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Die Königinstraße in Stockholm, das Londoner Regierungsviertel, ein Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche – drei Orte mitten in Europa. Drei Orte, an denen jeder andere Europäer auch hätte sein können zu dem Zeitpunkt, an dem sie zu Anschlagsorten von Terroristen wurden. Keiner soll sich mehr sicher fühlen, so lautet die unmissverständliche Botschaft der Täter. Die Ziele sind mit Bedacht gewählt. Die Terroristen wollen die Verwundbarkeit der offenen und freien Gesellschaften brutal unter Beweis stellen. Ihre Rechnung scheint aufzugehen: Obwohl die allermeisten Europäer wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines terro­ristischen Anschlags zu werden, verschwindend gering ist, ist die Angst vor Terror im Jahr 2016, zumindest in Deutschland, zur größten Angst der Bevölkerung geworden. Der transnational agierende Terrorismus, der Menschen über Grenzen und Kontinente hinweg in Angst versetzt, der Todesopfer, Verstümmelte und Verletzte fordert, viele Menschen zu Heimatlosen und Flüchtlingen macht, er ist nicht länger ein Problem der anderen, er ist auch zu einem Problem der sogenannten westlichen Welt geworden. 

Wie dem Terror widerstehen? Diese Frage gehört zu den drängendsten und wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart. Stimmen werden laut, die davon sprechen, dass wir am „Nullpunkt der Anti­terrorpolitik“1 angekommen seien, an dem alle Versuche, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen oder gar zu beseitigen, gescheitert seien. Und obwohl immer mal wieder Fahndungserfolge vermeldet werden, dürften viele die Einschätzung teilen, dass es gegenwärtig keine wirklich überzeugende politische Antwort auf die Bedrohung gibt. 

Fast reflexhaft fallen die politischen Reaktionen auf einen Anschlag aus: So wird etwa eine intensivere Überwachung öffentlicher Plätze erwogen, und der Ruf nach strengeren Kontrollen wird laut. Sicherheitsnetze sollen gestrafft und mehr Daten gespeichert werden. Verschiedene Einschränkungen von Freiheitsrechten werden propagiert und in Kauf genommen. Garantiert werden soll so ein höheres Maß an Sicherheit. Der Ausnahmezustand wird – wie in Frankreich – monatelang mit immer neuen Verlängerungen verhängt und steht in der Gefahr, dabei schleichend seinen Ausnahmestatus zu verlieren. Es kommt zum Erstarken radi­kaler politischer Kräfte, die die Ängste der Bevölkerung instrumentalisieren und zugleich forcieren. Unterstützt von populistischen Kräften ge­lang es dem Terror etwa, die Flüchtlings­debatte und die Willkommenskultur zu vergiften. Das Kalkül der Terroristen, die Flüchtlingsrouten zu nutzen, um die Opfer von Krieg und Terror ein zweites Mal zu Opfern von Verdacht und Ausgrenzung zu machen, muss als erfolgreiche Strategie gewertet werden. Ebenso wie die erklärte Absicht des islamistischen Terrors, einen Generalverdacht gegen Muslime in westlichen Ländern zu schüren. 

Prävention heißt das Zauberwort, das westliche Gesellschaften von der drohenden Terrorgefahr erlösen soll. Ein Selbstmordattentäter, der die konventionelle Verbrechensbekämpfung unterläuft und Strafverfolgung als Mittel der Abschreckung ad absurdum führt, muss daran gehindert werden, die Tat, die ihn zum Täter machen würde, zu begehen. Immer öfter wird deshalb nicht mehr vom Täter, sondern vom Gefährder gesprochen. Der Verdacht wird zum Signum einer sich bedroht fühlenden Gesellschaft, in der jeder ein potenzieller Täter sein könnte. 

Mittlerweile – so lässt sich beobachten – liegt das Kalkül des transnational agierenden Terrorismus offen zutage. Nach jedem Anschlag bekunden die Menschen in den angegriffenen Gesellschaften, sich dem Terror nicht beugen zu wollen. Nach den Anschlägen in Paris im November 2015 wurde etwa dazu aufgerufen, jetzt erst recht in die Bistros und Theater zu gehen. Zwei Tage nach dem Anschlag in Stockholm im April 2017 kamen Tausende zu einer „Liebeskundgebung“ zusammen, um ein Zeichen gegen Gewalt und Terror zu setzen und der Opfer zu gedenken. Und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Kundgebungen nicht wirklich immun machen gegen die unterschwellig und verzögert wirkenden zerstörerischen Kräfte des Terrors. 

Klar vor Augen führen sollte man sich, dass es zwei unterschiedliche Waffen sind, die der Terror nutzt. Die erste Waffe ist der Anschlag, mit dem ein möglichst hohes Maß an Unsicherheit, Angst und medialer Aufmerksamkeit in der angegriffenen Gesellschaft erzeugt werden soll. Je willkürlicher und brutaler die terroristische Gewalt in Erscheinung tritt, desto erfolgreicher ist der Anschlag in den Augen der Angreifer. Diese erste Waffe will aber vor allem eines: die Schlagkraft der zweiten Waffe des Terrors sichern. Je aufsehenerregender ein Anschlag war, umso wirksamer wird sich diese zweite Waffe erweisen, denn das eigentliche zerstörerische Potenzial ihrer Gewalt erhoffen sich Terroristen erst von den Reaktionen der angegriffenen Gesellschaften auf die Anschläge. Sie sollen überreagieren, sollen zu Vollstreckern ihrer eigenen Zerstörung werden. Die entscheidende Rolle spielt dabei die Angst der Bevölkerung, und zwar in dem Moment, in dem sie sich politisieren lässt – und politisiert wird. 

Ein Perspektivwechsel in der Politik der Terrorbekämpfung scheint geboten. Im Folgenden soll skizziert werden, inwiefern christliche Ethik wegweisende Impulse zu einer notwendigen Debatte, die aber viel zu wenig geführt wird, beisteuern könnte. Dabei gilt es zunächst das komplexe Verhältnis von Ethik und Politik und von Ethik und christlichem Glauben zu bestimmen. Zu konstatieren ist, dass sich moralische Kategorien nicht einfach in den Bereich der Politik transferieren lassen. Schon gar nicht sollte sich eine ethische Reflexion der Terrorbekämpfung dem Ziel einer Moralisierung von Politik verschreiben. Hier gilt es präzise moralische Reflexion von politischem Handeln zu unterscheiden. Die Aufgabe der Ethik ist es nicht, konkrete politische Handlungsanweisungen zu formulieren, sehr wohl aber den politischen Willensbildungsprozess der in einer demokratischen Gesellschaft lebenden Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen sowie demokratische Strukturen zu fördern und zu festigen. Ausgangspunkt einer ethischen Reflexion aus christlicher Perspektive ist die Überzeugung, dass sich auch christliche Ethik der Rationalität verpflichtet weiß und keine Sondermoral vertritt, die nur gläubige Menschen nachvollziehen könnten. Gerade der universale Anspruch ist christlicher Ethik zuinnerst eingeschrieben. Dennoch kann christliche Ethik vielleicht für „fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung“2 bereithalten, verdrängte Perspektiven zum Vorschein bringen oder, etwa im Hinblick auf das christliche Verständnis des Menschen, Akzente setzen, die neue Sichtweisen auf gegenwärtige Fragen ermöglichen. 

Zwei mögliche Ansatzpunkte christlicher Ethik sollen herausgegriffen und im Folgenden skizziert werden.3 Erstellt werden soll so ein Tableau, vor dessen Hintergrund sich alternative Lösungswege im Hinblick auf die Problematik der Terrorbekämpfung eröffnen können. Unbestritten ist, dass der Schutz der Sicherheit der Bevölkerung eines der wichtigsten Ziele politischen Handelns ist. Doch diesen auf die Sicherheitsfrage fixierten und verengten Blickwinkel gilt es zu weiten. Wie würden sich Formen der Terrorbekämpfung verändern, wenn westliche Gesellschaften sich stärker mit der Tatsache konfrontieren ließen, dass gar nicht vorrangig die Sicherheit, sondern die Freiheit der westlichen Demokratien im Fadenkreuz des Terrors steht? Die Gefahr, die von einer zu starken Fixierung auf den Sicherheitsaspekt ausgeht, besteht darin, dass der Terrorismus mit Mitteln bekämpft wird, die letztlich der Demokratie Schaden zufügen – das lässt sich in kritischen Analysen gegenwärtiger Terrorbekämpfungsmaßnahmen im Detail nachzeichnen.4 Ein solcher auf Sicherheitsmaßnahmen fixierter Antiterrorkampf entpuppt sich also letztlich als kontraproduktiv. Aus christlicher Perspektive werden die Mächte, denen die so kritisierte Terrorbekämpfung vertraut, hinterfragt. Dies führt zu der Frage: Gibt es tatsächlich eine befreiende Macht der Prävention und Sicherheit, eine schützende Macht der Gewalt? 

Ein erster Perspektivwechsel ergibt sich, beleuchtet man das Verhältnis des Christentums zur Gewalt. Wie widersprüchlich dieses komplexe Verhältnis in der christlichen Tradition interpretiert und gelebt wurde, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Rekurriert werden soll aber auf eine der Schlüsselstellen, in der scheinbar zum passiven Erdulden fremder Gewalt aufgerufen wird. So heißt es in der Bergpredigt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Ruft Jesus also dazu auf, sich fremder und heute dann eben auch terroristischer Gewalt klaglos auszuliefern? Der Passus wurde lange Zeit so verstanden und brachte Christen in eine schwierige Lage und in Erklärungsnöte. Doch die vorherrschende Interpretation dieser Stelle wird Jesu Intention möglicherweise gar nicht gerecht. Verkannt wird die in dieser viel zitierten Passage zum Ausdruck kommende Sprengkraft. In der Aufforderung an die hier angesprochenen Armen und Entrechteten, die linke Wange hinzuhalten, liegt geradezu etwas Rebellisches. Wenn der Geschlagene seine linke Wange hinhält, kann der Schläger seinen Untergebenen nicht mehr – wie in der Antike üblich – mit dem Handrücken schlagen, er muss mit der rechten Faust zuschlagen. „Mit den Fäusten haben aber, wie wir aus jüdischen Quellen wissen, nur Gleichgestellte gekämpft. Sich seinen Untergebenen gleichzustellen, liegt wohl kaum in der Absicht eines Herrn.“5 So wird dieser Passus zur Aufforderung, die Gewalt des Gegners gerade nicht passiv hinzunehmen, sondern ihr Widerstand zu leisten, allerdings – und darauf kommt es entscheidend an – mit anderen Mitteln als denen, die der Gegner diktiert. „Tatsächlich lehrt Jesus uns aber nicht die Unterwerfung unter das Böse, sondern die Weigerung, dem Bösen mit seinen eigenen Mitteln zu begegnen. Wir sollen nicht zulassen, dass der Gegner uns die Methoden unserer Gegnerschaft diktiert.“6

Mit dieser Gewaltkritik verbindet sich die Überzeugung, dass das Böse sich nicht durch die Bekämpfung des Bösen weiter fortsetzen darf. Doch was unterbricht letztlich diesen Teufelskreis? Diese Frage führt zu einem zweiten Perspektivwechsel: Ausgangspunkt ist hier eine (auch) der christlichen Theologie tief eingravierte anthropologische Grundannahme: die Verwundbarkeit. Nicht behauptet werden soll, dass es sich dabei um eine exklusiv christliche Kategorie handle. Verwundbarkeit muss vielmehr als eine der elementaren anthropologischen Grundkonstanten verstanden werden. Aber im Christentum kommt dieser Verwundbarkeit eine herausragende Dignität zu. Die Verwundbarkeit ist die Ausdrucksform, in der sich Gott selbst in seinem Sohn Jesus Christus gezeigt hat: in Krippe und Kreuz. Anders formuliert: In der Verwundbarkeit begegnet der Mensch Gott. 

Der Antiterror versucht, sich gegen die zerstörerischen Kräfte des Terrorismus zu immunisieren, indem er Unverwundbarkeit propagiert. Doch wer seine Verwundbarkeit verneint oder verdrängt, der steht letztlich in der Gefahr, Sicherheit auch mit Gewalt erzwingen zu müssen. Im Antiterrorkampf hat diese Haltung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die USA zu sogenannten Kriegen gegen den Terrorismus verleitet. 

Wer sich dagegen selbst als verwundbar wahrnimmt, der erkennt den anderen als ebenfalls Verletzbaren. Biblisch-christlich ist hier von einer „Mystik der offenen Augen“ zu sprechen, „die uns auf die gesteigerte Wahrnehmung fremden Leids verpflichtet“7. Nur die offenen, für das Leid der anderen geschulten Augen sehen klar die Gefahren der Entmenschlichung, mit denen der Antiterrorkampf konfrontiert ist. Und nicht nur das: Auch die Frage danach, was sich letztlich in der terroristischen Gewalt artikuliert, ohne sie damit verharmlosen oder gar rechtfertigen zu wollen, wird virulent. Die Frage nach den Ursachen des Terrorismus rückt somit ins Blickfeld und die Notwendigkeit, sich von einem in den westlichen Gesellschaften weitverbreiteten Gestus der Selbstrechtfertigung zu verabschieden. 

Die Verwundbarkeit sichert erst den Raum, in dem sich die bürgerlichen Freiheitsrechte entfalten und Demokratie gelebt und gestaltet werden kann. Diesen Raum der Ermöglichung von Freiheit und Vertrauen will der Terrorismus versiegeln, zerstören. Die westlichen Gesellschaften sollen blind werden, blind vor Angst. Dabei geht es mehr denn je darum, zu erkennen, dass die Vergegenwärtigung der Verwundbarkeit letztlich vor der Zerstörungsmacht des Terrors schützt. In Zeiten des sogenannten Antiterrorkampfes gilt es vor allem die Fragilität und Verwundbarkeit der Demokratie, die vom Terrorismus bedroht wird, in den Blick zu nehmen – eine Perspektive, die christliche Ethik stark machen und überzeugend vertreten kann. Wer die eigene Verwundbarkeit schützt und wertschätzt, kann sich letztlich sicher fühlen – sicher, dass er der Bedrohung durch den Terrorismus nicht erliegen wird.

 

1 Lau, Jörg (2016): „Fetisch Gewalt“. In: Die Zeit Nr. 26 vom 16.6.2016.
2 Habermas, Jürgen (2001): Glaube und Wissen. Frankfurt, S. 29.
3 Eine ausführliche Darstellung der Thematik findet sich hier: Klöcker, Katharina (2017): Freiheit im Fadenkreuz. Terrorbekämpfung als christlich-ethische Herausforderung. Freiburg.
4 Vgl. Klöcker, Katharina (2009): Zur Moral der Terrorbekämpfung. Eine theologisch-ethische Kritik. Ostfildern, S. 155–218.
5 Wink, Walter (2014): Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Regensburg, S. 93.
6 Wink, Walter (2014): Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Regensburg, S. 91 f.
7 Metz, Johann Baptist (1992): „Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt“. In: Stimmen der Zeit 117, Heft 5, S. 311–320, S. 320.