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Kameraden zuerst? Militärische vor medizinischer Notwendigkeit

Von Michael Gross

Im Krieg verteidigt der Staat „sein kollektives, politisches Leben“. Um darin erfolgreich zu sein, muss militärischer Notwendigkeit genug Raum gegeben werden. Dabei ist er nach Prof. Dr. Michael L. Gross berechtigt, individuelle Interessen zu benachteiligen. Denn „Armeen ziehen in den Krieg, um zu gewinnen“ und dafür brauchen die eigenen Soldaten bestmögliche medizinische Versorgung. Gegnerische Soldaten rücken so schnell ans Ende der Behandlungskette. Doch auch das Wohl der eigenen Soldaten wird bei Gross nach dieser Logik anders bewertet, da Ressourcen primär für diejenigen Soldaten eingesetzt werden, die als erstes wieder zur Kriegsanstrengung beitragen können. 

Völkerrechtlich ist dieses Vorgehen problematisch. Kann es überhaupt erlaubt sein, das Völkerrecht oder medizinethische Prinzipien aus Gründen militärischer Notwendigkeit zu verletzen? Für Gross gibt es dafür „manchmal“ ausreichende Gründe. Neben dem nationalen Sicherheitsinteresse eines Staates sind für ihn vor allem die engen Bindungen zwischen Kameraden ausschlaggebend. 

Nach Gross unterscheiden sich „Bindungen unter Kampfgefährten“ nicht wesentlich von Bindungen zwischen Familienmitgliedern oder Freunden. Er sieht in der Fürsorgeethik gute Gründe, nahestehende Menschen zuerst zu retten und daher auch Kameraden medizinisch bevorzugt zu behandeln. Auch amerikanische Sanitäter begründen ihre Überzeugung, Kameraden zuerst zu behandeln, aus dieser Perspektive – „Because he’s our brother“ („Weil er unser Bruder ist“). Diese intuitive Begründung sei moralisch jederzeit nachvollziehbar. 

Doch welche ethischen und völkerrechtlichen Grenzen gelten dann überhaupt noch für Militärärzte und Sanitäter im Einsatz? Gross verweist explizit darauf, dass die Fürsorgeethik kein „rücksichtsloses Übergehen grundlegender moralischer Normen“ erlaube. Auch Fremden oder Gegnern muss in Notlagen beigestanden werden. Letztlich stünden Militärärzte und Sanitäter immer wieder vor der Herausforderung, ihre Soldaten- und Helferpflichten in Einklang zu bringen. 

Originalartikel