Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Warum ziehen junge Europäer in den Dschihad?
Viele Menschen in Europa haben den Eindruck, dass die dschihadistische Gewalt sie von außen befällt. Häufig wird die Tatsache verdrängt, dass viele junge Dschihadisten und Dschihadistinnen in europäischen Gesellschaften aufgewachsen sind und dort für diese Gewalt anfällig wurden. Wer den Dschihadismus bekämpfen will, der darf deshalb von der Anziehungskraft, die dieser auf junge Menschen in Europa ausübt, nicht schweigen. Fragen wir also: Wie lässt sich die Faszination erklären, die der Dschihad auf junge Menschen hierzulande ausübt?
Vier Deutungsmuster dschihadistischer Gewalt
Idealtypisch lassen sich vier Deutungsmuster dschihadistischer Gewalt unterscheiden.
Diabolisierung Die Diabolisierung ist zunächst der Versuch, den Schrecken dieser Taten dadurch zu bannen, dass man ihm einen Namen gibt: das Böse. Überdies stärkt sie das Empfinden von Verantwortung für die vom dschihadistischen Völkermord bedrohten Menschen. Aber die Diabolisierung bietet keine Analyse. Wer diabolisiert, bewegt sich im Tautologischen, da von den bösen Taten auf die Bösartigkeit der Menschen geschlossen wird. Darüber hinaus besitzt die Diabolisierung kein selbstkritisches Potenzial. Wer diabolisiert, der externalisiert zumeist. Dadurch gerät jedoch die Erkenntnis aus dem Blickfeld, dass die bestialischsten Dschihadisten aus Europa zu kommen scheinen.
Religionisierung Neben der Diabolisierung gibt es Versuche, die Gewalt zu religionisieren: Es gibt keinen Islamismus ohne Islam. Ergo gibt es auch keinen Dschihadismus ohne Islam. Diese Herleitung dient häufig als Nachweis dafür, dass die Gewalt, die sich im Dschihadismus offenbart, religiös motiviert sei. Die monokausale Religionisierung der Gräueltaten verdeckt jedoch die Perspektive, dass dem Dschihadismus auch andere, vielleicht sogar ganz andere Motive zugrunde liegen.
Der Blick auf die Profile europäischer Dschihadisten zeigt, dass der Religion im Dschihadismus keine Hauptrolle zukommt. So hat etwa das französische Präventionszentrum Centre de Prévention contre les Dérives Sectaires liées à l’Islam folgendes Profil typischer Dschihad-Kandidaten erstellt: „Die meisten sind zwischen 18 und 21 Jahre alt (43,3 Prozent), fast zwei Drittel von ihnen (63,3 Prozent) wuchsen in atheistischen Elternhäusern auf. In einer jüngeren Studie sind acht von zehn Gotteskriegern Kinder aus atheistischen Elternhäusern, zwei Drittel […] stammen aus Mittelschichtsfamilien.“ Viele Dschihadisten sind in Familien aufgewachsen, die nicht fundamentalistisch geprägt sind; 20 Prozent von ihnen sind Konvertiten. Problematisch sind Versuche der Religionisierung dschihadistischer Gewalt jedoch vor allem deshalb, weil sie sich an der Stilisierung der Gewalt zum „Heiligen Krieg“ beteiligen, wie sie von den Dschihadisten betrieben wird, und dadurch deren Gewalt letztlich als Teil eines Krieges der Religionen aufwerten.
Soziologisierung In zahlreichen Artikeln erscheinen die Dschihadisten als die Verarmten, die materiell und sozial Schwachen, die Ungebildeten, die Kriminellen. Solche Soziologisierungen dienen oft dazu, diese Gewalt an den Rand zu drängen und sie damit zu verdrängen. Derartige Versuche zielen darauf ab, die Täter aus der Mitte westlicher Gesellschaften auszuschließen.
Polizei und Verfassungsschutz in Deutschland kommen zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, für deutsche Dschihadisten ein typisches Profil zu erstellen. Die Mehrheit der Dschihadisten ist männlich, in Deutschland geboren, besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und ist zwischen 21 und 25 Jahre alt. Die Hälfte von ihnen ist verheiratet, darunter befinden sich auch Väter mit Kindern. Circa 17 Prozent der Dschihadisten sind Konvertiten. Eine Reihe von Dschihadisten hat eine kriminelle Vorgeschichte. Etwa ein Viertel ist sehr gut gebildet. Sie haben Abitur oder Fachhochschulreife, ein Teil von ihnen hat studiert. 21 Prozent waren arbeitslos oder arbeiteten im Niedriglohnsektor. Dass nur jeder vierte Dschihadist aus Deutschland über einen Schulabschluss verfügt, liegt vor allem daran, dass die meisten vorzeitig die Schule verlassen, um in den Dschihad zu ziehen.
Ethisierung Um den Dualismus zwischen den Guten auf der einen und den Bösen auf der anderen Seite zu überwinden und die Handlungsmotive der Täter besser zu verstehen, könnte es sinnvoll sein, die Gewalt zu ethisieren. Durch die Ethisierung werden die Täter als Handelnde betrachtet, die ihrem Handeln eine Ethik zugrunde legen, in deren Licht dieses als ein gutes Handeln erscheint. Diese Deutung bietet eine Erklärung dafür, warum sich die Täter anscheinend gar keiner Schuld bewusst sind, verhalten sie sich doch aus ihrer Sicht nicht nur richtig, sondern auch gut. Aus ihrer Perspektive betrachtet sind sie die Guten und wir die Bösen. Eine Ethisierung der dschihadistischen Gewalt vermag durchaus zu helfen, die Handlungsmotivationen der Täter besser zu verstehen. Sie läuft jedoch Gefahr, den Rechtfertigungen, die die Täter für sich heranziehen, zu glauben und sie somit zu bestätigen.
Diabolisierung, Religionisierung, Soziologisierung, Ethisierung – das sind vier Deutungsweisen der dschihadistischen Gewalt. Eine jede von ihnen enthält ein Stück Wahrheit. Für sich genommen ist eine jede allerdings nicht nur unzureichend, sondern irreführend.
Dschihadismus als Terrorismus
Dschihadismus heißt zunächst, Menschen das Fürchten zu lehren, indem man Schrecken verbreitet. Schrecken zu verbreiten, das ist bekanntlich das Ziel eines jeden Terrorismus. Wer den Dschihadismus verstehen will, muss ihn deshalb zunächst als Terrorismus interpretieren.
Terrorismus enthält eine spezifische Rationalität, die sich an seinen Funktionen ablesen lässt. Eine der Hauptfunktionen des Terrors besteht darin, jede Beziehung zwischen den Entscheidungen der Terroristen und den individuellen Schicksalen auszulöschen. Die Terroristen möchten das Vertrauen in das Zusammenleben der Menschen erschüttern. Sie zielen auf den Zusammenbruch der Persönlichkeit von Menschen. Je irrationaler terroristische Handlungen erscheinen, desto rationaler sind sie kalkuliert.2 All das hat der dschihadistische Terror mit allen anderen Formen des Terrorismus gemein. Aber das Verstörtsein angesichts der dschihadistischen Anschläge resultiert nicht nur aus der Unkalkulierbarkeit seiner Gewalt, sondern vor allem aus ihrem Überschießen, ihrer Enthemmung und Entgrenzung. Der dschihadistische Terror zielt schließlich auf Massenvernichtung.
Die enthemmende Gewalt des dschihadistischen Terrors rückt diesen in die Nähe religiöser Terrorismen, da Massenvernichtung ein Spezifikum religiösen Terrorismus zu sein scheint. Für gewöhnlich legen Terroristen Wert darauf, hervorzuheben, dass ihre Taten sich von bloßer Gewaltkriminalität abheben. Aus diesem Grund kam bislang auch kein Terrorismus ohne einen interessierten oder einen zu interessierenden Dritten aus. Dieser diente ihm zur politischen Legitimation seiner Gewalt.3
Die Einbeziehung eines Dritten hat lange Zeit dazu geführt, dass Anschläge mit herkömmlichen Mitteln, nicht mit Massenvernichtungsmitteln durchgeführt wurden. Dies scheint jedoch für einen religiös motivierten Terrorismus nicht oder weniger zu gelten, braucht dieser doch nicht unbedingt einen Dritten – wenigstens nicht einen diesseitigen Dritten. Kann der diesseitige Dritte dem Terrorismus seine ideologische Basis wegziehen, indem er öffentlich erklärt, dass die Terroristen seinen Interessen zuwiderhandeln, so fällt diese interventionistische Delegitimierung im Blick auf einen jenseitigen Dritten weg. Und das gilt auch im Blick auf die Form der Anwendung der Gewalt. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass der Terrorismus durch die religiöse Grundierung eine neue, eine enthemmende Dimension erhalten hat. Religiöse Terrorismen sind deshalb besonders todbringend.
Dschihadismus als aktiver Nihilismus
Betrachtet man den dschihadistischen Terrorismus, so hat man es allerdings mit einem komplexeren Phänomen zu tun, denn hier tritt eine Enthemmung zutage, die als Ausdruck eines religiös-extremistischen Phänomens nicht hinreichend erklärt werden kann. Dschihadismus ist ein Hass, der zum eigentlichen Lebenszweck erklärt wird und dem alles, auch der eigene Überlebenswille, untergeordnet wird. Dieser Hass wird erst nachträglich sakralisiert.
Ein solcher Hass ist Ausdruck eines aktiven Nihilismus. Aktiver Nihilismus ist die Aktivierung der Unfähigkeit, das emphatische Nein zum Nichtsein des Anderen zu sprechen, sogar um den Preis eigenen Nichtseins. Der Wille, den Tod des Anderen herbeizuführen, wird zum Lebenszweck, da der Täter bereit ist, dafür sein Leben zu opfern. Voraussetzung dieses Willens ist die Neutralisierung der Empathiefähigkeit.
Nihilistische Tendenzen in westlichen Gesellschaften
Wer die Ursachen für den aktiven Nihilismus ergründen will, ist gut beraten, sich mit nihilistischen Tendenzen in westlichen Gesellschaften zu befassen. Wenn heute vom Nihilismus im Blick auf westliche Gesellschaften zu sprechen ist, dann geht es um eine spezifische Lebenserfahrung: um ein Leben in erschreckender Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit. Trotz der Abnahme jugendlicher Gewalt in Deutschland seit 2008 gibt es Formen der Gewalt, die aus einem destruktiven Begehren resultieren. Schriftsteller, Psychologen, Soziologen und auch Polizeipräsidenten sprechen von absoluter, leerer und blinder Gewalt, von Gewalt um ihrer selbst willen. Diese Gewaltformen sind Ausdruck von Sinnlosigkeit bzw. von pervertiertem Sinn. Die neuen Gewalttäter scheinen durch ihre Tat einen Ersatz für das zu erhalten, was in der Gesellschaft zu fehlen scheint: Sinn. Die Zerstörung könnte ihnen somit ein Ultimum an Sinn bereiten. Dieser Sinn besteht aber nicht mehr im Ja zum Leben, sondern im Ja zum Nichts. Solch aversive, gegen andere gerichtete Verhaltensweisen treten meist individuell auf, lassen sich aber auch kollektiv mobilisieren und politisch aktivieren, wie man es im Dschihadismus sieht. Sie resultieren nicht nur aus ökonomischen Krisen. Sie sind vor allem verursacht durch echte psychische Not.
Dschihadismus ist ein Todeskult, der in der Furcht vor dem Tod gründet. Diese Todesfurcht ist Ausdruck einer abgrundtiefen Lebensfeindlichkeit, die in ein libidinöses Verhältnis zum Tod mündet: „Wir lieben den Tod.“ Diese Lebensfeindlichkeit ist Ergebnis einer Lebensuntauglichkeit.
Durch die Selbstenthemmung scheint der Tätereine Selbstexpansion zu erfahren. Das kleine Ich des Dschihadisten fürchtet den Tod. Indem es den Tod an Anderen exekutiert, fühlt es sich als jemand, der an der Kraft des Todes teilhat. Durch die enthemmte Gewalt scheint der Dschihadist einen „doppelten Sieg“ zu erringen, indem er die eigene Sterblichkeit und die Grenzen seiner sozialen Existenz transzendiert.4 Und so avanciert er zum negativen Helden. Zum Helden kann man sich jedoch nicht selbst machen, zum Helden wird man gemacht. Man denkt für gewöhnlich, solche Taten riefen Abscheu und Ekel hervor. Weit gefehlt: Sie üben Faszination aus.
Um der Todesfurcht zu entgehen, benutzt der Dschihadist den Anderen als Todableiter. Der Tod trifft immer den Anderen. Und wenn er den Dschihadisten trifft, dann nur als gemeinsamer Tod, als in den Tod rennende Masse oder als Tod in der Masse. Der in den Tod Rennende braucht sich keine Gedanken zu machen, nehmen ihm doch die Anderen das eigene Sterben ab. Zudem wirkt der Hass wie ein Delirium. Über den von Hass Trunkenen verliert der Tod seine Macht. Die Ideologie verstärkt diese Tendenzen.
Dschihadismus als faschistisches Syndrom5
Der Dschihadismus teilt viele Symptome mit den europäischen Faschismen. In der Selbstaufgabe im großen Ganzen findet das Individuum „Erlösung von Schuld und individueller Todesfurcht“. Gerade im Faschismus zeigt sich ein Intimverhältnis zur Gewalt. Gewalt ist hier libidinös besetzt. Das Bekennerschreiben von Al-Kaida zu den Anschlägen in Madrid bringt diese libidinöse Beziehung zur Gewalt auf den Punkt: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“ Bekanntlich lautete der Schlachtruf der spanischen Faschisten: „Viva la muerte!“ – „Es lebe der Tod!“
Der französische Politik- und Islamwissenschaftler Olivier Roy fordert: „Man muss nur zuhören, wie die Konvertiten, die zu Hunderten nach Syrien aufgebrochen sind, ihre Radikalisierung begründen. Sie alle sagen dasselbe: Ihr Leben sei leer gewesen, immer habe man sich über sie lustig gemacht.“6 Damit sind neuralgische Probleme in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften benannt: das sich ausbreitende Gefühl der Leere und der Exklusion.
Wer also vom Dschihadismus spricht, der darf vom Nihilismus in westlichen Gesellschaften nicht schweigen.
Identitätsstörungen
Eine Analyse der Ursachen für die Attraktivität des Dschihadismus hierzulande muss die Zunahme von Ungleichheit in der Gesellschaft berücksichtigen, ebenso Broken-Home-Situationen, insbesondere das Fehlen von Vätern, des Weiteren verspätete Rachegefühle, die aus Diskriminierungserfahrungen der Eltern und/oder Großeltern entstanden sind. Aber das wohl Wichtigste ist die Frage nach der psychischen Verfassung der jungen Dschihadisten. Die Profile zeigen, dass die Dschihadisten an einem oder mehreren Punkten in ihrem Leben den Halt verloren haben. Angesprochen vom Dschihadismus werden junge Menschen mit massiven Identitätsstörungen. Dazu zählen u. a. : Gefühlsleere, Prozessmelancholie, Kontrollverlust, Fragmentkörpererfahrung.
Gefühlsleere Das Gefühl innerer Leere entsteht, wenn Menschen keine Identität ausbilden können, „die im Mitgefühl für den anderen wurzelt“7. Eine solche atomisierte Identität ist instabil. Sie ist unfähig zur Nächsten- und Selbstliebe. Diese Unfähigkeit gebiert Selbsthass. Gerade junge Dschihadisten verkörpern solch instabile Identitäten. Ihr Töten resultiert nicht zuletzt aus auf andere projiziertem Selbsthass.
Prozessmelancholie Nihilismus entsteht dort, wo Möglichkeitssinn austrocknet. In der Gesellschaft verändert sich vieles, und das stetig. Immer mehr junge Menschen haben jedoch den Eindruck, keinen Einfluss auf die Veränderungsprozesse nehmen zu können. Dies ist das Milieu, in dem sich eine „Prozessmelancholie“ (P. Sloterdijk) ausbreitet, das Gefühl, dass alles seinen Gang geht und das eigene Zutun keine Rolle spielt.
Kontrollverlust Dass der Möglichkeitssinn abhandenzukommen droht, zeigt auch ein Blick auf Ermüdungs- und Lähmungserscheinungen, die sich massenhaft ausbreiten. Diese entstehen weniger aus einem Mangel an Haben, sondern sind eher verursacht durch einen Mangel an Sein, an Anerkanntsein. Anerkennung ist die Quelle eines stabilen Selbst. Diese Quelle versiegt, wenn sich unter Menschen die Angst ausbreitet, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Mit steigendem Kontrollverlust wächst das Empfinden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Das ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen gedemütigt fühlen.
Zerstörte Körperlichkeit8 Des Weiteren ist zu bedenken, dass das Gefühl gesellschaftlicher Ortlosigkeit bei jungen Menschen immer auch mit einer körperlichen Ungewissheit zusammengedacht werden muss. Gesellschaftliche und körperliche Fragmentierung sind hier unaufhebbar miteinander verwoben. Menschen, die auf die Zerstörung anderer Körper zielen, haben Probleme mit dem eigenen Körper. Wegen einer Grundstörung sind sie unfähig, ihren Körper als Einheit wahrzunehmen („Fragmentkörper“). Der menschliche Organismus ist auf Ausgleich der verschiedenen Körperfunktionen ausgerichtet. Kommt es hier zu massiven Instabilitäten, gerät die körperliche Balance ins Wanken. Es bauen sich extreme Spannungen im Körper auf, die auf Entladung ausgerichtet sind. Wenn der eigene Körper zum Fragment zu werden droht, dann entstehen vor allem in der Phase des Erwachsenwerdens psychophysische Turbulenzen. Durch das Töten können sich die damit einhergehenden Spannungen für kurze Zeit entladen.
Gegenkräfte Nihilismus beginnt, wenn Möglichkeitssinn und Endlichkeitssinn austrocknen. Antidschihadismus muss die Grundlagen schaffen für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und die Ausbildung von Resilienz. Junge Menschen sind auf die Erfahrung von Selbstwirksamkeit angewiesen, denn diese ist die Basis dafür, dass sich Möglichkeitssinn einstellen kann: „Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles“ (T. W. Adorno).9
Dschihadistische Gewalt ist eine Reaktion auf Furcht vor der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit. Dschihadismus ist Furcht vor dem Menschsein. Worauf es ankommt, sind Lebensformen, „die jungen Leuten die Botschaft vermitteln, dass alle Menschen verletzlich und sterblich sind und dass dieser Aspekt des menschlichen Lebens nicht hassenswert und abzulehnen ist, sondern [das menschliche Leben auszeichnet und(J. M.)] durch gegenseitige Anerkennung und Hilfe aufgefangen werden kann“10.
1 Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Aufsatzes „Wir lieben den Tod – Dschihadismus und Nihilismus“ (Reihe: Kirche und Gesellschaft, Nr. 430). Dort finden sich auch alle Fußnoten. Für ausführliche Darlegungen und Belege siehe: Manemann, Jürgen (2015): Der Dschihad und der Nihilismus des Westens. Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? Bielefeld. 2 Vgl. Reemtsma, Jan Philipp (1991): „Terroratio. Überlegungen zum Zusammenhang von Terror, Rationalität und Vernichtungspolitik“. In: Schneider, Wolfgang (Hg.): Vernichtungspolitik. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland. Hamburg, S. 135–163, S. 158. 3 Vgl. Münkler, Herfried (2002): „Asymmetrische Gewalt. Terrorismus als politisch-militärische Strategie“. In: Merkur 1/2002, S. 1–12, S. 11; auch: Palaver, Wolfgang (2002): „Terrorismus: Wesensmerkmale, Entstehung, Religion“. www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/161.html (Stand: 13. Oktober 2017). 4 Vgl. Sofsky, Wolfgang (1996): Traktat über die Gewalt. Frankfurt, S. 56–62. 5 Vgl. Hacker, Friedrich (1992): Das Faschismus-Syndrom. Analyse eines aktuellen Phänomens. Frankfurt, S. 35, 42ff. 6 Roy, Olivier (2015): „Hauptsache, Held sein“. Interview von Julia Amalia Heyer. In: Der Spiegel Nr. 4 vom 17. Januar 2015, S. 90–92, S. 91. 7 Gruen, Arno (2015): Wider den Terrorismus. Stuttgart, S. 16. 8 Theweleit spricht von Fragmentkörpererfahrung, siehe dazu: Theweleit, Klaus (2015): Das Lachen der Täter: Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten/Salzburg/Wien, S. 186; des Weiteren: Theweleit, Klaus (2016): „Körperliche Lust nur durch Gewalt“. In: TAZ, 30. Juli 2016. 9 Adorno, Theodor W. (1990): Negative Dialektik. 6. Aufl., Frankfurt, S. 391. 10 Nussbaum, Martha C. (2012): Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen, S. 50.
Jürgen Manemann ist Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (fiph). Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Philosophie, politische Theologie, Umweltphilosophie und Wirtschaftsanthropologie.