Editorial
Ausgabe 2024/02
Kriegstüchtig, wehrhaft – und friedensfähig?
Liebe Leserinnen und Leser, bei der diesjährigen Wahl der „Wörter des Jahres“ belegte der Begriff „kriegstüchtig“ den dritten Platz. Die Gesellschaft für deutsche Sprache schreibt dazu: „In der anschließenden öffentlichen Debatte wurden Panikmache und die Gefahr einer Militarisierung befürchtet. Argumentiert wurde jedoch auch, dass eine realistische Einschätzung von Bedrohungen und entsprechende Vorbereitungen notwendig seien, um Frieden zu sichern.“
Es kommt mit anderen Worten auf die differenzierte Auslegung solcher Schlagworte an. Ansonsten erschöpft sich die Debatte schnell in bekannten Reiz-Reaktions-Mustern und wechselseitiger Empörung über „Kriegstreiberei“ oder „parasitären Pazifismus“. Diese Ausgabe von Ethik und Militär befasst sich daher mit Implikationen des Begriffs und adäquaten Reaktionen auf die veränderte Bedrohungslage in Europa. Dass Letztere real ist, ist der Minimalkonsens, der den Beiträgen zugrunde liegt.
Dr. Franz-Josef Overbeck, Katholischer Militärbischof für die Bundeswehr, hebt in seinen einleitenden Reflexionen hervor, dass christliche Friedensethik angesichts der Komplexität moderner Herausforderungen sowie begrenzten Wissens über Umstände und Handlungsfolgen keine einfachen, schematischen Lösungen bieten kann. Trotz ihrer pazifistischen Grundausrichtung schließe sie die Möglichkeit legitimer Gegengewalt nicht kategorisch aus; gegenüber dem Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ zeigt er sich dennoch kritisch.
Dr. Paul Silas Peterson vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), beschäftigt sich ausführlich mit „Kriegstüchtigkeit“ in der Gründungsphase der Bundeswehr. Er belegt, dass diese von Beginn an in einer Logik von Abschreckung und Friedenserhaltung stand und klare ethische und rechtliche Bezüge aufwies. Die heutigen Diskussionen um den Begriff beruhen häufig auf dem impliziten Konsens, die Deutschen seien eine postheroische und pazifistische Gesellschaft. Dr. Timo Graf weist anhand von anschaulich aufbereiteten Daten aus der ZMSBw-Bevölkerungsbefragung nach, dass solche Annahmen revidiert werden müssen.
Eine der meistdiskutierten Fragen im Zusammenhang mit „kriegstüchtiger“ Bundeswehr und „wehrhafter“ Gesellschaft ist die von Wehr- bzw. Zivildienst. Dr. Andrea Ellner vom King’s College London legt die Vorteile eines möglichst breiten, inklusiven Gesellschaftsdienstes gegenüber eines auf militärische Aspekte fokussierten Modells dar. Finnland wiederum, das die Wehrpflicht nie abgeschafft hat, gilt vielen als Vorbild für „nordische Resilienz“. Minna Ålander vom Finnish Institute of International Affairs erläutert die spezifischen Voraussetzungen des finnischen Gesamtverteidigungsansatzes und erklärt, wie europäische Staaten gerade vom Schwerpunkt auf Zivilverteidigung profitieren könnten.
Eine aktuelle militärische Streitfrage greift die Strategieexpertin Prof. Dr. Beatrice Heuser auf. Sie gibt einen Überblick über die Geschichte nuklearer Abschreckung und der damit verbundenen ethischen Debatten und befürwortet vor diesem Hintergrund die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ab 2026.
Wie Deutschland sich auf den Spannungs- oder Bündnisfall vorbereitet, ist Thema des Specials. Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos, beschreibt Funktion und Zweck des „Operationsplans Deutschland“, der Abläufe für verschiedene Szenarien definiert und nach einem „Stresstest“ weiterentwickelt werden soll. Schließlich erläutert Kapitän zur See Michael Giss, welche Aufgaben in diesem Zusammenhang den Landeskommandos zukommen. Ohne Ethik, so der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg im Interview, sei der Soldat nur ein halber Soldat. Auch in der derzeitigen Situation geht es also nicht darum, Streitkräfte aufs vermeintliche „Kerngeschäft“ zu reduzieren.
Die Redaktion bedankt sich herzlich bei allen, die mit ihrem Engagement zum Entstehen dieser Ausgabe beigetragen haben. Wir hoffen, dass sie dabei hilft, den „Nebel der Kriegstüchtigkeit“ zu durchdringen und neue Perspektiven zu eröffnen.
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