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Plötzlich kriegstüchtig? Der Pazifismus der Deutschen in der Zeitenwende

Von Timo Graf

Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat Deutschland seit 2022 zu einer grundlegenden Neuausrichtung seiner Verteidigungspolitik gezwungen: Die Bundeswehr soll wieder kriegstüchtig und zur stärksten Armee in der EU werden. Begleitet werden dieser verteidigungspolitische Kurswechsel und der neue militärische Führungsanspruch von Forderungen nach einem gesellschaftlichen Mentalitätswandel hin zu mehr Wehrhaftigkeit. Vertreter pazifistischer Positionen befürchten deshalb eine bellizistische Umerziehung der deutschen Bevölkerung und eine Abkehr vom Pazifismus. Aus Sicht der verteidigungspolitischen Falken vollzieht sich der gesellschaftliche Mentalitätswandel dagegen nicht schnell genug. Was beide Lager eint, sind ihre Grundannahmen über die Ausprägung des Pazifismus in der deutschen Bevölkerung: Bis 2022 sei die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger pazifistisch geprägt gewesen und seit 2022 verändere sich diese Haltung. Der vorliegende Beitrag überprüft diese beiden Annahmen auf der Grundlage von repräsentativen Umfragedaten, die eine empirische Messung pazifistischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung im Zeitverlauf ermöglichen. Betrachtet werden fünf Indikatoren einer pazifistischen Einstellung: 1. Pazifismus als außen- und sicherheitspolitische Grundhaltung; 2. Pazifismus als Ablehnung der Gewaltanwendung durch das Militär; 3. Pazifismus als grundsätzliche Ablehnung der Streitkräfte; 4. Pazifismus als Ablehnung einer „Politik der Aufrüstung“; 5. Pazifismus als Ablehnung eines persönlichen militärischen Engagements. Die gewonnenen Erkenntnisse beschreiben das Ausmaß und die Grenzen des strategischen Kulturwandels in der deutschen Bevölkerung und entlarven zugleich eine Reihe von falschen Annahmen über das Verhältnis der Deutschen zum Militär. 

Originalartikel