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Das Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr stellt die engen verfassungsrechtlichen Grenzen heraus, innerhalb derer die deutschen Streitkräfte auch im Landesinneren zum Einsatz kommen können.1  Entscheidend sind die Artikel 35 und 87a des Grundgesetzes. Ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist möglich entweder als Amtshilfe bei „Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen“ oder für „Aufgaben des Objektschutzes und der Verkehrsregelung im Verteidigungs- und Spannungsfall“ sowie „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“. Das Weißbuch spricht bei Letzterem vom „inneren Notstand“. 

Die Realität terroristischer Angriffe hat die Frage, ob man die Befugnisse staatlicher Armeen im Inneren ausweiten sollte, erneut in die politische Diskussion gehoben. Kann Ethik zur Beantwortung einer solchen Frage etwas beitragen? Sie kann es, wenn sie die staatsphilosophischen und kriegstheoretischen Konzepte, die den jeweiligen politischen Wortmeldungen zugrunde liegen, klar herausstellt und dadurch die Debatte versachlicht.2

Die Neuzeit hat ein scharf konturiertes – theoretisches – Modell des stato (so Machiavellis Ausdruck) hervorgebracht: Im Staat verbinden sich die Individuen zu dem Zweck, sich wechselseitig vor Gewalt zu schützen. Dazu kommen sie überein, allgemeine Gesetze anzuerkennen, die ihnen Lasten auferlegen (insbesondere die Last, zur Verteidigung des Mitbürgers bei ungerechten Angriffen gegen diesen einzustehen), aber auch wechselweise Vorteile zusichern (insbesondere die grundsätzliche kollektive Sicherung vor ungerechten Angriffen). Damit aber nicht jeder dauernd bereit sein muss, den Mitbürger zu verteidigen, ist diese Aufgabe selbst wieder in einer Art kollektivem Vertrag bestimmten Bürgern in besonderer institutioneller Weise zugewiesen, nämlich den inneren Sicherungskräften, der Polizei. Nur wo kein Polizist anwesend ist, darf – stellvertretend – der Bürger selbst in Notwehr oder Nothilfe eigenmächtig ungerechte Gewalt gewaltsam abwehren. Polizisten als Rechtswahrer und Garanten der inneren Sicherheit behandeln aber jeden Rechtsbrecher immer noch als Bürger – allerdings als rechtsbrechenden Bürger, d. h. als Kriminellen. Der Kriminelle verliert aber nicht als solcher gänzlich seine bürgerlichen Rechte, sondern nur insoweit, wie es die Abwehr seiner Rechtsbrüche erforderlich macht. 

Anders ist es aber bei der Abwehr von Gefahren, die dem Staat als ganzem von Menschen und Institutionen außerhalb des Staates drohen. Im – hier natürlich nur als Stereotyp gezeichneten – neuzeitlichen Staatsmodell kann es zu Gewalthandeln kommen, das sich nicht innerhalb des Staates zwischen Bürgern ereignet und Leben, Eigentum und Sicherheit einzelner Bürger betrifft, sondern das Gewalthandeln ist, das von außerhalb des Staates kommt und gegen diesen selbst gerichtet ist. Solche Gewalt ist nicht kriminell, sondern im Wortsinne „feindlich“. Der Kriminelle verletzt die Gesetze, denen er als Bürger unterliegt. Der Feind verletzt keine Gesetze, denen er unterliegt, denn er greift die Rechtsgemeinschaft an als jemand, der ihr nicht angehört. Das ist ein Grund, weshalb das tra­di­tionelle humanitäre Völkerrecht nach Ende eines Krieges gegnerische Kombattanten im Allgemeinen straffrei belässt: Als feindliche Akteure haben sie das Recht des angegriffenen Staates nicht gebrochen, selbst wenn sie Bürger dieses Staates in den Auseinandersetzungen getötet und verletzt haben. – Damit nun aber nicht jeder dauernd bereit sein muss, die Außensicherung des Staates zu übernehmen, ist diese Aufgabe ihrerseits nun wieder in einer Art kollektivem Vertrag bestimmten Bürgern in besonderer institutioneller Weise zugewiesen, nämlich den staatlichen Streitkräften. Die Trennung von innerer und äußerer Sicherung des Staates hat also ihren Grund in der unterschiedlichen Qualität der Sicherung: zum einen als Rechtswahrung, zum anderen aber als existenzerhaltendem Schutz vor dem Angriff von außen.

So weit das theoretische Stereotyp3, das wir zwar konzeptionell verstehen sollten, von dem wir aber wissen müssen, dass es stets nur als Folie für eine nie so rein und geschieden daherkommende Wirklichkeit zu begreifen ist. Beispielsweise gab es in Kriegen immer schon Spione oder Kollaborateure, die von innen zur Unterstützung des äußeren Feindes gehandelt haben. Andererseits gibt es eine besondere Gruppe von Rechtsbrechern, welche nämlich Mitbürger mit der Absicht angreifen, nicht einfachhin Vorteile aus deren Schädigung zu ziehen, sondern die darauf vertrauen, dass sich die Nachricht vom Angriff so verbreitet, dass sie möglichst viele andere Bürger verunsichert. Diese allgemeine Verunsicherung soll dann eine gesellschaftliche und politische Veränderung bewirken. Diese Strategie des Schreckeneinjagens durch das Ingangsetzen verängstigender Kommunikation ist Terrorismus. Lange Zeit war diese Strategie auf staatliche Innenräume beschränkt – wie bei RAF, IRA oder ETA. Insofern sie die staatlichen Gesetze gebrochen haben, sind diese Terroristen eben Kriminelle – ja in vielen Fällen Schwerstkriminelle. Spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert sind wir aber insbesondere durch das Handeln islamistischer Terrorgruppen mit einem Phänomen konfrontiert, das sich die weltweite kommunikative Vernetzung zunutze macht und die gesamte Weltgemeinschaft als Adressaten der Schreckenswirkung auffasst. 

Dass sich also staatlicher Innenraum und Außenbereich verwischen, hat zunächst einmal damit zu tun, dass der kommunikative Innenbereich größer geworden ist – insbesondere durch das Internet und weltweit verfügbare soziale Medien. Auch „9/11“ ist nicht einfach ein amerikanisches, sondern ein globales Ereignis. Aber richtig ist auch, dass manche dieser Terroristen zwar in Staaten leben, sich jedoch gänzlich mit ihrer Kraft gegen diese Staaten und ihre innere normative Ordnung einsetzen, die sie mit ihren Angriffen zerstören oder jedenfalls unter Druck bringen wollen. Obwohl sie also einerseits wie Bürger wirken, sind sie doch in Ziel und Absicht ihres Handelns „Feinde“. Dieser Umstand hat nun gerade nach „9/11“ zahlreiche Politiker dazu bewogen, von einem „globalen Krieg gegen den Terrorismus“ zu sprechen, um damit an eine bekannte Legitimierungsfolie für gewaltsames Handeln von Staaten zu appellieren. Übersehen wurde dabei zumindest zweierlei: dass man auf diese Weise den Krieg in die eigenen Staaten, also zwischen die Bürger, trägt und dass man einer Totalisierung des Krieges nach außen, also einer räumlichen, zeitlichen und personellen Entgrenzung, zuarbeitet. Der omnipräsente Drohnenkrieg ist ja keine bloße Schimäre mehr, sondern scheint in bestimmten Weltgegenden bereits angefangen zu haben. Krieg im traditionellen Sinne kann nicht die Antwort auf das Phänomen des globalen Terrorismus sein, wenn man die institutionelle Kernaufgabe des Staates, nämlich die Sicherung seiner Bürger, nicht von innen her unterlaufen will. Im global war on terrorism wird der staat­liche Innenraum letztlich gleichermaßen zum Kriegsgebiet wie alle umgebenden Außen­räume.

Aber andererseits ist der transnationale Terrorismus ein Faktum, und ihn als bloßes Pro­blem von Großkriminalität zu behandeln, scheint em­­pirisch unmöglich. Innere Sicherheitsorgane von Staaten sind angewiesen auf Informa­tionsaustausch mit anderen Staaten, sodass die Sicherheitspolitik des Landes A nicht nur an die eigene Verwundbarkeit denken darf, sondern sich zugleich die Verhinderung eines Anschlags im Land B zu einer Aufgabe machen muss, zu deren Erfüllung sie beitragen kann. Oft reichen auch die physischen Möglichkeiten eines angegriffenen Staates zur Verteidigung gegen globale Terrorgruppen nicht mehr aus, und es bedarf des Einstehens anderer Länder zu dessen Schutz. Da der Kommunikationsraum mittlerweile eben ein globaler und der Terrorismus dadurch auch global geworden ist, führt an globalen Antworten auf den Terrorismus kein Weg vorbei, auch wenn dies bei der gegenwärtigen Diversität der Weltgesellschaft häufig noch schlecht vorstellbar erscheint. Zu tief wirkt mancher Graben in der Wertsetzung zwischen West und Ost, Nord und Süd, Arm und Reich und was sich dergleichen an Differenzierungen anführen ließe.

Wenn wir Terrorismusbekämpfung als eine Aufgabe begreifen, die die weltbürgerliche Gesellschaft als ganze betrifft, können wir jedenfalls Antworten auf unsere anfangs genannten Fragen andeuten. Sollen staatliche Streitkräfte – wie die deutsche Bundeswehr – nicht auch größere Befugnisse in der Innensicherung des Staates bekommen können? Den Bescheid kann man größtenteils auf der Basis pragmatischer Überlegungen geben. Da staatliche Streitkräfte über die massivsten Gewaltmittel verfügen, bestand und besteht bei ihnen immer eine besondere Gefahr, dass sie, die zur Außensicherung gedacht sind, nach innen im Staat die Macht übernehmen, insbesondere dann, wenn die Trennung von Außen- und Innensicherung bereits verschwommen ist. Dass der Militärputsch nicht gänzlich der Vergangenheit an­­gehört, zeigen die Ereignisse in der Türkei am 15. und 16. Juli 2016 oder die Vorgänge in Ägypten im Jahr 2013. Es kann durchaus klug sein, auch bei keiner unmittelbaren Gefahr eines Staatsstreichs keine Unklarheit über die Zuständigkeiten der Sicherungsbereiche von innen und außen entstehen zu lassen. Notwendig erscheint vielmehr, die Polizei im Hinblick auf Ausrüstung und Know-how in den Stand zu setzen, mit neu hinzugekommenen Bedrohungen von innen angemessen umzugehen.4 Das institutionelle und persönliche Handeln polizeilicher Kräfte muss dabei stets am Anspruch der Rechtswahrung gemessen werden, sodass nicht unter der Hand kriegerische Legitima­tionsmuster in die Polizeiarbeit Einzug halten. Das heißt dann eben auch Grund- und Menschenrechtswahrung bei terroristischen Angreifern – wobei natürlich umgekehrt die Grund- und Menschenrechte ebenfalls auf die Bedrohung hin auszulegen sind, die diese Angreifer darstellen. Wenn mehrere Institutionen oder Personen infrage kommen, eine Verteidigungsaufgabe zu übernehmen, gebietet es die Ethik, jene damit zu beauftragen, die sie am besten erfüllen können. Wir müssen uns daher auch Klarheit darüber verschaffen, was wir für eine gute Verteidigung halten können. Dieser Selbstverständigungsprozess ist aber letztlich nicht nur auf staatliche Innenräume begrenzt, wie wiederum das Phänomen des Drohnenkriegs zeigt. So wie weltweit über die Angemessenheit solcher grenzüberschreitenden Abwehrmaßnahmen diskutiert wird, so ist es auch nötig, diesen weltweiten Kommunikationsvorgang in globale Institutionen zu überführen.

Der Raum, auf den hin wir also unsere Sicherheit bedenken, kann nicht mehr einfachhin der staatliche Innenraum sein, sondern muss ein kosmopolitischer werden. Insofern würden dann in diesem weltbürgerlichen Innenraum auch staatliche Streitkräfte „im Inneren“ eingesetzt. Die Bundeswehr wird tatsächlich künftig im Inneren eingesetzt werden, aber nicht im Innern des Staates X oder Y, sondern eines gewissen Weltinnenraums, den alle Weltbürger in kooperativer Weise sichern. – Dieses Selbstverständnis scheint angesichts unserer Wirklichkeit die einzig pragmatisch konsistente Haltung zu bleiben. Und wichtig für unseren Kontext ist: Dieses Selbstverständnis muss zu einem veränderten Verständnis dessen führen, wer „Gegner“ ist und dass dieser Gegner kein „Feind“ mehr im traditionellen Sinne ist.5 Das humanitäre Völkerrecht wird sich dann also in der Tendenz eher polizeilichen Maßstäben annähern müssen, worauf ja auch jetzt schon viele Diskussionen in der Rechtswissenschaft hinweisen.6

Aber die globale mediale Öffentlichkeit und die Politik der Sicherung der Menschen in ihrer Individualität (Stichwort human security) müssen einhergehen mit einem weltpolitischen Prozess, wenn nicht ständig Wertkonflikte in Gewaltak­tionen ausarten sollen. Denn Wertkonflikte und unterschiedliche Vorstellungen davon, wie das weltpolitische Gemeinwesen zu gestalten ist, wird es weiterhin geben. Zu groß sind hier häufig Differenzen zwischen den säkular-liberalen Grundhaltungen von Menschen im sogenannten Westen und den religiösen Existenzformen; zu groß sind noch die Mentalitätsunterschiede, und zu groß sind auch die Unterschiede in der globalen Vermögensverteilung, was unterschiedliche Haltungen zu Eigentum und Wirtschaftsformen begünstigt. Wenn sich jemand explizit gegen das formale Konzept eines „kosmopolitischen Innenraums“ positioniert (z. B. Kants „ungerechter Feind“7) oder material eine gänzlich andere Wertordnung anstrebt, werden wir ihm nie völlig gerecht, wenn wir ihn lediglich auf der Basis unserer Wertvorstellungen behandeln, und sei es gemäß noch so hoher menschenrechtlicher Standards. Dem radikalen Gegner werden wir nur gerecht, wenn wir ihn auch als solchen anerkennen, aber erstens sind solche radikalen Gegner selten, und zweitens kommt es gerade bei ihnen darauf an, dass wir unsere eigenen Wertvorstellungen nicht verraten.

Es bleibt zu hoffen, dass es – trotz der gegenwärtig deprimierenden Erfahrungen von Renationalisierung und Desintegration – auf Dauer doch gelingt, Institutionen zu schaffen, die es ermöglichen, dass sich jeder Mensch als Weltbürger verstehen und als solcher auch partizipieren kann an einer gerechteren kosmopolitischen Gesamtgemeinschaft – ohne dass übrigens dabei partikulare Identität und die mit ihr einhergehende Differenz einfachhin nivelliert wird. – Auch wenn sich das Weißbuch noch nicht so weit auszugreifen getraut: Immerhin sollten die für optimistische Spekulationen aufgeschlossenen Denker in den Verwaltungsapparaten schon einmal überlegen, worin eine geeignete Rolle für die Streitkräfte in einer solchen Welt bestehen könnte.

1 Bundesministerium der Verteidigung (2016): Weißbuch 2016 – Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, S. 110.
2 So wird die Diskussion z. B. dadurch verunklart, dass individuelle Handlungen und institutionelles Handeln vermischt werden: Der Imperativ des fünften Gebots „Du sollst nicht töten!“ richtet sich an jeden einzelnen Menschen. Das eigene Handeln soll kein Töten sein. Von diesem Imperativ führt keine logische Brücke zum Imperativ „Du sollst nicht töten lassen!“, der zur Schaffung von Institutionen aufruft – insbesondere dem Recht (z. B. der Nothilfe) –, die Tötungen verhindern oder zumindest vermindern sollen. Beide Imperative können richtig, beide können falsch sein. Es kann auch nur einer richtig und der andere falsch sein. Aus der Richtigkeit des einen folgt nicht die Richtigkeit des anderen.
3 Vgl. dazu auch vom Autor (2014): „Zum Verhältnis von Freund und Feind im bewaffneten Konflikt“. In: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 18, S. 223–239.
4 Solche Fragen müssen im sorgfältigen Blick auf die realen Verhältnisse geklärt werden. So mag – wie Aristoteles sagen würde – für einen großen Staat wie Deutschland etwas an­deres richtig sein als für einen kleinen, z. B. Luxemburg. – Bisweilen kann man sich jedenfalls bei den Rufen nach Bundeswehreinsätzen „im Inneren“ des Eindrucks nicht erwehren, dass einfach Kosten für adäquate Personalstärke und Ausrüstung bei Bundes- und Landespolizei vermieden werden sollen.
5 Es ist zuweilen immer wieder diskutiert worden, ob Terroristen nicht so etwas wie „hostes humani generis“ (Karl Jaspers an Hannah Arendt) sind – ein Terminus, der im alten Rom für die Piraten verwendet wurde. Bei manchen global agierenden Terrorgruppen stellt sich die Frage in der Tat. Aber die Frage des Umgangs mit ihnen ist mit der Kennzeichnung ja nicht beantwortet.
6  Vgl. Habermas, Jürgen (2004): Der gespaltene Westen. Frankfurt, S. 172–174.
7 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, § 60.