerikanische und europäische Haushalte sowie der Ankunft des Radios in der islamischen Welt zusammen. Diejenigen, die gegen die Kolonial­herrschaft kämpften, erkannten sofort die Bedeutung dieser Medien. 1956 sinnierte der algerische Politaktivist und Revolutionär Ramdane Abane öffentlich darüber, ob es besser sei, zehn Feinde in einer entlegenen Schlucht umzubringen, „ohne dass jemand darüber spricht“, oder aber „einen einzigen Mann in Algier, was am nächsten Tag [von der Öffentlichkeit in fernen Ländern] bemerkt werden wird“, die wiederum politische Entscheidungsträger beeinflussen könnte. 

Die nächste große Welle terroristischer Gewalt begann Ende der 1960er und erreichte im darauffolgenden Jahrzehnt mit einer Reihe von äußerst medienwirksamen Attentaten, Flugzeugentführungen und Bombenanschlägen ihren Höhe­punkt. Bruce Hoffman, einer der angesehensten Wissenschaftler in dem Forschungsfeld, merkt dazu an, dass die Welle nahöstlichen Terrorismus in dieser Zeit mit diversen technischen Innovationen zusammenfiel, dank derer Bilder günstig und schnell auch über weite Entfernungen hinweg übertragen werden konnten. Damit konnten amerikanische Fernsehsender weitaus umfassender – und packender – über Ereignisse auf der ganzen Welt berichten. Im Jahr 1972 griffen Mitglieder der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September israelische Sportler bei den Olympischen Spielen in München an, den ersten Spielen, die live übertragen wurden, und den ersten, die das Ziel eines terroristischen Angriffs wurden. Die führenden Planer der Operation sagten später, dass sie das Ziel ausgewählt hätten, weil sie wussten, dass das Ereignis live im Fernsehen übertragen würde. „Der Plan war, über das Medium von mehr als 500 Millionen Fernsehapparaten internationalen Druck auszuüben“, so Abu Daoud, einer der Drahtzieher des Angriffs. Im darauffolgenden Jahrzehnt erreichten Eilmeldungen über Personen- und Flugzeugentführungen ein breites Publikum, das fortlaufend die neuesten Entwicklungen verfolgte.

Dann kamen Al-Kaida, ein weiterer technologischer Wandel und eine neue Welle der Gewalt. Ende der 1990er-Jahre gab es in der islamischen Welt zunehmend über Satelliten empfangbare Fernsehsender in den jeweiligen Landessprachen, was es einer bis dahin nie da gewesenen Anzahl von Menschen ermöglichte, Inhalte zu sehen, die nicht von Regierungsmitarbeitern zuvor geprüft worden waren. Schon bald wurden diese Fernsehsender äußerst populär, und bin Laden, inzwischen zurück in Afghanistan, begriff schnell deren Potenzial. Aber die von ihm produzierten Inhalte – um einen modernen Medienbegriff zu verwenden – waren nur teilweise von Interesse für die Redakteure in den Hauptstädten der Golf- und westlichen Staaten. Ein Kurier von Al-Kaida berichtete mir in einem Interview in Pakistan kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, bin Laden sei frus­triert gewesen, weil es ihm nicht gelang, mit seiner Botschaft so viele Menschen wie möglich zu erreichen: „Bei jedem neuen Video, das ich mitnahm, sagte er mir, wie wichtig mein Auftrag sei und dass dieses Mal die Muslime der Welt endlich zuhören würden und dass ich diese Aufzeichnung unter allen Umständen bei den richtigen Leuten abliefern müsse.“ Dass sich die Attacken von 1998 bis 2001 verstärkten, kann also auch als Reaktion auf dauerhaft erfolglose Bemühungen, die Schlagzeilen zu bestimmen, interpretiert werden. Zur Durchführung der Angriffe errichtete Al-Kaida ein breites und verwundbares Netz von Trainingscamps. Die Technologie beeinflusste dabei in sehr großem Maße die Organisationsstruktur.

In dem darauffolgenden und auch noch im aktuellen Jahrzehnt fand der größte technologische Wandel statt, ein Wandel, den viele mit der Gutenberg-Revolution und der Einführung des Buchdrucks vor 600 Jahren vergleichen. Diese digitale Revolution hat auch zu einer Weiterentwicklung der Terrortaktik und -strategie militanter Islamisten geführt. So ist die Kommunikation dank der digitalen Technik billiger und einfacher. Insbesondere können nun einzelne Personen selbst zu Sendestationen werden, was es den Organisationen ermöglicht, ein breites Publikum zu erreichen, ohne zuvor Redakteure davon überzeugen zu müssen, ihr Material zu senden. Dadurch unterliegt die Art der gesendeten Inhalte keinerlei Beschränkung mehr – Hinrichtungen und andere entsetzliche Szenen, die niemals auf die Fernsehbildschirme gelangt wären, können nun sogar auf Laptops und Mobiltelefonen angeschaut werden. Zudem können Inhalte nun nahezu sofort an jedem beliebigen Ort der Welt veröffentlicht werden. 

Militante Gruppen stellten sich schnell auf die zunehmende Bedeutung des Internets ein. Laut einer Schätzung wuchs die Zahl sämtlicher terroristischer Websites, also solcher, die Terror oder politische Gewalt befürworten oder dazu aufrufen, von 1997 bis 2005 beinahe um das 400-fache – von einem Dutzend auf nahezu 4700 – und damit achtmal stärker als die Gesamtzahl der Websites in diesem Zeitraum. In diesen Zahlen sind sowohl linke als auch rechte Extremisten berücksichtigt, aber militante Islamisten hatten daran einen Anteil von etwa zwei Dritteln.

Mit der neuen Technologie wurde auch die Anleitung von Rekruten bedeutend einfacher, da eine große Infrastruktur mit Camps und Reisen nun überflüssig war. Der saudi-arabische Zweig von Al-Kaida brachte 2004 ein Online-Magazin heraus, in dem potenzielle Rekruten zur Nutzung des Internets angehalten wurden: „Oh Mudschahed-Bruder, du musst nicht in andere Länder reisen, um dich dort zu den großen Trainingscamps zu begeben ... Auch alleine, bei dir zu Hause oder mit einer Gruppe von Brüdern kannst du das Trainingsprogramm beginnen.“ 

Der zusätzliche Einfluss dieses Wandels wurde am Islamischen Staat deutlich, der Bekanntheit erlangte, als er 2014 Mossul eroberte und ein Kalifat ausrief. 

Durch seine Fähigkeit, überall auf der Welt Botschaften zu veröffentlichen und Menschen direkt ohne die Vermittlung einer großen Nachrichtenorganisation zu erreichen, schuf der Islamische Staat eine beachtliche Propagandamaschine, die ein Bild der Organisation und ihres Projekts erzeugte, das auf Zehntausende junge Menschen in der islamischen Welt und in Europa Anziehung ausübte. Zudem vermochte es die Organisation, grauenhafte Bilder von Gewalt zu verbreiten, was die westliche Politik wesentlich beeinflusste – eine klassische Taktik von Terroristen. 

Schließlich – und das ist angesichts der Tatsache, dass der Islamische Staat seine Hochburgen im Irak und Syrien allmählich verliert, vielleicht am wichtigsten – sind aufgrund der neuen Technologie kleinere Angriffe von Einzelpersonen oder sehr kleinen Gruppen für Terrororganisationen so attraktiv wie nie zuvor. In den letzten Jahren haben wir viel über diese Operationen sogenannter einsamer Wölfe (lone wolfs) gehört. Hierbei handelt es sich um ein komplexes Phänomen, wobei in Wirklichkeit nur wenige solcher Angriffe von komplett allein agierenden Personen ausgeführt werden. 

Gleichwohl ist der im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zu beobachtende stetige Anstieg von Zahl und Wirksamkeit derartiger Attacken durch Einzelpersonen oder sehr wenige Personen mit nur schwachen Verbindungen oder geringem Kontakt zu einer etablierten Organisation eklatant. Ein Grund hierfür ist natürlich der Druck, der von Antiterrorbehörden sowohl auf Al-Kaida als auch auf den Islamischen Staat ausgeübt wird. Dadurch wird es zweifellos sehr schwierig, gewagte und komplexe Terroroperationen durchzuführen. 

Es gibt jedoch noch eine weitere Ursache: Die digitale Revolution hat für den Einzelnen Möglichkeiten geschaffen, die zuvor schlicht nicht existierten und für Terrorgruppen von großem Vorteil sind. Dazu ge­hören technische Mittel wie leicht zu beschaffende Apps für eine verschlüsselte Kommunikation sowie die Möglichkeit, über die sozialen Me­dien Anhänger zu rekrutieren und Propaganda zu verbreiten. Der vielleicht wichtigste Punkt hierbei ist, dass der Einzelne jetzt sein eigenes Treuebekenntnis und sein eigenes Bekennervideo senden kann, wie dies Attentäter in Deutschland letztes Jahr (2016) taten. Mithilfe von GoPro-Extremsportkameras kann er seine Gewalttat sogar selbst filmen. 

Solche von Einzelpersonen verübten Anschläge können eine enorme Panik auslösen. Die Tatsache, dass die Zahl der bei islamistischen Terrorattacken getöteten Menschen statistisch gesehen vernachlässigbar ist, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Wir wissen, dass selbst bei einer größeren Terror­aktion das tatsächliche Risiko, verletzt zu werden, gering ist. Wenn wir aber auf unseren Smart­phones oder Tablets die Schlagzeilen durchgehen und über einen schweren Verkehrsunfall, den Ausbruch einer Krankheit oder einfach über die Sterberaten bei Herz­erkrankungen oder Krebs lesen, empfinden wir nicht die gleiche Angst und morbide Faszina­tion, wie wenn wir von einer Bombenexplosion oder einer Schießerei hören – auch wenn es unendlich wahrscheinlicher ist, dass wir oder unsere Lieben durch die Geißeln des modernen Lebens Schaden nehmen. Die Gewalt erscheint absolut unvorhersehbar, selbst wenn das nicht stimmt. Viele Orte, an denen wir uns normalerweise sicher fühlen – Züge, Flughäfen, selbst Schulen –, werden plötzlich zu Gefahrenzonen. Wir gehen von dem einen Anschlag aus und leiten eine allgemeine Regel daraus ab. Ein Bewaffneter hat ein Museum überfallen, also ist kein Museum mehr sicher. Explodiert eine Bombe in einem Klassenzimmer, fragen wir uns unweigerlich, ob das auch hier passieren könnte – selbst wenn der Ort des Attentats Tausende Kilometer entfernt ist. 

Auch unser Vertrauen in die Institutionen, die uns schützen sollen, wird erschüttert. Terror untergräbt die Legitimität des Staates, indem er dessen Unfähigkeit zeigt, seiner grundlegenden Aufgabe – dem Schutz seiner Bürger in ihrem Alltag – nachzukommen. Gleichzeitig bedroht er das so wichtige Monopol des Staates auf den rechtmäßigen Gebrauch von Gewalt.1  Wir alle erkennen das instinktiv. Eine einzelne Bombe in einem Bus ist für politische Entscheidungsträger handhabbar. Zwei Bomben stellen ein ernstes Problem dar. Drei Bomben können eine Regierung zu Fall bringen, einfach weil es dann einen allgemeinen Konsens unter Amtsträgern, Politikern und Wählern gibt, dass die Verantwortlichen ihren Job nicht mehr richtig machen. Auch wenn uns prinzipiell bewusst ist, dass die Bedrohung nicht unmittelbarer Natur ist, so erscheint sie doch allgegenwärtig, und deshalb fühlen wir uns äußerst verletzlich. Tot oder lebendig, verletzt oder gesund – das erscheint wie ein einziges Glücksspiel. Dieses Gefühl der permanenten Bedrohung ist genau das, wonach die Terroristen streben, denn es  baut Druck auf politische Entscheidungsträger auf, ihre Politik zu ändern, es schwächt die Wirtschaft oder beeinflusst einfach, wie Millionen Menschen sich selbst und die Welt sehen. Dieses Gefühl bewegt uns außerdem dazu, die Zugbrücke hochzuziehen, das Fremde oder Andere zu meiden und uns auf die beruhigenden, uns sicher und vertraut erscheinenden Gewissheiten zurückzuziehen, die Kommunikation und den Austausch einzuschränken und Mauern zu bauen. 

Welche Rolle nun spielen unsere Medien dabei? Nachrichtenorganisationen unterliegen nicht nur kommerziellen Zwängen, die häufig Sensa­tionsmache begünstigen, sondern ihre Mitarbeiter spiegeln auch weite Teile des gesellschaftlichen Spektrums wider. So sind die meisten Mediennutzer an Meldungen interessiert, die entweder eine akute Bedrohung oder aber einen Vorteil für sie darstellen könnten. Dementsprechend gilt das Gleiche für die meisten Redakteure. Nicht umsonst lautet ein altes Nachrichtensprichwort: „If it bleeds, it leads.“ („Blut verkauft sich gut.“) 

Dies jedoch ist nicht das einzige Problem. In den letzten Jahrzehnten machten sich die Me­dien auch schuldig, indem sie Analysefehler, die erhebliche und schädliche Auswirkungen hatten und haben, begünstigten oder sogar ver­ursachten.

Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September wurde eine Reihe von Missverständnissen bezüglich Osama bin Laden und Al-Kaida zum Allgemeingut. Bei ei­nigen davon ging es um die Person bin Laden selbst – seinen Reichtum, seine Gesundheit und seine Geschichte. Die von ihm geführte Gruppe – bis dahin relativ bedeutungslos, ohne echte Unterstützung und mit nur wenigen Hundert Mitgliedern – wurde als eine sich ausbreitende globale Terrororganisation beschrieben, mit gehorsamen „Agenten“ und „Schläfern“ auf jedem Kontinent. Zudem wurde ihr eine Fähigkeit zur Mobilisierung, zur Radikalisierung und zum Angriff zugeschrieben, die weit über ihre wahren Möglichkeiten hinausging. Ältere Anschläge ohne jede Verbindung zu der Gruppe oder ihrem Anführer galten plötzlich als „Al-Kaida-Operationen“. Jeder Vorfall, gleich wo auf der Welt, konnte als Angriff Al-Kaidas interpretiert werden.

Dieser irreführende Eindruck beeinflusste die Re­aktion des Westens auf die Ereignisse vom 11. September 2001. Die von Al-Kaida ausgehende Bedrohung wurde in apokalyptischen Worten beschrieben und eine Antwort gleichen massiven Ausmaßes als notwendig erachtet. Dabei wurden die ideologischen Motive der Gruppe ignoriert, während die persönliche Agenda der Anführer in den Mittelpunkt gestellt wurde. Wenn man diese tötete, so die Logik, würde auch das Problem verschwinden. Die Verbindungen von Al-Kaida zu anderen terro­ristischen oder extremistischen Organisationen wurden verfälscht dargestellt, häufig von po­litischen Entscheidungsträgern, die auf einen innenpolitischen Vorteil und internationale Unterstützung hofften. Das traf auch auf die angeblichen – allesamt erfundenen – Verbindungen zu Regierungen verschiedener Staaten zu. 

Auch wenn die ungeheuerliche Manipula­tion der öffentlichen Meinung und die Sensationsgier der Medien, die zu Beginn des letzten Jahrzehnts zu beobachten war, heutzutage abgenommen haben, so gilt doch, dass alte Gewohnheiten sich nur schwer ablegen lassen. Das Auftauchen von ISIS2 im Jahr 2013 rief Reaktionen hervor, die denen kurz nach den Anschlägen vom 11. September ähneln und die, trotz der insgesamt vernünftigen Analyse der Obama-Regierung, die Politik zu beeinflussen drohen. So wurde ISIS trotz fehlender echter Beweise ähnlich wie Al-Kaida mit Plänen in Verbindung gebracht, Massenvernichtungs­waffen zu erwerben, sowie mit dem aberwitzigen Vorhaben, mit Ebola infizierte „Agenten“ gegen seine Feinde einzusetzen. Medien in den USA berichteten von einem Netz von ISIS-„Schläfern“ in der „Heimat“ und von „Schläferagenten“ in Europa – genauso wie sie es bei Al-Kaida im Jahr 2002 getan hatten. Derartige Behauptungen stellten bestenfalls grob fälschlich dar, wie die beiden Organisa­tionen agieren und wie der Einzelne radikalisiert wird. Die Stimmung in Europa nach den Angriffen in Paris im Januar 2015, die nur indirekt mit dem IS in Beziehung standen, erinnerte ebenfalls an die Atmosphäre ein Jahrzehnt zuvor; damals wie heute berichteten US-Kommentatoren in hysterischer Manier von „No-go-Areas“ in europäischen Städten, in denen angeblich islamisches Recht herrscht. 

Gleichwohl ist es möglicherweise unangebracht, den Medien – oder zumindest den traditionellen Medien – mitten in der digitalen Revolution, die so vieles so grundlegend verändert, die Schuld zu geben. Schließlich ist der Einfluss von Zeitungen und Fernsehsendern in den letzten Jahren in dem Maße gesunken, wie der Einfluss der sozialen Medien zugenommen hat. Auch der Einfluss professioneller Journalisten ist zurückgegangen, während der Einfluss des Einzelnen durch die Möglichkeiten der neuen Technik gewachsen ist. 

Diese Entwicklung hat auch in der Welt des Terrorismus deutliche Folgen. 

In einem aufsehenerregenden Fall ermordete am 13. Juni 2016 ein 25-jähriger französischer Extremist und Kleinkrimineller namens Larossi Abballa den Polizeibeamten Jean-Baptiste Salvaing in dessen Haus in einer Wohngegend von Magnaville, einer kleinen Stadt nordwestlich von Paris. Larossi stach mit einem großen Messer siebenmal auf Salvaing ein. Mit der gleichen Waffe ermordete er dann die Ehefrau des toten Polizisten. Den dreijährigen Sohn des Paares verschonte er. Nach der Tat nutzte Larossi die neue Livestream-Anwendung von Facebook namens Facebook Live, um eine zwölfminütige, weitschweifige Rede auf Arabisch und Französisch zu senden. Dabei nannte er seine Motive für die Tat, schwor Abu Bakr al-Baghdadi, dem Anführer des Islamischen Staats, die Treue und rief zu weiteren Angriffen in Frankreich gegen eine Reihe von Zielen auf, darunter bekannte Rapper, Journalisten und Politiker. 

Dass Larossi Facebook nutzte, weil ihm die App nun die Möglichkeit gab, mit einer großen Anzahl von Leuten in Echtzeit zu kommunizieren, war ein komplett vorhersehbarer Schritt. Angesichts der im Laufe der Jahre entstandenen engen Verbindung zwischen Terrorismus und Geschichtsschreibung sollte es nicht überraschen, dass heute jeder Einzelne ein Lone-wolf-Angreifer, ein Bürgerjournalist oder auch beides gleichzeitig sein kann.

In dem Maße, wie die Möglichkeit zum Verbreiten von Inhalten gestiegen ist, ist auch die Verantwortung der Sendenden gestiegen. So kann die Weiterleitung eines Tweets (Re­­tweet) genauso schwerwiegend sein wie die Entscheidung eines Redakteurs. Und dabei geht es nicht nur um die Verbreitung von Bildern, bei der der Einzelne die neue Pflicht hat, über Ethik und Moral seiner Handlungen nachzudenken; dies betrifft gleichermaßen seine Nachrichten.

Die stärksten Bilder der Angriffe auf Charlie Hebdo im Januar 2015 stammten von Außenstehenden. So filmte ein Nachbar mit seinem Handy den Moment, als die Angreifer einen verwundeten Polizisten auf dem Bürgersteig vor den Büros des Magazins praktisch hinrichteten. 

Was die November-Angriffe in Paris betrifft, so waren es zwei Videoclips, die von vielen Millionen Menschen angesehen wurden. Bei dem einen handelte es sich um das Handy­video panischer Konzertbesucher, die versuchten, während des Angriffs von dem Ort des Anschlags zu fliehen. Das andere Video – das vielleicht denkwürdigste von allen – zeigte die Menschenmenge in der Bataclan-Konzerthalle in dem Moment, in dem die ersten Schüsse zu hören waren. Die Aufnahme stammte von einem der Konzertbesucher. 

Daraus ergibt sich eine neue Perspektive. Es stimmt zwar, dass die massenhafte Betrachtung dieser Bilder in gewisser Weise nur möglich ist, weil Mitarbeiter von Nachrichtenorganisationen dafür Sorge tragen. In gleichem Maße wird sie aber auch durch gewöhnliche Bürger ermöglicht, denen die digitale Revolution das Handwerkszeug dafür geliefert hat. Für professionelle Journalisten gibt es viele Verhaltens­kodizes. Vielleicht ist es nun an der Zeit, einen Verhaltenskodex für jeden zu formulieren, der ein Smartphone besitzt und Twitter, Facebook oder Ähnliches benutzt?

 

1 Der deutsche Soziologe Max Weber vertrat in einem 1918 gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Politik als Beruf“ die heute berühmte Sichtweise zur Entstehung des modernen Staats, in der er mit der Analyse einer Aussage von Leo Trotzki erklärte, dass jeder Staat auf Zwang gegründet sei; ein Staat sei „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“. Weber, Max (1988): „Politik als Beruf“. In: Gesammelte Politische Schriften. 5. Aufl., Tübingen, S. 505–560, S. 506.
2 Islamischer Staat im Irak und in Syrien.

Zusammenfassung

Jason Burke

Jason Burke ist leitender Auslandskorrespondent der britischen Tageszeitungen „The Guardian“ und „The Observer“. Zu seinen Schwerpunkten gehören der Nahe Osten, Südasien sowie Terrorismus. Von 1998 bis 2002 war er als Reporter in Pakistan tätig und berichtete von dort aus über Afghanistan unter dem Talibanregime und den Krieg 2001. Auch mit dem Irakkrieg in dieser Zeit und dessen Folgen beschäftigte er sich. Burke ist Autor des Buchs „The New Threat from Islamic Militancy“, das für den britischen Orwell-Preis nominiert war. Zu seinen weiteren Veröffentlichungen zählen „Al-Qaida: Wurzeln, Geschichte, Organisation“ (2003), „Reise nach Kandahar“ (2006) und „The 9/11 Wars“ (2011). Zudem veröffentlichte Burke Beiträge in der Publikation „History of Political Islam“ (Oxford University) und in zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften. Er war als Redner zum Thema militanter Islam unter anderem bei Scotland Yard, der Denkfabrik Royal United Service Institute, dem britischen Auslandsgeheimdienst und dem französischen Außenministerium. Er ist regelmäßig als Kommentator in TV und Radio tätig.

jason.burke@theguardian.com


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